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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Diktatur und Verfassung

mit dem freilich recht bedenklichen Satze abzufinden suchen, daß nur der be¬
fehlende Vorgesetzte die Verantwortung zu tragen habe. Aber eine, und ge¬
rade die wichtigste Beamtengattung, hätte auch diese Ausrede nicht. Von
den deutschen Richtern, vom Reichsgericht herab bis zum jüngsten Assessor,
muß erwartet werden, daß sie eher ihr Leben lassen oder mit Weib und Kind
betteln gehen werden, als daß sie sich dazu herbeilassen, ihre Urteile auf ver¬
fassungswidrig zu stände gekommene Gesetze zu gründen. Die Richter sind
in Zeiten der Gewaltherrschaft die einzige Verkörperung des niedergetretenen
Rechtsgedankens. Selbst die brutale Gewalt treibt die Völker nicht zu so
hoffnungsloser Verzweiflung, als eine von feilen Mietlingen geschändete Ge¬
rechtigkeitspflege. Noch heute, nach mehr als 200 Jahren, wird in England
das Andenken des schurkischen Lordoberrichters Jeffreys und der von ihm
geleiteten sogenannten blutigen Assisen einmütig verflucht. Zwar hat eine ge¬
fällige Wissenschaft zu behaupten versucht, daß den Richter die Prüfung der
Gesetzmäßigkeit der Gesetze selbst nichts angehe, sobald sie vom Monarchen
als unter der Zustimmung der Volksvertretung erlassen verkündet worden
sind. In der That enthält Art. 106 der preußischen Verfassung die Vor¬
schrift: "Gesetze und Verordnungen sind verbindlich, wenn sie in der vom
Gesetze vorgeschriebnen Form bekannt gemacht worden sind. Die Prüfung
gehörig verkündeter königlicher Verordnungen steht nicht den Behörden, sondern
nur der Kammer zu." Aber die Tragweite dieser Vorschrift ist auch wissen¬
schaftlich sehr bestritten, sie gilt doch äußersten Falls nur vou preußischen
Landesgesetzen, nicht auch von Neichsgesetzen ("Reichsrecht bricht Landesrecht"),
und um auch nur ihrem Wortlaut genügen zu können, müßte der künftige
Diktator Deutschlands im Eingange seiner Gesetze geradezu gegen die Wahr¬
heit versichern, daß er den Gesetzcsinhalt hiermit "nach erfolgter Zustimmung
des Bundesrath und des Reichstags" verordne. Ob er sich aber dabei über¬
haupt nicht auf die Zustimmung eines Reichstags, oder nur auf die einer
nach seiner Willkür zusammengesetzten Scheinvertretung bezöge, das läuft so
vollständig auf eins hinaus, daß niemand einen Richter für entschuldigt halten
würde, der sein Gewissen mit einer leeren Formel abspeisen ließe. Wir nehmen
deshalb bei unsern hypothetischen Erörterungen an, daß jedem der von der
Diktatur verkündeten Reichsgesetze vom Reichsgericht wie von sämtlichen
deutschen Landesgerichten die Giftigkeit werde abgesprochen werden. Die Folge
wäre, daß die neue selbstherrliche Reichsgewalt auf die Mitwirkung der Ge¬
richte bei den drakonischen Strafvorschriften, zu denen sie sich um ihrer eignen
Sicherheit willen sofort genötigt sähe, von vornherein verzichten müßte. Es
blieben ihr nur der Belagerungszustand und die mit der ganzen Fülle der
bürgerlichen Gerichtsbarkeit auszustattenden Kriegsgerichte zur Verfügung. Da
aber auch die etwa ergehenden rein zivilrechtlichen Gesetzesbefehle von den
Gerichten für nichtig erklärt werden würden -- man denke sich z. V. das


Grenzboten II 1895 45
Diktatur und Verfassung

mit dem freilich recht bedenklichen Satze abzufinden suchen, daß nur der be¬
fehlende Vorgesetzte die Verantwortung zu tragen habe. Aber eine, und ge¬
rade die wichtigste Beamtengattung, hätte auch diese Ausrede nicht. Von
den deutschen Richtern, vom Reichsgericht herab bis zum jüngsten Assessor,
muß erwartet werden, daß sie eher ihr Leben lassen oder mit Weib und Kind
betteln gehen werden, als daß sie sich dazu herbeilassen, ihre Urteile auf ver¬
fassungswidrig zu stände gekommene Gesetze zu gründen. Die Richter sind
in Zeiten der Gewaltherrschaft die einzige Verkörperung des niedergetretenen
Rechtsgedankens. Selbst die brutale Gewalt treibt die Völker nicht zu so
hoffnungsloser Verzweiflung, als eine von feilen Mietlingen geschändete Ge¬
rechtigkeitspflege. Noch heute, nach mehr als 200 Jahren, wird in England
das Andenken des schurkischen Lordoberrichters Jeffreys und der von ihm
geleiteten sogenannten blutigen Assisen einmütig verflucht. Zwar hat eine ge¬
fällige Wissenschaft zu behaupten versucht, daß den Richter die Prüfung der
Gesetzmäßigkeit der Gesetze selbst nichts angehe, sobald sie vom Monarchen
als unter der Zustimmung der Volksvertretung erlassen verkündet worden
sind. In der That enthält Art. 106 der preußischen Verfassung die Vor¬
schrift: „Gesetze und Verordnungen sind verbindlich, wenn sie in der vom
Gesetze vorgeschriebnen Form bekannt gemacht worden sind. Die Prüfung
gehörig verkündeter königlicher Verordnungen steht nicht den Behörden, sondern
nur der Kammer zu." Aber die Tragweite dieser Vorschrift ist auch wissen¬
schaftlich sehr bestritten, sie gilt doch äußersten Falls nur vou preußischen
Landesgesetzen, nicht auch von Neichsgesetzen („Reichsrecht bricht Landesrecht"),
und um auch nur ihrem Wortlaut genügen zu können, müßte der künftige
Diktator Deutschlands im Eingange seiner Gesetze geradezu gegen die Wahr¬
heit versichern, daß er den Gesetzcsinhalt hiermit „nach erfolgter Zustimmung
des Bundesrath und des Reichstags" verordne. Ob er sich aber dabei über¬
haupt nicht auf die Zustimmung eines Reichstags, oder nur auf die einer
nach seiner Willkür zusammengesetzten Scheinvertretung bezöge, das läuft so
vollständig auf eins hinaus, daß niemand einen Richter für entschuldigt halten
würde, der sein Gewissen mit einer leeren Formel abspeisen ließe. Wir nehmen
deshalb bei unsern hypothetischen Erörterungen an, daß jedem der von der
Diktatur verkündeten Reichsgesetze vom Reichsgericht wie von sämtlichen
deutschen Landesgerichten die Giftigkeit werde abgesprochen werden. Die Folge
wäre, daß die neue selbstherrliche Reichsgewalt auf die Mitwirkung der Ge¬
richte bei den drakonischen Strafvorschriften, zu denen sie sich um ihrer eignen
Sicherheit willen sofort genötigt sähe, von vornherein verzichten müßte. Es
blieben ihr nur der Belagerungszustand und die mit der ganzen Fülle der
bürgerlichen Gerichtsbarkeit auszustattenden Kriegsgerichte zur Verfügung. Da
aber auch die etwa ergehenden rein zivilrechtlichen Gesetzesbefehle von den
Gerichten für nichtig erklärt werden würden — man denke sich z. V. das


Grenzboten II 1895 45
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[0361] Diktatur und Verfassung mit dem freilich recht bedenklichen Satze abzufinden suchen, daß nur der be¬ fehlende Vorgesetzte die Verantwortung zu tragen habe. Aber eine, und ge¬ rade die wichtigste Beamtengattung, hätte auch diese Ausrede nicht. Von den deutschen Richtern, vom Reichsgericht herab bis zum jüngsten Assessor, muß erwartet werden, daß sie eher ihr Leben lassen oder mit Weib und Kind betteln gehen werden, als daß sie sich dazu herbeilassen, ihre Urteile auf ver¬ fassungswidrig zu stände gekommene Gesetze zu gründen. Die Richter sind in Zeiten der Gewaltherrschaft die einzige Verkörperung des niedergetretenen Rechtsgedankens. Selbst die brutale Gewalt treibt die Völker nicht zu so hoffnungsloser Verzweiflung, als eine von feilen Mietlingen geschändete Ge¬ rechtigkeitspflege. Noch heute, nach mehr als 200 Jahren, wird in England das Andenken des schurkischen Lordoberrichters Jeffreys und der von ihm geleiteten sogenannten blutigen Assisen einmütig verflucht. Zwar hat eine ge¬ fällige Wissenschaft zu behaupten versucht, daß den Richter die Prüfung der Gesetzmäßigkeit der Gesetze selbst nichts angehe, sobald sie vom Monarchen als unter der Zustimmung der Volksvertretung erlassen verkündet worden sind. In der That enthält Art. 106 der preußischen Verfassung die Vor¬ schrift: „Gesetze und Verordnungen sind verbindlich, wenn sie in der vom Gesetze vorgeschriebnen Form bekannt gemacht worden sind. Die Prüfung gehörig verkündeter königlicher Verordnungen steht nicht den Behörden, sondern nur der Kammer zu." Aber die Tragweite dieser Vorschrift ist auch wissen¬ schaftlich sehr bestritten, sie gilt doch äußersten Falls nur vou preußischen Landesgesetzen, nicht auch von Neichsgesetzen („Reichsrecht bricht Landesrecht"), und um auch nur ihrem Wortlaut genügen zu können, müßte der künftige Diktator Deutschlands im Eingange seiner Gesetze geradezu gegen die Wahr¬ heit versichern, daß er den Gesetzcsinhalt hiermit „nach erfolgter Zustimmung des Bundesrath und des Reichstags" verordne. Ob er sich aber dabei über¬ haupt nicht auf die Zustimmung eines Reichstags, oder nur auf die einer nach seiner Willkür zusammengesetzten Scheinvertretung bezöge, das läuft so vollständig auf eins hinaus, daß niemand einen Richter für entschuldigt halten würde, der sein Gewissen mit einer leeren Formel abspeisen ließe. Wir nehmen deshalb bei unsern hypothetischen Erörterungen an, daß jedem der von der Diktatur verkündeten Reichsgesetze vom Reichsgericht wie von sämtlichen deutschen Landesgerichten die Giftigkeit werde abgesprochen werden. Die Folge wäre, daß die neue selbstherrliche Reichsgewalt auf die Mitwirkung der Ge¬ richte bei den drakonischen Strafvorschriften, zu denen sie sich um ihrer eignen Sicherheit willen sofort genötigt sähe, von vornherein verzichten müßte. Es blieben ihr nur der Belagerungszustand und die mit der ganzen Fülle der bürgerlichen Gerichtsbarkeit auszustattenden Kriegsgerichte zur Verfügung. Da aber auch die etwa ergehenden rein zivilrechtlichen Gesetzesbefehle von den Gerichten für nichtig erklärt werden würden — man denke sich z. V. das Grenzboten II 1895 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/361>, abgerufen am 25.08.2024.