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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs

Kauflächen abgeschliffen sind, sieht man. daß während des Lebens in der That
der Unterkiefer etwas über den Oberkiefer vorgestanden haben muß. Als
wahrscheinliche Körperlänge hat Professor Emil Schmidt in Leipzig 166,8 Centi-
meter berechnet, den Raumgehalt der Schädelhöhle hat er auf 1479,5 Kubik¬
zentimeter bestimmt. Beides entspricht ziemlich genau den Mittelmaßen.

Eine nicht ganz leicht zu entscheidende Frage war die über den Wert und
das gegenseitige Verhältnis der vorhnndnen Bildnisse Bachs'. Wir haben
von vier Ölbildnissen Bachs Kunde: außer den beiden Leipzigern von einem
in Erfurt und einem in Berlin.

Das Erfurter Bild besaß Ende des vorigen Jahrhunderts der Organist
an der Predigerkirche in Erfurt. Kittel, ein Schüler Bachs. Er soll es 1798
aus Langensalza. "vielleicht aus der Verlassenschaft der Herzogin von Weißen¬
fels" erhalten haben. Gerber, dem wir diese Nachrichten verdanken (vgl. sein
Neues Lexikon der Tonkünstler. 3. Teil. Leipzig. 1813. Sy. 57 und Sy. 735),
teilt noch mit. daß das Bild über Kittels Klavier gehangen und "zu einer
eigenen Art von Belohnung und Straft für seine Schüler" gedient habe. ..Zeigte
sich der Lehrling in seinem Fleiße des Vaters der Harmonie würdig, so wurde
der Vorhang, der es bedeckte, aufgezogen. Für den Unwürdigen hingegen blieb
Bachs Angesicht verhüllt." Nach Kittels Tode sollte das Bild an seiner
Orgel in der Predigerkirche aufgehängt werden. Die Herkunft des Bildes
aus Weißenfels ist gar nicht unwahrscheinlich. Bach hatte den Titel "Her¬
zoglich Weißenfelsischer Kapellmeister" und stand mit dem dortigen Hofe in
Verkehr. Die genannte Herzogin kann niemand anders sein, als Friderike,
die seit 1734 mit dem letzten Herzog von Sachsen-Weißenfels, Johann Adolf,
vermählt war, Leipzig zu Bachs Lebzeiten oft besucht hat und 1775 auf
ihrem Witwensitz Langensalza starb. Dann ist es aber auch sehr wahrscheinlich,
daß das Bild, das sie besaß, ein Originalbild war. Um so mehr ist zu be¬
dauern, daß es jetzt verschollen ist; alle Nachforschungen darnach sind bis jetzt
vergeblich gewesen. Kittel starb 1809. Ob das Bild nach seinem Tode über¬
haupt an die Predigerkirche abgegeben worden ist, weiß niemand. Hilgenfeld
macht in seiner 1850 erschienenen Biographie Bachs ein paar Angaben darüber,
die nicht aus Gerbers Lexikon stammen; er nennt es das "mutmaßlich älteste"
^ es sei "etwa um die Mitte der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts
angefertigt worden" --, sagt, es stelle Bach "im Staatskleide" dar, und
spricht von einem "schweren, vergoldeten Rahmen." Woher Hilgenfeld diese
genauern Angaben gehabt hat, ist unbekannt. Erfunden hat er sie aber schwerlich,
denn er war ein genauer und zuverlässiger Arbeiter. Man möchte sast an¬
nehmen, daß er das Bild selbst noch gesehen habe, wenn auch schon längere
Zeit vorher, denn er sagt, daß es "wahrscheinlich noch existire." Augenblicklich
weiß in Erfurt niemand mehr etwas davon. Und doch ist kaum anzunehmen,
daß es vernichtet sein sollte; ein Bild, von dem auch nur zwei oder drei


Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs

Kauflächen abgeschliffen sind, sieht man. daß während des Lebens in der That
der Unterkiefer etwas über den Oberkiefer vorgestanden haben muß. Als
wahrscheinliche Körperlänge hat Professor Emil Schmidt in Leipzig 166,8 Centi-
meter berechnet, den Raumgehalt der Schädelhöhle hat er auf 1479,5 Kubik¬
zentimeter bestimmt. Beides entspricht ziemlich genau den Mittelmaßen.

Eine nicht ganz leicht zu entscheidende Frage war die über den Wert und
das gegenseitige Verhältnis der vorhnndnen Bildnisse Bachs'. Wir haben
von vier Ölbildnissen Bachs Kunde: außer den beiden Leipzigern von einem
in Erfurt und einem in Berlin.

Das Erfurter Bild besaß Ende des vorigen Jahrhunderts der Organist
an der Predigerkirche in Erfurt. Kittel, ein Schüler Bachs. Er soll es 1798
aus Langensalza. „vielleicht aus der Verlassenschaft der Herzogin von Weißen¬
fels" erhalten haben. Gerber, dem wir diese Nachrichten verdanken (vgl. sein
Neues Lexikon der Tonkünstler. 3. Teil. Leipzig. 1813. Sy. 57 und Sy. 735),
teilt noch mit. daß das Bild über Kittels Klavier gehangen und „zu einer
eigenen Art von Belohnung und Straft für seine Schüler" gedient habe. ..Zeigte
sich der Lehrling in seinem Fleiße des Vaters der Harmonie würdig, so wurde
der Vorhang, der es bedeckte, aufgezogen. Für den Unwürdigen hingegen blieb
Bachs Angesicht verhüllt." Nach Kittels Tode sollte das Bild an seiner
Orgel in der Predigerkirche aufgehängt werden. Die Herkunft des Bildes
aus Weißenfels ist gar nicht unwahrscheinlich. Bach hatte den Titel „Her¬
zoglich Weißenfelsischer Kapellmeister" und stand mit dem dortigen Hofe in
Verkehr. Die genannte Herzogin kann niemand anders sein, als Friderike,
die seit 1734 mit dem letzten Herzog von Sachsen-Weißenfels, Johann Adolf,
vermählt war, Leipzig zu Bachs Lebzeiten oft besucht hat und 1775 auf
ihrem Witwensitz Langensalza starb. Dann ist es aber auch sehr wahrscheinlich,
daß das Bild, das sie besaß, ein Originalbild war. Um so mehr ist zu be¬
dauern, daß es jetzt verschollen ist; alle Nachforschungen darnach sind bis jetzt
vergeblich gewesen. Kittel starb 1809. Ob das Bild nach seinem Tode über¬
haupt an die Predigerkirche abgegeben worden ist, weiß niemand. Hilgenfeld
macht in seiner 1850 erschienenen Biographie Bachs ein paar Angaben darüber,
die nicht aus Gerbers Lexikon stammen; er nennt es das „mutmaßlich älteste"
^ es sei „etwa um die Mitte der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts
angefertigt worden" —, sagt, es stelle Bach „im Staatskleide" dar, und
spricht von einem „schweren, vergoldeten Rahmen." Woher Hilgenfeld diese
genauern Angaben gehabt hat, ist unbekannt. Erfunden hat er sie aber schwerlich,
denn er war ein genauer und zuverlässiger Arbeiter. Man möchte sast an¬
nehmen, daß er das Bild selbst noch gesehen habe, wenn auch schon längere
Zeit vorher, denn er sagt, daß es „wahrscheinlich noch existire." Augenblicklich
weiß in Erfurt niemand mehr etwas davon. Und doch ist kaum anzunehmen,
daß es vernichtet sein sollte; ein Bild, von dem auch nur zwei oder drei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/427>, abgerufen am 22.12.2024.