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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Behandlung des Verbrechers

Wenn er es mit der jetzt gebräuchlichen Strafmethode dahin bringt, daß
wenigstens eine Anzahl von Entlassener geweckt, abgeschreckt oder gebessert
werden, dann kann man doch nicht sagen, der Staat sorge für den Schutz der
Gesellschaft so gut wie gar nicht.

Wir wollen nun weiter sehen, wie der Staat straft. Eigentlich könnte
er über eine große Anzahl von Strafmitteln verfügen, aber eben weil man
bei der Ordnung des Strafverfahrens weniger an greifbare Zwecke als an
metaphysische Träumerei dachte, ist es dahingekommen, daß der Staat seinen
Reichtum verloren hat und arm geworden ist Nur einige schwere Waffen
hat man ihm gelassen und ihn somit gezwungen, auch da mit Pistolen und
Kanonen zu kämpfen, wo die Rute und das mißbilligende Wort völlig aus¬
gereicht hätten. Wenn wir jetzt als Strafmittel fast allein die Freiheitsstrafe
anwenden, so haben wir diesen Mangel nur der Herrschaft der absoluten Theorieen
zuzuschreiben. Dem? bei der Festsetzung von Freiheitsstrafen läßt sich sehr
schön nach mathematischen Grundsätzen verfahren. Ein Tag Gefängnis ist
weniger als ein Monat, ein Monat weniger als zwölf Monate, zwölf Monate
sind neun Monaten Zuchthaus gleich, u. f. w. Wie leicht ist es bei dieser
Methode, hier ein Quentchen zuzulegen, dort eins abzuthun, damit die Wag¬
schalen der Gerechtigkeit für unser Auge richtig zueinanderstehen. Aber diese
Rechnung ist verkehrt. Ein Monat Gefängnis ist für viele nicht wesentlich
mehr als vierzehn Tage, es ist nur ein kleiner Zeitunterschied, der nicht be¬
sonders ins Gewicht fällt. Was ins Gewicht fällt, das ist das Wort Freiheits¬
strafe. Ein einziger Tag Freiheitsstrafe macht für den einen gar nichts aus,
dem andern verändert er seinen ganzen Lebensgang, richtet einen tötlichen
Streich gegen sein Leben und seine Aussichten. Auch die Unterschiede zwischen
Gefängnis und Zuchthaus werden immer verschwommuer. In beiden herrscht
bis auf einige Kleinigkeiten dieselbe Ordnung, dieselben Verbrechen werden in
beiden gebüßt, dieselbe Kost wird in beiden gereicht, und viele Spitzbuben, die
im Zuchthaus wohlbekannt sind, kehren zwischendurch auch einmal im Gefängnis
ein, wo sie dann z. B. mit dem Bauernburschen, der einmal kräftiger als sonst
zugeschlagen hat, und dem Zeitungsschreiber, der die Tinte nicht halten konnte,
unter einem Dache wohnen. Gewiß bringt die übliche Anwendung der Freiheits¬
strafe als Universalheilmittel oder als Universalabschreckungsmittel oder als
Universalvergeltungsmittel -- wie man nun lieber sagen will -- große Ungleich¬
heiten hervor. Den bessern Menschen trifft sie dreifach und zehnfach, das
schlechte Subjekt nur einfach. Aber so sehr das zu beklagen ist, so glaube ich
doch, daß das in dem erwähnten Aufsatz enthaltene Urteil über die Strafhäuser
des Staates weit über das Ziel hinausschießt.

Zunächst möchte ich mich aber mit einem andern Vorwurf beschäftigen,
der häufig von dem großen Publikum ausgesprochen wird. Bei dem Anblick
der modernen Gefängnisse und bei der Erinnerung an das schwere Geld, das


Die Behandlung des Verbrechers

Wenn er es mit der jetzt gebräuchlichen Strafmethode dahin bringt, daß
wenigstens eine Anzahl von Entlassener geweckt, abgeschreckt oder gebessert
werden, dann kann man doch nicht sagen, der Staat sorge für den Schutz der
Gesellschaft so gut wie gar nicht.

Wir wollen nun weiter sehen, wie der Staat straft. Eigentlich könnte
er über eine große Anzahl von Strafmitteln verfügen, aber eben weil man
bei der Ordnung des Strafverfahrens weniger an greifbare Zwecke als an
metaphysische Träumerei dachte, ist es dahingekommen, daß der Staat seinen
Reichtum verloren hat und arm geworden ist Nur einige schwere Waffen
hat man ihm gelassen und ihn somit gezwungen, auch da mit Pistolen und
Kanonen zu kämpfen, wo die Rute und das mißbilligende Wort völlig aus¬
gereicht hätten. Wenn wir jetzt als Strafmittel fast allein die Freiheitsstrafe
anwenden, so haben wir diesen Mangel nur der Herrschaft der absoluten Theorieen
zuzuschreiben. Dem? bei der Festsetzung von Freiheitsstrafen läßt sich sehr
schön nach mathematischen Grundsätzen verfahren. Ein Tag Gefängnis ist
weniger als ein Monat, ein Monat weniger als zwölf Monate, zwölf Monate
sind neun Monaten Zuchthaus gleich, u. f. w. Wie leicht ist es bei dieser
Methode, hier ein Quentchen zuzulegen, dort eins abzuthun, damit die Wag¬
schalen der Gerechtigkeit für unser Auge richtig zueinanderstehen. Aber diese
Rechnung ist verkehrt. Ein Monat Gefängnis ist für viele nicht wesentlich
mehr als vierzehn Tage, es ist nur ein kleiner Zeitunterschied, der nicht be¬
sonders ins Gewicht fällt. Was ins Gewicht fällt, das ist das Wort Freiheits¬
strafe. Ein einziger Tag Freiheitsstrafe macht für den einen gar nichts aus,
dem andern verändert er seinen ganzen Lebensgang, richtet einen tötlichen
Streich gegen sein Leben und seine Aussichten. Auch die Unterschiede zwischen
Gefängnis und Zuchthaus werden immer verschwommuer. In beiden herrscht
bis auf einige Kleinigkeiten dieselbe Ordnung, dieselben Verbrechen werden in
beiden gebüßt, dieselbe Kost wird in beiden gereicht, und viele Spitzbuben, die
im Zuchthaus wohlbekannt sind, kehren zwischendurch auch einmal im Gefängnis
ein, wo sie dann z. B. mit dem Bauernburschen, der einmal kräftiger als sonst
zugeschlagen hat, und dem Zeitungsschreiber, der die Tinte nicht halten konnte,
unter einem Dache wohnen. Gewiß bringt die übliche Anwendung der Freiheits¬
strafe als Universalheilmittel oder als Universalabschreckungsmittel oder als
Universalvergeltungsmittel — wie man nun lieber sagen will — große Ungleich¬
heiten hervor. Den bessern Menschen trifft sie dreifach und zehnfach, das
schlechte Subjekt nur einfach. Aber so sehr das zu beklagen ist, so glaube ich
doch, daß das in dem erwähnten Aufsatz enthaltene Urteil über die Strafhäuser
des Staates weit über das Ziel hinausschießt.

Zunächst möchte ich mich aber mit einem andern Vorwurf beschäftigen,
der häufig von dem großen Publikum ausgesprochen wird. Bei dem Anblick
der modernen Gefängnisse und bei der Erinnerung an das schwere Geld, das


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[0039] Die Behandlung des Verbrechers Wenn er es mit der jetzt gebräuchlichen Strafmethode dahin bringt, daß wenigstens eine Anzahl von Entlassener geweckt, abgeschreckt oder gebessert werden, dann kann man doch nicht sagen, der Staat sorge für den Schutz der Gesellschaft so gut wie gar nicht. Wir wollen nun weiter sehen, wie der Staat straft. Eigentlich könnte er über eine große Anzahl von Strafmitteln verfügen, aber eben weil man bei der Ordnung des Strafverfahrens weniger an greifbare Zwecke als an metaphysische Träumerei dachte, ist es dahingekommen, daß der Staat seinen Reichtum verloren hat und arm geworden ist Nur einige schwere Waffen hat man ihm gelassen und ihn somit gezwungen, auch da mit Pistolen und Kanonen zu kämpfen, wo die Rute und das mißbilligende Wort völlig aus¬ gereicht hätten. Wenn wir jetzt als Strafmittel fast allein die Freiheitsstrafe anwenden, so haben wir diesen Mangel nur der Herrschaft der absoluten Theorieen zuzuschreiben. Dem? bei der Festsetzung von Freiheitsstrafen läßt sich sehr schön nach mathematischen Grundsätzen verfahren. Ein Tag Gefängnis ist weniger als ein Monat, ein Monat weniger als zwölf Monate, zwölf Monate sind neun Monaten Zuchthaus gleich, u. f. w. Wie leicht ist es bei dieser Methode, hier ein Quentchen zuzulegen, dort eins abzuthun, damit die Wag¬ schalen der Gerechtigkeit für unser Auge richtig zueinanderstehen. Aber diese Rechnung ist verkehrt. Ein Monat Gefängnis ist für viele nicht wesentlich mehr als vierzehn Tage, es ist nur ein kleiner Zeitunterschied, der nicht be¬ sonders ins Gewicht fällt. Was ins Gewicht fällt, das ist das Wort Freiheits¬ strafe. Ein einziger Tag Freiheitsstrafe macht für den einen gar nichts aus, dem andern verändert er seinen ganzen Lebensgang, richtet einen tötlichen Streich gegen sein Leben und seine Aussichten. Auch die Unterschiede zwischen Gefängnis und Zuchthaus werden immer verschwommuer. In beiden herrscht bis auf einige Kleinigkeiten dieselbe Ordnung, dieselben Verbrechen werden in beiden gebüßt, dieselbe Kost wird in beiden gereicht, und viele Spitzbuben, die im Zuchthaus wohlbekannt sind, kehren zwischendurch auch einmal im Gefängnis ein, wo sie dann z. B. mit dem Bauernburschen, der einmal kräftiger als sonst zugeschlagen hat, und dem Zeitungsschreiber, der die Tinte nicht halten konnte, unter einem Dache wohnen. Gewiß bringt die übliche Anwendung der Freiheits¬ strafe als Universalheilmittel oder als Universalabschreckungsmittel oder als Universalvergeltungsmittel — wie man nun lieber sagen will — große Ungleich¬ heiten hervor. Den bessern Menschen trifft sie dreifach und zehnfach, das schlechte Subjekt nur einfach. Aber so sehr das zu beklagen ist, so glaube ich doch, daß das in dem erwähnten Aufsatz enthaltene Urteil über die Strafhäuser des Staates weit über das Ziel hinausschießt. Zunächst möchte ich mich aber mit einem andern Vorwurf beschäftigen, der häufig von dem großen Publikum ausgesprochen wird. Bei dem Anblick der modernen Gefängnisse und bei der Erinnerung an das schwere Geld, das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/39>, abgerufen am 25.08.2024.