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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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List und Larey

und ergeht sich in breiten Schilderungen des ostindischen, irischen und eng¬
lischen Volkselends. Natürlich ist das ein einseitiges Verfahren, aber von den
Verbreitern der Volksbildung ist die entgegengesetzte Einseitigkeit bis auf den
heutigen Tag mit solchem Nachdruck gehandhabt worden, daß die Schattenseite
des englischen Nationalreichtums dem größten Teile des gebildeten Publikums
uoch immer unbekannt ist, von der Entstehung und Bedeutung dieses Reich¬
tums daher ein ganz falscher Begriff herrscht. Careys Angaben verdienen um
so mehr Beachtung, als die Stellen aus Parlamentsberichten, Zeitungsartikeln
und Büchern, die er anführt, mit den von Marx, Engels, Held, Brentano
und Schulze-Gävernitz benutzten nicht zusammenfallen, deren Schilderungen also
ergänzen. Wir wollen nur zwei Stellen aus diesen Hunderte von Seiten um¬
fassenden Schilderungen erwähnen. Er erzählt, wie die Engländer das indische
Handwerk und Kunsthandwerk unterdrückt, die vortreffliche Gemeindeverfassung
der Inder, die jedem seine Existenz sicherte, zerstört, zur Erpressung von Steuern
sogar die Tortur angewandt haben (Maeaulah meinte, nicht wie eine Herr¬
schaft despotischer Menschen, die sie ja gewöhnt waren, sondern wie eine Herr¬
schaft böser Geister müsse .den Indern die Herrschaft der Kompagnie vorge¬
kommen sein), wie sie mit dem Gemeindeleben auch das blühende Volksschulwesen
Indiens vernichtet hätten, erwähnt, daß sich die Engländer rühmten, Indien
zivilisirt zu haben, fragt: was heißt denn das, Indien zivilisiren? und ant¬
wortet mit Sir Thomas Munro: "Ich weiß nicht, was man damit eigentlich
meint. In der Politik mögen ja die Inder nicht weit her sein; aber wenn
tüchtige Landwirtschaft, ein unvergleichliches Kunsthandwerk, wenn die Fähig¬
keit, alle Güter zu erzeugen, wonach Bildung und Luxus verlangen, wenn all¬
gemeine Schulbildung, wenn allgemein verbreitete Herzensgüte und Gastfreund¬
schaft, wenn ein skrupulös zartsiuniges Verhalten dem weiblichen Geschlecht
gegenüber Bestandteile der Zivilisation find, dann können es die Inder mit
jedem Volke Europas aufnehmen." (Bd. 1, S. 375. Schriebe Carey heute,
so würde er an dieser Stelle den Bericht über ein jüngst abgehaltnes Londoner
Meeting anführen, worin über die Grausamkeit der jungen englischen Sol¬
daten gegen die für ihren Bedarf gekauften oder geraubten indischen Mädchen
geklagt wird; es wurde in der Verhandlung hervorgehoben, daß die Inder die
Prostitution in der rohen Form, die in den "christlichen" Ländern üblich ist,
gar nicht kennen.) Bei einer andern Gelegenheit führt er eine Stelle aus
Southey an. woraus hervorgeht, daß dieser Dichter das englische Arbeiter¬
elend nicht als ein unvermeidliches Verhängnis, auch nicht als das zufällige
Ergebnis einer stürmischen Entwicklung, in der die Menschen vorübergehend
die Herrschaft über die wirtschaftlichen Zustände verloren hätten, sondern als
die beabsichtigte Wirkung der Politik betrachtet; sollten die Arbeiter die aller-
widerlichsten und gesundheitszerstörenden Arbeiten so anhaltend und billig ver¬
richten, daß die Fabrikanten dadurch unermeßlich reich würden, so müßten jene


List und Larey

und ergeht sich in breiten Schilderungen des ostindischen, irischen und eng¬
lischen Volkselends. Natürlich ist das ein einseitiges Verfahren, aber von den
Verbreitern der Volksbildung ist die entgegengesetzte Einseitigkeit bis auf den
heutigen Tag mit solchem Nachdruck gehandhabt worden, daß die Schattenseite
des englischen Nationalreichtums dem größten Teile des gebildeten Publikums
uoch immer unbekannt ist, von der Entstehung und Bedeutung dieses Reich¬
tums daher ein ganz falscher Begriff herrscht. Careys Angaben verdienen um
so mehr Beachtung, als die Stellen aus Parlamentsberichten, Zeitungsartikeln
und Büchern, die er anführt, mit den von Marx, Engels, Held, Brentano
und Schulze-Gävernitz benutzten nicht zusammenfallen, deren Schilderungen also
ergänzen. Wir wollen nur zwei Stellen aus diesen Hunderte von Seiten um¬
fassenden Schilderungen erwähnen. Er erzählt, wie die Engländer das indische
Handwerk und Kunsthandwerk unterdrückt, die vortreffliche Gemeindeverfassung
der Inder, die jedem seine Existenz sicherte, zerstört, zur Erpressung von Steuern
sogar die Tortur angewandt haben (Maeaulah meinte, nicht wie eine Herr¬
schaft despotischer Menschen, die sie ja gewöhnt waren, sondern wie eine Herr¬
schaft böser Geister müsse .den Indern die Herrschaft der Kompagnie vorge¬
kommen sein), wie sie mit dem Gemeindeleben auch das blühende Volksschulwesen
Indiens vernichtet hätten, erwähnt, daß sich die Engländer rühmten, Indien
zivilisirt zu haben, fragt: was heißt denn das, Indien zivilisiren? und ant¬
wortet mit Sir Thomas Munro: „Ich weiß nicht, was man damit eigentlich
meint. In der Politik mögen ja die Inder nicht weit her sein; aber wenn
tüchtige Landwirtschaft, ein unvergleichliches Kunsthandwerk, wenn die Fähig¬
keit, alle Güter zu erzeugen, wonach Bildung und Luxus verlangen, wenn all¬
gemeine Schulbildung, wenn allgemein verbreitete Herzensgüte und Gastfreund¬
schaft, wenn ein skrupulös zartsiuniges Verhalten dem weiblichen Geschlecht
gegenüber Bestandteile der Zivilisation find, dann können es die Inder mit
jedem Volke Europas aufnehmen." (Bd. 1, S. 375. Schriebe Carey heute,
so würde er an dieser Stelle den Bericht über ein jüngst abgehaltnes Londoner
Meeting anführen, worin über die Grausamkeit der jungen englischen Sol¬
daten gegen die für ihren Bedarf gekauften oder geraubten indischen Mädchen
geklagt wird; es wurde in der Verhandlung hervorgehoben, daß die Inder die
Prostitution in der rohen Form, die in den „christlichen" Ländern üblich ist,
gar nicht kennen.) Bei einer andern Gelegenheit führt er eine Stelle aus
Southey an. woraus hervorgeht, daß dieser Dichter das englische Arbeiter¬
elend nicht als ein unvermeidliches Verhängnis, auch nicht als das zufällige
Ergebnis einer stürmischen Entwicklung, in der die Menschen vorübergehend
die Herrschaft über die wirtschaftlichen Zustände verloren hätten, sondern als
die beabsichtigte Wirkung der Politik betrachtet; sollten die Arbeiter die aller-
widerlichsten und gesundheitszerstörenden Arbeiten so anhaltend und billig ver¬
richten, daß die Fabrikanten dadurch unermeßlich reich würden, so müßten jene


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[0367] List und Larey und ergeht sich in breiten Schilderungen des ostindischen, irischen und eng¬ lischen Volkselends. Natürlich ist das ein einseitiges Verfahren, aber von den Verbreitern der Volksbildung ist die entgegengesetzte Einseitigkeit bis auf den heutigen Tag mit solchem Nachdruck gehandhabt worden, daß die Schattenseite des englischen Nationalreichtums dem größten Teile des gebildeten Publikums uoch immer unbekannt ist, von der Entstehung und Bedeutung dieses Reich¬ tums daher ein ganz falscher Begriff herrscht. Careys Angaben verdienen um so mehr Beachtung, als die Stellen aus Parlamentsberichten, Zeitungsartikeln und Büchern, die er anführt, mit den von Marx, Engels, Held, Brentano und Schulze-Gävernitz benutzten nicht zusammenfallen, deren Schilderungen also ergänzen. Wir wollen nur zwei Stellen aus diesen Hunderte von Seiten um¬ fassenden Schilderungen erwähnen. Er erzählt, wie die Engländer das indische Handwerk und Kunsthandwerk unterdrückt, die vortreffliche Gemeindeverfassung der Inder, die jedem seine Existenz sicherte, zerstört, zur Erpressung von Steuern sogar die Tortur angewandt haben (Maeaulah meinte, nicht wie eine Herr¬ schaft despotischer Menschen, die sie ja gewöhnt waren, sondern wie eine Herr¬ schaft böser Geister müsse .den Indern die Herrschaft der Kompagnie vorge¬ kommen sein), wie sie mit dem Gemeindeleben auch das blühende Volksschulwesen Indiens vernichtet hätten, erwähnt, daß sich die Engländer rühmten, Indien zivilisirt zu haben, fragt: was heißt denn das, Indien zivilisiren? und ant¬ wortet mit Sir Thomas Munro: „Ich weiß nicht, was man damit eigentlich meint. In der Politik mögen ja die Inder nicht weit her sein; aber wenn tüchtige Landwirtschaft, ein unvergleichliches Kunsthandwerk, wenn die Fähig¬ keit, alle Güter zu erzeugen, wonach Bildung und Luxus verlangen, wenn all¬ gemeine Schulbildung, wenn allgemein verbreitete Herzensgüte und Gastfreund¬ schaft, wenn ein skrupulös zartsiuniges Verhalten dem weiblichen Geschlecht gegenüber Bestandteile der Zivilisation find, dann können es die Inder mit jedem Volke Europas aufnehmen." (Bd. 1, S. 375. Schriebe Carey heute, so würde er an dieser Stelle den Bericht über ein jüngst abgehaltnes Londoner Meeting anführen, worin über die Grausamkeit der jungen englischen Sol¬ daten gegen die für ihren Bedarf gekauften oder geraubten indischen Mädchen geklagt wird; es wurde in der Verhandlung hervorgehoben, daß die Inder die Prostitution in der rohen Form, die in den „christlichen" Ländern üblich ist, gar nicht kennen.) Bei einer andern Gelegenheit führt er eine Stelle aus Southey an. woraus hervorgeht, daß dieser Dichter das englische Arbeiter¬ elend nicht als ein unvermeidliches Verhängnis, auch nicht als das zufällige Ergebnis einer stürmischen Entwicklung, in der die Menschen vorübergehend die Herrschaft über die wirtschaftlichen Zustände verloren hätten, sondern als die beabsichtigte Wirkung der Politik betrachtet; sollten die Arbeiter die aller- widerlichsten und gesundheitszerstörenden Arbeiten so anhaltend und billig ver¬ richten, daß die Fabrikanten dadurch unermeßlich reich würden, so müßten jene

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/367>, abgerufen am 22.12.2024.