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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Diktatur und Verfassung

Über eine unfruchtbare Periode schließlich damit hinwegtrösten, daß sie jeden¬
falls langlebiger sind als die Regierungen, und daß einer lebenskräftigen
Nation Gott noch immer zur rechten Zeit den rechten Mann für die rechte
Stelle erweckt hat. Aber eine unfähige, auf der morschen Grundlage des
Verfafsungsbruchs aufgebaute Diktatur hat sich auch als Willkür- und Schreckens¬
herrschaft noch niemals behaupten können. Ihr kläglicher Zusammenbruch
wäre die Frage einer wahrscheinlich nur ganz kurzen Zeit.

Welch ungeheuern Schwierigkeiten aber würde sich ein verfassungswidriges
Regiment innerhalb einer großen Kulturnativn von 50 Millionen an Teil¬
nahme am politischen Leben gewöhnter Deutschen von der ersten Stunde an
gegenübersehen! Wie man auch immer das Verhältnis zwischen Fürst und
Volk definiren mag, im Verfassuugsstciat hat es doch soviel von der Vertrags¬
natur an sich, daß die staatsrechtliche Wissenschaft so gut wie das Rechtsgefühl
des Volks die Pflicht zum Unterthanengehorsam soweit für aufgehoben ansieht,
als auch der Fürst über die ihm gezognen verfassungsmäßigen Schranken
hinwegschreitet. Der Reichsverfassung gegenüber wären nicht einmal die faden¬
scheinigen Gründe möglich, mit denen eine servile Wissenschaft wohl sonst versucht
hat, den Berfassungsbruch zu verschleiern. Einen Alleinherrscher von Gottes
Gnaden, der sich der dem deutschen Volke mit der Verfassung verliehenen
Rechte einst freiwillig entäußert hätte, und der sie deshalb im Falle der Not
auch wieder an sich ziehen dürfte, hat es für Gesamtdeutschland nirgends und
niemals gegeben. Der Versuch, auf den frühern Zustand zurückzugreifen, stieße
an Stelle der Reichsgewalt auf ein Nichts, und wir hören doch die Feinde
der heutigen staatsrechtlichen Ordnung nicht nach der Frankfurter Bundes¬
versammlung, sondern nach einer kaiserlichen Diktatur rufen. Die Rechtsquelle
dieser Diktatur könnte, gleich dem Rechte des fremden Eroberers, von vornherein
nur die nackte Gewalt sein. Nun haben aber vom Reichskanzler abwärts alle
Neichsbeamten geschworen, "die Reichsverfassung und die Gesetze des Reichs zu
beobachten." Denselben Eid, wiewohl unter Beschränkung auf die Landesverfassung
und die Landesgesetze, haben auch alle Landesbeamten und unzählige andre in
öffentlichen Pflichten stehende Deutsche geschworen. Sie haben damit auch die
Reichsverfassung, die ja Bestandteil jeder einzelstaatlichen Verfassung geworden
und auch formell in jedem Bundesstaat als Gesetz verkündet worden ist, eidlich
zu halten versprochen. Dem neuen Diktator oder den verbündeten Diktatoren
bliebe deshalb eigentlich nichts übrig, als mit einem Schlage die gesamte
Bureaukratie einschließlich der kraft des Gesetzes unabsetzbaren Richter zu be¬
seitigen. Da sie daran nicht denken könnten, so müßten sie ihre Herrschaft
mit der Zumutung des Eidbruchs an die große Masse der deutschen Beamten
beginnen. Vielleicht wird man den untern, wirtschaftlich abhängigen Ver-
waltungsbeamten mildernde Umstände bewilligen dürfen, wenn sie in diesem
Falle das gleichfalls eidlich abgelegte Gehorsamsgelöbnis voranstellen und sich


Diktatur und Verfassung

Über eine unfruchtbare Periode schließlich damit hinwegtrösten, daß sie jeden¬
falls langlebiger sind als die Regierungen, und daß einer lebenskräftigen
Nation Gott noch immer zur rechten Zeit den rechten Mann für die rechte
Stelle erweckt hat. Aber eine unfähige, auf der morschen Grundlage des
Verfafsungsbruchs aufgebaute Diktatur hat sich auch als Willkür- und Schreckens¬
herrschaft noch niemals behaupten können. Ihr kläglicher Zusammenbruch
wäre die Frage einer wahrscheinlich nur ganz kurzen Zeit.

Welch ungeheuern Schwierigkeiten aber würde sich ein verfassungswidriges
Regiment innerhalb einer großen Kulturnativn von 50 Millionen an Teil¬
nahme am politischen Leben gewöhnter Deutschen von der ersten Stunde an
gegenübersehen! Wie man auch immer das Verhältnis zwischen Fürst und
Volk definiren mag, im Verfassuugsstciat hat es doch soviel von der Vertrags¬
natur an sich, daß die staatsrechtliche Wissenschaft so gut wie das Rechtsgefühl
des Volks die Pflicht zum Unterthanengehorsam soweit für aufgehoben ansieht,
als auch der Fürst über die ihm gezognen verfassungsmäßigen Schranken
hinwegschreitet. Der Reichsverfassung gegenüber wären nicht einmal die faden¬
scheinigen Gründe möglich, mit denen eine servile Wissenschaft wohl sonst versucht
hat, den Berfassungsbruch zu verschleiern. Einen Alleinherrscher von Gottes
Gnaden, der sich der dem deutschen Volke mit der Verfassung verliehenen
Rechte einst freiwillig entäußert hätte, und der sie deshalb im Falle der Not
auch wieder an sich ziehen dürfte, hat es für Gesamtdeutschland nirgends und
niemals gegeben. Der Versuch, auf den frühern Zustand zurückzugreifen, stieße
an Stelle der Reichsgewalt auf ein Nichts, und wir hören doch die Feinde
der heutigen staatsrechtlichen Ordnung nicht nach der Frankfurter Bundes¬
versammlung, sondern nach einer kaiserlichen Diktatur rufen. Die Rechtsquelle
dieser Diktatur könnte, gleich dem Rechte des fremden Eroberers, von vornherein
nur die nackte Gewalt sein. Nun haben aber vom Reichskanzler abwärts alle
Neichsbeamten geschworen, „die Reichsverfassung und die Gesetze des Reichs zu
beobachten." Denselben Eid, wiewohl unter Beschränkung auf die Landesverfassung
und die Landesgesetze, haben auch alle Landesbeamten und unzählige andre in
öffentlichen Pflichten stehende Deutsche geschworen. Sie haben damit auch die
Reichsverfassung, die ja Bestandteil jeder einzelstaatlichen Verfassung geworden
und auch formell in jedem Bundesstaat als Gesetz verkündet worden ist, eidlich
zu halten versprochen. Dem neuen Diktator oder den verbündeten Diktatoren
bliebe deshalb eigentlich nichts übrig, als mit einem Schlage die gesamte
Bureaukratie einschließlich der kraft des Gesetzes unabsetzbaren Richter zu be¬
seitigen. Da sie daran nicht denken könnten, so müßten sie ihre Herrschaft
mit der Zumutung des Eidbruchs an die große Masse der deutschen Beamten
beginnen. Vielleicht wird man den untern, wirtschaftlich abhängigen Ver-
waltungsbeamten mildernde Umstände bewilligen dürfen, wenn sie in diesem
Falle das gleichfalls eidlich abgelegte Gehorsamsgelöbnis voranstellen und sich


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[0360] Diktatur und Verfassung Über eine unfruchtbare Periode schließlich damit hinwegtrösten, daß sie jeden¬ falls langlebiger sind als die Regierungen, und daß einer lebenskräftigen Nation Gott noch immer zur rechten Zeit den rechten Mann für die rechte Stelle erweckt hat. Aber eine unfähige, auf der morschen Grundlage des Verfafsungsbruchs aufgebaute Diktatur hat sich auch als Willkür- und Schreckens¬ herrschaft noch niemals behaupten können. Ihr kläglicher Zusammenbruch wäre die Frage einer wahrscheinlich nur ganz kurzen Zeit. Welch ungeheuern Schwierigkeiten aber würde sich ein verfassungswidriges Regiment innerhalb einer großen Kulturnativn von 50 Millionen an Teil¬ nahme am politischen Leben gewöhnter Deutschen von der ersten Stunde an gegenübersehen! Wie man auch immer das Verhältnis zwischen Fürst und Volk definiren mag, im Verfassuugsstciat hat es doch soviel von der Vertrags¬ natur an sich, daß die staatsrechtliche Wissenschaft so gut wie das Rechtsgefühl des Volks die Pflicht zum Unterthanengehorsam soweit für aufgehoben ansieht, als auch der Fürst über die ihm gezognen verfassungsmäßigen Schranken hinwegschreitet. Der Reichsverfassung gegenüber wären nicht einmal die faden¬ scheinigen Gründe möglich, mit denen eine servile Wissenschaft wohl sonst versucht hat, den Berfassungsbruch zu verschleiern. Einen Alleinherrscher von Gottes Gnaden, der sich der dem deutschen Volke mit der Verfassung verliehenen Rechte einst freiwillig entäußert hätte, und der sie deshalb im Falle der Not auch wieder an sich ziehen dürfte, hat es für Gesamtdeutschland nirgends und niemals gegeben. Der Versuch, auf den frühern Zustand zurückzugreifen, stieße an Stelle der Reichsgewalt auf ein Nichts, und wir hören doch die Feinde der heutigen staatsrechtlichen Ordnung nicht nach der Frankfurter Bundes¬ versammlung, sondern nach einer kaiserlichen Diktatur rufen. Die Rechtsquelle dieser Diktatur könnte, gleich dem Rechte des fremden Eroberers, von vornherein nur die nackte Gewalt sein. Nun haben aber vom Reichskanzler abwärts alle Neichsbeamten geschworen, „die Reichsverfassung und die Gesetze des Reichs zu beobachten." Denselben Eid, wiewohl unter Beschränkung auf die Landesverfassung und die Landesgesetze, haben auch alle Landesbeamten und unzählige andre in öffentlichen Pflichten stehende Deutsche geschworen. Sie haben damit auch die Reichsverfassung, die ja Bestandteil jeder einzelstaatlichen Verfassung geworden und auch formell in jedem Bundesstaat als Gesetz verkündet worden ist, eidlich zu halten versprochen. Dem neuen Diktator oder den verbündeten Diktatoren bliebe deshalb eigentlich nichts übrig, als mit einem Schlage die gesamte Bureaukratie einschließlich der kraft des Gesetzes unabsetzbaren Richter zu be¬ seitigen. Da sie daran nicht denken könnten, so müßten sie ihre Herrschaft mit der Zumutung des Eidbruchs an die große Masse der deutschen Beamten beginnen. Vielleicht wird man den untern, wirtschaftlich abhängigen Ver- waltungsbeamten mildernde Umstände bewilligen dürfen, wenn sie in diesem Falle das gleichfalls eidlich abgelegte Gehorsamsgelöbnis voranstellen und sich

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/360>, abgerufen am 25.08.2024.