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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs

Schädels eine porträtähnliche Büste Bachs zu formen, so ist eine Täuschung
ausgeschlossen.

Er wandte sich deshalb an den Leipziger Bildhauer sessiler, der sich
in den letzten Jahren besonders durch eine Reihe lebens- und geistvoller Büsten
und Medaillons hervorragender Leipziger Persönlichkeiten einen Namen gemacht
hat. Mancher andre hätte vielleicht über die Aufgabe gelacht und die Achseln
gezuckt; Herrn sessiler reizte sie, er begriff sofort die doppelte Bedeutung des
Unternehmens und ging bereitwillig auf die Sache ein. Und wunderbar:
gleich der erste Versuch gelang; schon nach zwei Tagen hatte der Künstler
über den Abguß ein Porträt geformt, das durch seine Ähnlichkeit mit den
bekannteren Bildern Bachs alle überraschte, die es sahen.

Damit war nun freilich auch noch kein Beweis geliefert. Aber eins war
gewonnen: die Überzeugung, daß es der Mühe lohne, den so überraschend
gelungner ersten schnellen Versuch noch einmal genauer und mit allen zu
Gebote stehenden Mitteln einer methodischen wissenschaftlichen Untersuchung zu
wiederholen. Dazu gehörte aber 1. eine genaue Prüfung des aufgefundnen
Schädels und der dazu gehörigen Gebeine; 2. eine genaue Untersuchung der
vorhandnen Bildnisse Bachs und ihres Verhältnisses zu einander; 3. eine genaue
Erörterung der Frage, bis zu welchem Grade von Sicherheit sich über einen
gegebnen Schädel die zugehörigen Weichteile rekonstruiren lassen. Ur. 1. und 3
waren anatomische Aufgaben, Ur. 2 eine philologisch-kunstwissenschaftliche.
Als vierte mußte dann nochmals die künstlerische des Bildhauers dazukommen.

Bei diesem Stande der Sache glaubte aber Professor His die Angelegen¬
heit nicht länger als eine private behandeln zu dürfen; er machte am 31. Ok¬
tober dem Rate der Stadt Leipzig Mitteilung von den bisherigen Vorgängen,
worauf der Rat zur Weiterführung der Angelegenheit eine aus sechs Mit¬
gliedern bestehende Kommission ernannte, zu denen außer den Herren His und
sessiler auch der Verfasser dieses Aufsatzes gehörte."')

Eine genaue Untersuchung des Schädels und der Gebeine ergab, daß das
Skelett unzweifelhaft einem bejahrten Manne angehört hat. Über das Gebiß
hat Professor Hesse in Leipzig ein besondres Gutachten abgegeben, worin es
heißt: "Wenn die Mitte der sechziger Jahre als das mutmaßliche Alter beim
Tode bezeichnet werden sollte, so würde dem der Befund an den Kiefern in
keiner Weise widersprechen." Von deu Zähnen sind leider nur noch nenn er¬
halten, drei im Oberkiefer, sechs im Unterkiefer; ein paar mögen wohl beider
Ausgrabung verloren gegangen sein. Aber trotz der UnVollständigkeit läßt
sich die Stellung, die die beiden Kiefer während des Lebens zu einander ein¬
genommen haben, mit Sicherheit bestimmen: an der auffälligen Art, wie die



*) Die andern waren: Herr Pastor Tranzschel, Herr Professor Jungmann, der Rektor
der Thomasschule, und Herr Dr. Vogel, der Bibliothekar der Petersschen Musikbibliothek.
Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs

Schädels eine porträtähnliche Büste Bachs zu formen, so ist eine Täuschung
ausgeschlossen.

Er wandte sich deshalb an den Leipziger Bildhauer sessiler, der sich
in den letzten Jahren besonders durch eine Reihe lebens- und geistvoller Büsten
und Medaillons hervorragender Leipziger Persönlichkeiten einen Namen gemacht
hat. Mancher andre hätte vielleicht über die Aufgabe gelacht und die Achseln
gezuckt; Herrn sessiler reizte sie, er begriff sofort die doppelte Bedeutung des
Unternehmens und ging bereitwillig auf die Sache ein. Und wunderbar:
gleich der erste Versuch gelang; schon nach zwei Tagen hatte der Künstler
über den Abguß ein Porträt geformt, das durch seine Ähnlichkeit mit den
bekannteren Bildern Bachs alle überraschte, die es sahen.

Damit war nun freilich auch noch kein Beweis geliefert. Aber eins war
gewonnen: die Überzeugung, daß es der Mühe lohne, den so überraschend
gelungner ersten schnellen Versuch noch einmal genauer und mit allen zu
Gebote stehenden Mitteln einer methodischen wissenschaftlichen Untersuchung zu
wiederholen. Dazu gehörte aber 1. eine genaue Prüfung des aufgefundnen
Schädels und der dazu gehörigen Gebeine; 2. eine genaue Untersuchung der
vorhandnen Bildnisse Bachs und ihres Verhältnisses zu einander; 3. eine genaue
Erörterung der Frage, bis zu welchem Grade von Sicherheit sich über einen
gegebnen Schädel die zugehörigen Weichteile rekonstruiren lassen. Ur. 1. und 3
waren anatomische Aufgaben, Ur. 2 eine philologisch-kunstwissenschaftliche.
Als vierte mußte dann nochmals die künstlerische des Bildhauers dazukommen.

Bei diesem Stande der Sache glaubte aber Professor His die Angelegen¬
heit nicht länger als eine private behandeln zu dürfen; er machte am 31. Ok¬
tober dem Rate der Stadt Leipzig Mitteilung von den bisherigen Vorgängen,
worauf der Rat zur Weiterführung der Angelegenheit eine aus sechs Mit¬
gliedern bestehende Kommission ernannte, zu denen außer den Herren His und
sessiler auch der Verfasser dieses Aufsatzes gehörte."')

Eine genaue Untersuchung des Schädels und der Gebeine ergab, daß das
Skelett unzweifelhaft einem bejahrten Manne angehört hat. Über das Gebiß
hat Professor Hesse in Leipzig ein besondres Gutachten abgegeben, worin es
heißt: „Wenn die Mitte der sechziger Jahre als das mutmaßliche Alter beim
Tode bezeichnet werden sollte, so würde dem der Befund an den Kiefern in
keiner Weise widersprechen." Von deu Zähnen sind leider nur noch nenn er¬
halten, drei im Oberkiefer, sechs im Unterkiefer; ein paar mögen wohl beider
Ausgrabung verloren gegangen sein. Aber trotz der UnVollständigkeit läßt
sich die Stellung, die die beiden Kiefer während des Lebens zu einander ein¬
genommen haben, mit Sicherheit bestimmen: an der auffälligen Art, wie die



*) Die andern waren: Herr Pastor Tranzschel, Herr Professor Jungmann, der Rektor
der Thomasschule, und Herr Dr. Vogel, der Bibliothekar der Petersschen Musikbibliothek.
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[0426] Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs Schädels eine porträtähnliche Büste Bachs zu formen, so ist eine Täuschung ausgeschlossen. Er wandte sich deshalb an den Leipziger Bildhauer sessiler, der sich in den letzten Jahren besonders durch eine Reihe lebens- und geistvoller Büsten und Medaillons hervorragender Leipziger Persönlichkeiten einen Namen gemacht hat. Mancher andre hätte vielleicht über die Aufgabe gelacht und die Achseln gezuckt; Herrn sessiler reizte sie, er begriff sofort die doppelte Bedeutung des Unternehmens und ging bereitwillig auf die Sache ein. Und wunderbar: gleich der erste Versuch gelang; schon nach zwei Tagen hatte der Künstler über den Abguß ein Porträt geformt, das durch seine Ähnlichkeit mit den bekannteren Bildern Bachs alle überraschte, die es sahen. Damit war nun freilich auch noch kein Beweis geliefert. Aber eins war gewonnen: die Überzeugung, daß es der Mühe lohne, den so überraschend gelungner ersten schnellen Versuch noch einmal genauer und mit allen zu Gebote stehenden Mitteln einer methodischen wissenschaftlichen Untersuchung zu wiederholen. Dazu gehörte aber 1. eine genaue Prüfung des aufgefundnen Schädels und der dazu gehörigen Gebeine; 2. eine genaue Untersuchung der vorhandnen Bildnisse Bachs und ihres Verhältnisses zu einander; 3. eine genaue Erörterung der Frage, bis zu welchem Grade von Sicherheit sich über einen gegebnen Schädel die zugehörigen Weichteile rekonstruiren lassen. Ur. 1. und 3 waren anatomische Aufgaben, Ur. 2 eine philologisch-kunstwissenschaftliche. Als vierte mußte dann nochmals die künstlerische des Bildhauers dazukommen. Bei diesem Stande der Sache glaubte aber Professor His die Angelegen¬ heit nicht länger als eine private behandeln zu dürfen; er machte am 31. Ok¬ tober dem Rate der Stadt Leipzig Mitteilung von den bisherigen Vorgängen, worauf der Rat zur Weiterführung der Angelegenheit eine aus sechs Mit¬ gliedern bestehende Kommission ernannte, zu denen außer den Herren His und sessiler auch der Verfasser dieses Aufsatzes gehörte."') Eine genaue Untersuchung des Schädels und der Gebeine ergab, daß das Skelett unzweifelhaft einem bejahrten Manne angehört hat. Über das Gebiß hat Professor Hesse in Leipzig ein besondres Gutachten abgegeben, worin es heißt: „Wenn die Mitte der sechziger Jahre als das mutmaßliche Alter beim Tode bezeichnet werden sollte, so würde dem der Befund an den Kiefern in keiner Weise widersprechen." Von deu Zähnen sind leider nur noch nenn er¬ halten, drei im Oberkiefer, sechs im Unterkiefer; ein paar mögen wohl beider Ausgrabung verloren gegangen sein. Aber trotz der UnVollständigkeit läßt sich die Stellung, die die beiden Kiefer während des Lebens zu einander ein¬ genommen haben, mit Sicherheit bestimmen: an der auffälligen Art, wie die *) Die andern waren: Herr Pastor Tranzschel, Herr Professor Jungmann, der Rektor der Thomasschule, und Herr Dr. Vogel, der Bibliothekar der Petersschen Musikbibliothek.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/426>, abgerufen am 25.08.2024.