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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Behandlung des Verbrechers

Was ist denn nun der Zweck der Strafe? Der Staat ist die Organi¬
sation, die sich ein Volk gegeben hat, um seine gemeinsamen Aufgaben aus¬
zuführen und den Verkehr unter einander so zu regeln, daß jeder in seinem
Leben und Eigentum geschützt und in der Entfaltung seiner Kräfte gefördert
werde. Die Ordnung des gemeinsamen Verkehrs ist das Recht. Recht kann
nur da sein, wo der gemeinsame Wille des Volks zur Geltung gebracht werden
kann, wo also Obrigkeit vorhanden ist, die Gewalt hat. Der Staat hat keinen
Selbstzweck, sondern er hat den sehr praktischen Zweck, dem Volke zu dienen,
es zu fördern z. B. durch zweckmäßige Ausbildung des Unterrichtswesens, das
Volk in seinen mannichfachen Kulturausgaben zu vereinigen und endlich dem
egoistischen Triebe des Einzelnen durch den Willen der Gesamtheit entgegen¬
zutreten. Auf dem Gebiete, womit wir uus hier beschäftigen, besteht also
die Aufgabe des Staats in der Beschützung des Rechts, das die Gesamtheit
aus sich hervorgebracht hat, in der Sicherung der Rechtsordnung, an deren
Aufrechterhaltung das ganze Volk interessirt ist. Seine Wirksamkeit ist aber
durch das beschränkt, was seine Kraft ausmacht, er herrscht durch den Zwang,
den er im Namen aller auszuüben vermag, sein Reich ist aber auch da zu Eude,
wo der Zwang zu wirken aufhört. Das innere Leben des Menschen ist seiner
Macht entzogen. Eins von den Mitteln, durch die er seine Aufgabe zu er¬
füllen sucht, ist die Strafe. Am vollkommensten würde er ohne Zweifel den
Schutz der Rechtsordnung ausüben, wenn er hinter jeden irgendwie Verdäch¬
tigen, also hinter jede Person des Volkes, einen vollständig sittlichen Polizei¬
beamten stellen könnte. Da dies aber, Gott sei Dank, nicht möglich ist, und
da er ferner durch seine Zwangsmittel eigentlich sittliches Leben nicht schaffen,
weder fromme noch sittliche Menschen erzeugen kann, so muß er sich mit der
Strafandrohung zufrieden geben. Der Kanzler Kassiodvr wandte sich einst
an die Gefangnen mit der Ermahnung: Ihr müßt für haffenswert halten,
was euch den Tod gebracht hat. Das Tier selbst lernt die Pfade vermeiden,
auf denen es sich einmal verletzt hat, und hütet sich vor den Wegen, auf
denen es in die Grube geriet. In ähnlicher Weise sucht der Staat Einfluß
auf die Handlungen der Volksgenossen zu gewinnen, und da er es nicht mit
Maschinen und Holzblöcken zu thun hat, sondern mit vernunftbegabten, wenn
auch nicht immer vernünftigen Wesen, so sucht er den in der Gegenwart
thätigen Anreiz zur Übertretung des Gesetzes durch die Androhung eines der
That folgenden Übels zu überwinden. Das wäre allerdings ein Stück Ab-
schreckuugstheorie, von der uns gesagt wird, sie sei längst gerichtet. Es ist
ja selbstverständlich, daß die Strafandrohung trotz des psychologischen Zwanges,
der in ihr wirksam ist, nicht jedes Verbrechen hindern kann, es wird immer
Menschen geben, die nach keiner Strafe fragen, und es werden auch im Leben
des Menschen immer Stunden sein, wo sich selbst der vorsichtigste und ver¬
ständigste vergißt und über alle Strafandrohungen hinwegspringt, wenn er


Die Behandlung des Verbrechers

Was ist denn nun der Zweck der Strafe? Der Staat ist die Organi¬
sation, die sich ein Volk gegeben hat, um seine gemeinsamen Aufgaben aus¬
zuführen und den Verkehr unter einander so zu regeln, daß jeder in seinem
Leben und Eigentum geschützt und in der Entfaltung seiner Kräfte gefördert
werde. Die Ordnung des gemeinsamen Verkehrs ist das Recht. Recht kann
nur da sein, wo der gemeinsame Wille des Volks zur Geltung gebracht werden
kann, wo also Obrigkeit vorhanden ist, die Gewalt hat. Der Staat hat keinen
Selbstzweck, sondern er hat den sehr praktischen Zweck, dem Volke zu dienen,
es zu fördern z. B. durch zweckmäßige Ausbildung des Unterrichtswesens, das
Volk in seinen mannichfachen Kulturausgaben zu vereinigen und endlich dem
egoistischen Triebe des Einzelnen durch den Willen der Gesamtheit entgegen¬
zutreten. Auf dem Gebiete, womit wir uus hier beschäftigen, besteht also
die Aufgabe des Staats in der Beschützung des Rechts, das die Gesamtheit
aus sich hervorgebracht hat, in der Sicherung der Rechtsordnung, an deren
Aufrechterhaltung das ganze Volk interessirt ist. Seine Wirksamkeit ist aber
durch das beschränkt, was seine Kraft ausmacht, er herrscht durch den Zwang,
den er im Namen aller auszuüben vermag, sein Reich ist aber auch da zu Eude,
wo der Zwang zu wirken aufhört. Das innere Leben des Menschen ist seiner
Macht entzogen. Eins von den Mitteln, durch die er seine Aufgabe zu er¬
füllen sucht, ist die Strafe. Am vollkommensten würde er ohne Zweifel den
Schutz der Rechtsordnung ausüben, wenn er hinter jeden irgendwie Verdäch¬
tigen, also hinter jede Person des Volkes, einen vollständig sittlichen Polizei¬
beamten stellen könnte. Da dies aber, Gott sei Dank, nicht möglich ist, und
da er ferner durch seine Zwangsmittel eigentlich sittliches Leben nicht schaffen,
weder fromme noch sittliche Menschen erzeugen kann, so muß er sich mit der
Strafandrohung zufrieden geben. Der Kanzler Kassiodvr wandte sich einst
an die Gefangnen mit der Ermahnung: Ihr müßt für haffenswert halten,
was euch den Tod gebracht hat. Das Tier selbst lernt die Pfade vermeiden,
auf denen es sich einmal verletzt hat, und hütet sich vor den Wegen, auf
denen es in die Grube geriet. In ähnlicher Weise sucht der Staat Einfluß
auf die Handlungen der Volksgenossen zu gewinnen, und da er es nicht mit
Maschinen und Holzblöcken zu thun hat, sondern mit vernunftbegabten, wenn
auch nicht immer vernünftigen Wesen, so sucht er den in der Gegenwart
thätigen Anreiz zur Übertretung des Gesetzes durch die Androhung eines der
That folgenden Übels zu überwinden. Das wäre allerdings ein Stück Ab-
schreckuugstheorie, von der uns gesagt wird, sie sei längst gerichtet. Es ist
ja selbstverständlich, daß die Strafandrohung trotz des psychologischen Zwanges,
der in ihr wirksam ist, nicht jedes Verbrechen hindern kann, es wird immer
Menschen geben, die nach keiner Strafe fragen, und es werden auch im Leben
des Menschen immer Stunden sein, wo sich selbst der vorsichtigste und ver¬
ständigste vergißt und über alle Strafandrohungen hinwegspringt, wenn er


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[0037] Die Behandlung des Verbrechers Was ist denn nun der Zweck der Strafe? Der Staat ist die Organi¬ sation, die sich ein Volk gegeben hat, um seine gemeinsamen Aufgaben aus¬ zuführen und den Verkehr unter einander so zu regeln, daß jeder in seinem Leben und Eigentum geschützt und in der Entfaltung seiner Kräfte gefördert werde. Die Ordnung des gemeinsamen Verkehrs ist das Recht. Recht kann nur da sein, wo der gemeinsame Wille des Volks zur Geltung gebracht werden kann, wo also Obrigkeit vorhanden ist, die Gewalt hat. Der Staat hat keinen Selbstzweck, sondern er hat den sehr praktischen Zweck, dem Volke zu dienen, es zu fördern z. B. durch zweckmäßige Ausbildung des Unterrichtswesens, das Volk in seinen mannichfachen Kulturausgaben zu vereinigen und endlich dem egoistischen Triebe des Einzelnen durch den Willen der Gesamtheit entgegen¬ zutreten. Auf dem Gebiete, womit wir uus hier beschäftigen, besteht also die Aufgabe des Staats in der Beschützung des Rechts, das die Gesamtheit aus sich hervorgebracht hat, in der Sicherung der Rechtsordnung, an deren Aufrechterhaltung das ganze Volk interessirt ist. Seine Wirksamkeit ist aber durch das beschränkt, was seine Kraft ausmacht, er herrscht durch den Zwang, den er im Namen aller auszuüben vermag, sein Reich ist aber auch da zu Eude, wo der Zwang zu wirken aufhört. Das innere Leben des Menschen ist seiner Macht entzogen. Eins von den Mitteln, durch die er seine Aufgabe zu er¬ füllen sucht, ist die Strafe. Am vollkommensten würde er ohne Zweifel den Schutz der Rechtsordnung ausüben, wenn er hinter jeden irgendwie Verdäch¬ tigen, also hinter jede Person des Volkes, einen vollständig sittlichen Polizei¬ beamten stellen könnte. Da dies aber, Gott sei Dank, nicht möglich ist, und da er ferner durch seine Zwangsmittel eigentlich sittliches Leben nicht schaffen, weder fromme noch sittliche Menschen erzeugen kann, so muß er sich mit der Strafandrohung zufrieden geben. Der Kanzler Kassiodvr wandte sich einst an die Gefangnen mit der Ermahnung: Ihr müßt für haffenswert halten, was euch den Tod gebracht hat. Das Tier selbst lernt die Pfade vermeiden, auf denen es sich einmal verletzt hat, und hütet sich vor den Wegen, auf denen es in die Grube geriet. In ähnlicher Weise sucht der Staat Einfluß auf die Handlungen der Volksgenossen zu gewinnen, und da er es nicht mit Maschinen und Holzblöcken zu thun hat, sondern mit vernunftbegabten, wenn auch nicht immer vernünftigen Wesen, so sucht er den in der Gegenwart thätigen Anreiz zur Übertretung des Gesetzes durch die Androhung eines der That folgenden Übels zu überwinden. Das wäre allerdings ein Stück Ab- schreckuugstheorie, von der uns gesagt wird, sie sei längst gerichtet. Es ist ja selbstverständlich, daß die Strafandrohung trotz des psychologischen Zwanges, der in ihr wirksam ist, nicht jedes Verbrechen hindern kann, es wird immer Menschen geben, die nach keiner Strafe fragen, und es werden auch im Leben des Menschen immer Stunden sein, wo sich selbst der vorsichtigste und ver¬ ständigste vergißt und über alle Strafandrohungen hinwegspringt, wenn er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/37>, abgerufen am 25.08.2024.