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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Stehendes Heer und Miliz

9. März das Vaterland als ein "bloßes Wort" bezeichnete, mußte dem Sturm
der allgemeinen Entrüstung weichend sofort die Rednertribüne verlassen.

Der Vorstoß der deutschen Sozialdemokraten teilte sich in zwei Abschnitte:
in den Antrag auf Organisation eines Milizheeres und in eine größere An¬
zahl von Beschwerden. Die Debatten begannen damit, daß in der Sitzung
vom 2. März die Abgeordneten Auer und Genossen den Antrag einbrachten,
die verbündeten Regierungen möchten einen Gesetzentwurf vorlegen, durch den
die Erziehung der Jugend zur Wehrhaftigkeit und die Umwandlung der jetzigen
Heeresorganisation in eine Milizwehrordnung angebahnt werde. Zur Begrün¬
dung dieses Antrags verwies der Abgeordnete Liebknecht auf die Verhältnisse
in der Schweiz und auf das dort eingeführte Milizsystem. Als dessen Vorzüge
bezeichnete er hauptsächlich folgende. Das Milizsystem erzieht eine weit größere
Wehrmacht als das stehende Heer, denn es stellt die gesamte Wehrmacht des
Landes in den Dienst des Vaterlandes. Die Dienstzeit in der Schweiz um¬
saßt die Altersklasse vom zwanzigsten bis zum vierundvierzigsten Lebensjahre,
beginnt aber streng genommen schon mit dem zehnten Jahre, nämlich mit dem
Turnunterricht in der Schule. Ziemlich alles s!), was jetzt in der Kaserne
gelernt werden muß, würde bei richtiger Ausgestaltung des Turnens in der
Schule gelernt werden und dadurch ein großer Teil der Dienstzeit entbehrlich
werden. Einen Unterschied zwischen Heer und Bürgertum kennt man nicht in
der Schweiz. Der Schweizer Soldat steht ganz auf der Höhe des deutschen:
in der Schießfertigkeit ist er ihm sogar überlegen; seine Marschfertigkeit ist
bewundernswert. Der "militärische Geist" (den der Redner also im deutschen
Heere zugiebt) bildet nicht die geringste Gewähr für militärische Tüchtigkeit.
Im stehenden Heere wird der junge Mann durch die längere Dienstzeit seinem
bürgerlichen Beruf entrissen und findet sich nach seiner Entlassung oft nicht
wieder hinein; er hat einen Teil seiner Handgeschicklichkeit eingebüßt und ver¬
bummelt. In der Schweiz wird durch die Dienstzeit niemand seinem bürger¬
lichen Beruf entrissen, und schon deshalb dient jedermann gern. Während in
Deutschland das Beschwerderecht des Soldaten für die meisten kaum anwendbar
ist, steht es in der Schweiz, wo das Milizsystem auf gesunder demokratischer
Unterlage beruht, jedem zur Verfügung. Einen ganz besondern Nachdruck legt
Liebknecht auf den Kostenpunkt, weil er weiß, daß er damit außerhalb des
Reichstags, bei den Steuerzahlern, den meisten Eindruck machen kann, und
daß sich nicht so leicht jemand findet, der im Reichstage selbst das erforder¬
liche Material zur Hand hat, um ihm das Irrtümliche seiner Behauptungen
nachzuweisen. Er sagt, daß in der Schweiz die jährlichen Kosten für das
Heer zwanzig Millionen Mark betrügen, was für Deutschland einer Summe
von 340 Millionen entsprechen würde; das wäre weniger als jetzt, obgleich
Deutschland nur die Hälfte der Mannschaft aufstellt, die ein Milizheer nach
schweizerischem Muster zur Verfügung stellen würde.


Stehendes Heer und Miliz

9. März das Vaterland als ein „bloßes Wort" bezeichnete, mußte dem Sturm
der allgemeinen Entrüstung weichend sofort die Rednertribüne verlassen.

Der Vorstoß der deutschen Sozialdemokraten teilte sich in zwei Abschnitte:
in den Antrag auf Organisation eines Milizheeres und in eine größere An¬
zahl von Beschwerden. Die Debatten begannen damit, daß in der Sitzung
vom 2. März die Abgeordneten Auer und Genossen den Antrag einbrachten,
die verbündeten Regierungen möchten einen Gesetzentwurf vorlegen, durch den
die Erziehung der Jugend zur Wehrhaftigkeit und die Umwandlung der jetzigen
Heeresorganisation in eine Milizwehrordnung angebahnt werde. Zur Begrün¬
dung dieses Antrags verwies der Abgeordnete Liebknecht auf die Verhältnisse
in der Schweiz und auf das dort eingeführte Milizsystem. Als dessen Vorzüge
bezeichnete er hauptsächlich folgende. Das Milizsystem erzieht eine weit größere
Wehrmacht als das stehende Heer, denn es stellt die gesamte Wehrmacht des
Landes in den Dienst des Vaterlandes. Die Dienstzeit in der Schweiz um¬
saßt die Altersklasse vom zwanzigsten bis zum vierundvierzigsten Lebensjahre,
beginnt aber streng genommen schon mit dem zehnten Jahre, nämlich mit dem
Turnunterricht in der Schule. Ziemlich alles s!), was jetzt in der Kaserne
gelernt werden muß, würde bei richtiger Ausgestaltung des Turnens in der
Schule gelernt werden und dadurch ein großer Teil der Dienstzeit entbehrlich
werden. Einen Unterschied zwischen Heer und Bürgertum kennt man nicht in
der Schweiz. Der Schweizer Soldat steht ganz auf der Höhe des deutschen:
in der Schießfertigkeit ist er ihm sogar überlegen; seine Marschfertigkeit ist
bewundernswert. Der „militärische Geist" (den der Redner also im deutschen
Heere zugiebt) bildet nicht die geringste Gewähr für militärische Tüchtigkeit.
Im stehenden Heere wird der junge Mann durch die längere Dienstzeit seinem
bürgerlichen Beruf entrissen und findet sich nach seiner Entlassung oft nicht
wieder hinein; er hat einen Teil seiner Handgeschicklichkeit eingebüßt und ver¬
bummelt. In der Schweiz wird durch die Dienstzeit niemand seinem bürger¬
lichen Beruf entrissen, und schon deshalb dient jedermann gern. Während in
Deutschland das Beschwerderecht des Soldaten für die meisten kaum anwendbar
ist, steht es in der Schweiz, wo das Milizsystem auf gesunder demokratischer
Unterlage beruht, jedem zur Verfügung. Einen ganz besondern Nachdruck legt
Liebknecht auf den Kostenpunkt, weil er weiß, daß er damit außerhalb des
Reichstags, bei den Steuerzahlern, den meisten Eindruck machen kann, und
daß sich nicht so leicht jemand findet, der im Reichstage selbst das erforder¬
liche Material zur Hand hat, um ihm das Irrtümliche seiner Behauptungen
nachzuweisen. Er sagt, daß in der Schweiz die jährlichen Kosten für das
Heer zwanzig Millionen Mark betrügen, was für Deutschland einer Summe
von 340 Millionen entsprechen würde; das wäre weniger als jetzt, obgleich
Deutschland nur die Hälfte der Mannschaft aufstellt, die ein Milizheer nach
schweizerischem Muster zur Verfügung stellen würde.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/450>, abgerufen am 26.08.2024.