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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

einig eines Menschen verraten oft genug nicht wenig von seinen sittlichen Eigen¬
schaften; ähnlich können es Gang und Haltung von Versen und vou Prosa
thun. Wo es sich aber nicht um gesonderte Eigenschaften, sondern um das
Ganze eines Kunstwerks oder gar um die gesamte künstlerische Thätigkeit eines
Menschen handelt, da sind die Fragen nach dem sittlich Guten, ja auch nach
dem wissenschaftlich Wahren ebenso sehr am Orte, wie die nach dem ästhetisch
Richtigen und dem formell Schönen."

Es ist nicht Zufall und Willkür, daß solche Stimmen laut werden, und
es wäre der Gipfel der Thorheit, ihnen völlig das Ohr zu verschließen. Auch
glaube man nicht, daß die maßlose Übertreibung, die leidenschaftliche Ein¬
seitigkeit, deren sich die Vertreter der charakterisirten Anschauung, allen voran
E. Dühring, schuldig machen, uns schon von der Untersuchung lossprechen
dürfe, inwieweit sie dennoch Recht haben, wo sie mahnend und aufrüttelnd
wirken können, wo sie in der That eine nochmalige scharfe Prüfung der herr¬
schenden Überlieferungen veranlassen sollten. Die vernichtendste und leiden¬
schaftlichste Kritik bedeutet nichts, soweit sie bloß ein Ausdruck subjektiven
Zornes oder Widerwillens ist, die bescheidenste und maßvollste kann tief wirken,
wenn sie einen Punkt trifft, der nie genügend betrachtet, und eine Frage, die
nie aufgetragen worden ist. In diesem Sinne darf kein denkender, den Zu¬
sammenhang von Kunst und Leben klar empfindender Freund der Litteratur
gleichgiltig an Dührings Buch vorübergehen. Wenn es nur die Wirkung Hütte,
unsre byzantinische Gelehrsamkeit an ihrer Gottähnlichkeit hie und da irre zu
machen, die kraftvolle Betonung des ideal Charaktervoller zu wecken, die Sehn¬
sucht nach der sichern Bildung zu verstärken, die das Korn erkennt und erfaßt,
ohne erst lange Spreu zu sieben, so wollten wir die wilden Aufwallungen
einer tiefen persönlichen Verbitterung, die Ausschreitungen des philosophischen
und des revolutionären Dogmatismus, die unbegreiflichen Uuterschätzungeu
höchster Lebensgüter und die ungerechten Verurteilungen hochstehender Geister
und Werke in den Kauf nehmen, von denen die Darstellung des Verfassers
erfüllt ist. Wüßten wir nicht, wie sehr gerade auf das Geschlecht von heute
die unerquickliche und unfruchtbare Seite solcher Bücher wie "Die Größen
der Litteratur" wirkt, daß sie ganz im Gegensatz zu Dührings Schlußprophe¬
zeiung die Anarchie vermehren, die Selbstüberhebung des Augenblicks gegenüber
allen großen Erscheinungen der Vergangenheit steigern helfen muß, so würden
wir dem Werke die größte Verbreitung wünschen. Denn überall, wo es nicht
kritiklos als eine neue Offenbarung betrachtet wird, wo man den sittlichen
Grundzug des Werkes von seinen Maßlosigkeiten und Irrtümern zu trennen
verstünde, würde es helfen können, "das litterarisch Gute im Dasein zu fördern,
das Schlechte mit der That abzuthun, sich seines Gebrauchs zu enthalten und
es so der Vernichtung oder, wenn diese nicht von statten geht, doch wenigstens
dem Gesindelgeschmack, den es ja auf jeder gesellschaftlichen Stufe giebt, zur


Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

einig eines Menschen verraten oft genug nicht wenig von seinen sittlichen Eigen¬
schaften; ähnlich können es Gang und Haltung von Versen und vou Prosa
thun. Wo es sich aber nicht um gesonderte Eigenschaften, sondern um das
Ganze eines Kunstwerks oder gar um die gesamte künstlerische Thätigkeit eines
Menschen handelt, da sind die Fragen nach dem sittlich Guten, ja auch nach
dem wissenschaftlich Wahren ebenso sehr am Orte, wie die nach dem ästhetisch
Richtigen und dem formell Schönen."

Es ist nicht Zufall und Willkür, daß solche Stimmen laut werden, und
es wäre der Gipfel der Thorheit, ihnen völlig das Ohr zu verschließen. Auch
glaube man nicht, daß die maßlose Übertreibung, die leidenschaftliche Ein¬
seitigkeit, deren sich die Vertreter der charakterisirten Anschauung, allen voran
E. Dühring, schuldig machen, uns schon von der Untersuchung lossprechen
dürfe, inwieweit sie dennoch Recht haben, wo sie mahnend und aufrüttelnd
wirken können, wo sie in der That eine nochmalige scharfe Prüfung der herr¬
schenden Überlieferungen veranlassen sollten. Die vernichtendste und leiden¬
schaftlichste Kritik bedeutet nichts, soweit sie bloß ein Ausdruck subjektiven
Zornes oder Widerwillens ist, die bescheidenste und maßvollste kann tief wirken,
wenn sie einen Punkt trifft, der nie genügend betrachtet, und eine Frage, die
nie aufgetragen worden ist. In diesem Sinne darf kein denkender, den Zu¬
sammenhang von Kunst und Leben klar empfindender Freund der Litteratur
gleichgiltig an Dührings Buch vorübergehen. Wenn es nur die Wirkung Hütte,
unsre byzantinische Gelehrsamkeit an ihrer Gottähnlichkeit hie und da irre zu
machen, die kraftvolle Betonung des ideal Charaktervoller zu wecken, die Sehn¬
sucht nach der sichern Bildung zu verstärken, die das Korn erkennt und erfaßt,
ohne erst lange Spreu zu sieben, so wollten wir die wilden Aufwallungen
einer tiefen persönlichen Verbitterung, die Ausschreitungen des philosophischen
und des revolutionären Dogmatismus, die unbegreiflichen Uuterschätzungeu
höchster Lebensgüter und die ungerechten Verurteilungen hochstehender Geister
und Werke in den Kauf nehmen, von denen die Darstellung des Verfassers
erfüllt ist. Wüßten wir nicht, wie sehr gerade auf das Geschlecht von heute
die unerquickliche und unfruchtbare Seite solcher Bücher wie „Die Größen
der Litteratur" wirkt, daß sie ganz im Gegensatz zu Dührings Schlußprophe¬
zeiung die Anarchie vermehren, die Selbstüberhebung des Augenblicks gegenüber
allen großen Erscheinungen der Vergangenheit steigern helfen muß, so würden
wir dem Werke die größte Verbreitung wünschen. Denn überall, wo es nicht
kritiklos als eine neue Offenbarung betrachtet wird, wo man den sittlichen
Grundzug des Werkes von seinen Maßlosigkeiten und Irrtümern zu trennen
verstünde, würde es helfen können, „das litterarisch Gute im Dasein zu fördern,
das Schlechte mit der That abzuthun, sich seines Gebrauchs zu enthalten und
es so der Vernichtung oder, wenn diese nicht von statten geht, doch wenigstens
dem Gesindelgeschmack, den es ja auf jeder gesellschaftlichen Stufe giebt, zur


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[0046] Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur einig eines Menschen verraten oft genug nicht wenig von seinen sittlichen Eigen¬ schaften; ähnlich können es Gang und Haltung von Versen und vou Prosa thun. Wo es sich aber nicht um gesonderte Eigenschaften, sondern um das Ganze eines Kunstwerks oder gar um die gesamte künstlerische Thätigkeit eines Menschen handelt, da sind die Fragen nach dem sittlich Guten, ja auch nach dem wissenschaftlich Wahren ebenso sehr am Orte, wie die nach dem ästhetisch Richtigen und dem formell Schönen." Es ist nicht Zufall und Willkür, daß solche Stimmen laut werden, und es wäre der Gipfel der Thorheit, ihnen völlig das Ohr zu verschließen. Auch glaube man nicht, daß die maßlose Übertreibung, die leidenschaftliche Ein¬ seitigkeit, deren sich die Vertreter der charakterisirten Anschauung, allen voran E. Dühring, schuldig machen, uns schon von der Untersuchung lossprechen dürfe, inwieweit sie dennoch Recht haben, wo sie mahnend und aufrüttelnd wirken können, wo sie in der That eine nochmalige scharfe Prüfung der herr¬ schenden Überlieferungen veranlassen sollten. Die vernichtendste und leiden¬ schaftlichste Kritik bedeutet nichts, soweit sie bloß ein Ausdruck subjektiven Zornes oder Widerwillens ist, die bescheidenste und maßvollste kann tief wirken, wenn sie einen Punkt trifft, der nie genügend betrachtet, und eine Frage, die nie aufgetragen worden ist. In diesem Sinne darf kein denkender, den Zu¬ sammenhang von Kunst und Leben klar empfindender Freund der Litteratur gleichgiltig an Dührings Buch vorübergehen. Wenn es nur die Wirkung Hütte, unsre byzantinische Gelehrsamkeit an ihrer Gottähnlichkeit hie und da irre zu machen, die kraftvolle Betonung des ideal Charaktervoller zu wecken, die Sehn¬ sucht nach der sichern Bildung zu verstärken, die das Korn erkennt und erfaßt, ohne erst lange Spreu zu sieben, so wollten wir die wilden Aufwallungen einer tiefen persönlichen Verbitterung, die Ausschreitungen des philosophischen und des revolutionären Dogmatismus, die unbegreiflichen Uuterschätzungeu höchster Lebensgüter und die ungerechten Verurteilungen hochstehender Geister und Werke in den Kauf nehmen, von denen die Darstellung des Verfassers erfüllt ist. Wüßten wir nicht, wie sehr gerade auf das Geschlecht von heute die unerquickliche und unfruchtbare Seite solcher Bücher wie „Die Größen der Litteratur" wirkt, daß sie ganz im Gegensatz zu Dührings Schlußprophe¬ zeiung die Anarchie vermehren, die Selbstüberhebung des Augenblicks gegenüber allen großen Erscheinungen der Vergangenheit steigern helfen muß, so würden wir dem Werke die größte Verbreitung wünschen. Denn überall, wo es nicht kritiklos als eine neue Offenbarung betrachtet wird, wo man den sittlichen Grundzug des Werkes von seinen Maßlosigkeiten und Irrtümern zu trennen verstünde, würde es helfen können, „das litterarisch Gute im Dasein zu fördern, das Schlechte mit der That abzuthun, sich seines Gebrauchs zu enthalten und es so der Vernichtung oder, wenn diese nicht von statten geht, doch wenigstens dem Gesindelgeschmack, den es ja auf jeder gesellschaftlichen Stufe giebt, zur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/46>, abgerufen am 25.08.2024.