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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Diktatur und Verfassung

lich durch die gänzliche Erschöpfung seiner finanziellen Hilfsmittel wieder dazu
gezwungen sah. Bekanntlich kehrte dann dieses Parlament, nach einer noch¬
maligen Auflösung, als das sogenannte Lange Parlament zurück, um zunächst
das Haupt Thomas Wentworths, des Grafen von Strafford, zu fordern. Es
folgte das Verbrechen des Königsmords und die Errichtung der englischen
Commonwealth unter dem Protektorat Oliver Cromwells.

Halten wir uns an zwei Vorschläge, die letzthin an die breite Öffentlich¬
keit gebracht und, bedauerlich genug, der Mühe ernsthafter Widerlegung für
wert geachtet worden sind: die Einführung der kaiserlichen Diktatur oder die
Oktroyirung eines neuen, und zwar weder allgemeinen, noch gleichen noch ge¬
heimen Reichstagswahlrechts. Man kann eigentlich nicht sagen, daß der erste
Vorschlag sehr viel weiter ginge als der zweite. Ob der Kaiser überhaupt
ohne Reichstag, oder ob er mit einer Volksvertretung regiert, die von vorn¬
herein zu dem Zwecke gebildet wird, alle Gesetzesvorschläge der Regierung gut¬
zuheißen, läuft so ziemlich auf eins hinaus. Beim öffentlichen wie beim pri¬
vaten Unrecht ist es nur der erste Schritt, der Überwindung kostet. Nichts
ist gewisser, daß auch an einem neugeschaffenen Psendoreichstag, der etwa die
Miene annähme, sich gegen seinen Schöpfer zu wenden, solange herumgemodelt
werden würde, bis er die gewünschten Ergebnisse lieferte.

Graf Mirbach erwartete in der Sitzung des preußischen Herrenhauses vom
28. Mürz den Schritt, "eine" neuen Reichstag ans der Basis eines neuen
Wahlrechts ins Leben treten zu lasse"," von den Verbündeten deutschen Fürsten
und versicherte -- ans Grund welcher Legitimation, verriet er nicht -- daß
man das in allen ländlichen Kreisen mit Jubel begrüßen würde. Er war be¬
scheiden genug, zuzugestehen, daß die Frage schwer zu lösen sei, aber Alexander
der Große habe ja auch schwierige Fragen auf einfache Weise gelöst. Dagegen
ist zunächst zu erinnern, daß im deutschen Reiche, abgesehen von den drei nor¬
dischen Stndterepubliken, die sich in den Kundgebungen der neuesten Staats¬
doktrin hartnäckig totschweigen lassen müssen, zweiundzwanzig deutsche Landes-
fürsten vorhanden sind. Ihnen allen scheint Graf Mirbach die Eigenschaften
eines Alexander des Großen zuzutrauen. Ohne dies bestreiten zu wolle",
thun wir doch den deutschen Fürsten nicht Unrecht, wenn wir bei ihnen noch
ein andres und höheres voraussetzen: deutsche Vertragstreue. Es ist richtig,
daß weder sie noch der deutsche Kaiser die Reichsverfassung mit einem Eide
besiegelt haben. Aber sie haben, nach den Eingangsworten der Verfassung,
seiner Zeit "einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebiets und des inner¬
halb desselben giltigen Rechtes, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen
Volkes geschlossen, der den Namen Deutsches Reich sichren und nachstehende
Verfassung haben wird." Wollten es die deutschen Fürsten und Freie" Städte
jemals unternehmen, für sich allein diesen Bundesvertrag, d. h. eben die Reichs-
verfassung abzuändern, so wäre hierzu doch mindestens dieselbe Einstimmigkeit


Diktatur und Verfassung

lich durch die gänzliche Erschöpfung seiner finanziellen Hilfsmittel wieder dazu
gezwungen sah. Bekanntlich kehrte dann dieses Parlament, nach einer noch¬
maligen Auflösung, als das sogenannte Lange Parlament zurück, um zunächst
das Haupt Thomas Wentworths, des Grafen von Strafford, zu fordern. Es
folgte das Verbrechen des Königsmords und die Errichtung der englischen
Commonwealth unter dem Protektorat Oliver Cromwells.

Halten wir uns an zwei Vorschläge, die letzthin an die breite Öffentlich¬
keit gebracht und, bedauerlich genug, der Mühe ernsthafter Widerlegung für
wert geachtet worden sind: die Einführung der kaiserlichen Diktatur oder die
Oktroyirung eines neuen, und zwar weder allgemeinen, noch gleichen noch ge¬
heimen Reichstagswahlrechts. Man kann eigentlich nicht sagen, daß der erste
Vorschlag sehr viel weiter ginge als der zweite. Ob der Kaiser überhaupt
ohne Reichstag, oder ob er mit einer Volksvertretung regiert, die von vorn¬
herein zu dem Zwecke gebildet wird, alle Gesetzesvorschläge der Regierung gut¬
zuheißen, läuft so ziemlich auf eins hinaus. Beim öffentlichen wie beim pri¬
vaten Unrecht ist es nur der erste Schritt, der Überwindung kostet. Nichts
ist gewisser, daß auch an einem neugeschaffenen Psendoreichstag, der etwa die
Miene annähme, sich gegen seinen Schöpfer zu wenden, solange herumgemodelt
werden würde, bis er die gewünschten Ergebnisse lieferte.

Graf Mirbach erwartete in der Sitzung des preußischen Herrenhauses vom
28. Mürz den Schritt, „eine» neuen Reichstag ans der Basis eines neuen
Wahlrechts ins Leben treten zu lasse»," von den Verbündeten deutschen Fürsten
und versicherte — ans Grund welcher Legitimation, verriet er nicht — daß
man das in allen ländlichen Kreisen mit Jubel begrüßen würde. Er war be¬
scheiden genug, zuzugestehen, daß die Frage schwer zu lösen sei, aber Alexander
der Große habe ja auch schwierige Fragen auf einfache Weise gelöst. Dagegen
ist zunächst zu erinnern, daß im deutschen Reiche, abgesehen von den drei nor¬
dischen Stndterepubliken, die sich in den Kundgebungen der neuesten Staats¬
doktrin hartnäckig totschweigen lassen müssen, zweiundzwanzig deutsche Landes-
fürsten vorhanden sind. Ihnen allen scheint Graf Mirbach die Eigenschaften
eines Alexander des Großen zuzutrauen. Ohne dies bestreiten zu wolle»,
thun wir doch den deutschen Fürsten nicht Unrecht, wenn wir bei ihnen noch
ein andres und höheres voraussetzen: deutsche Vertragstreue. Es ist richtig,
daß weder sie noch der deutsche Kaiser die Reichsverfassung mit einem Eide
besiegelt haben. Aber sie haben, nach den Eingangsworten der Verfassung,
seiner Zeit „einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebiets und des inner¬
halb desselben giltigen Rechtes, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen
Volkes geschlossen, der den Namen Deutsches Reich sichren und nachstehende
Verfassung haben wird." Wollten es die deutschen Fürsten und Freie» Städte
jemals unternehmen, für sich allein diesen Bundesvertrag, d. h. eben die Reichs-
verfassung abzuändern, so wäre hierzu doch mindestens dieselbe Einstimmigkeit


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[0355] Diktatur und Verfassung lich durch die gänzliche Erschöpfung seiner finanziellen Hilfsmittel wieder dazu gezwungen sah. Bekanntlich kehrte dann dieses Parlament, nach einer noch¬ maligen Auflösung, als das sogenannte Lange Parlament zurück, um zunächst das Haupt Thomas Wentworths, des Grafen von Strafford, zu fordern. Es folgte das Verbrechen des Königsmords und die Errichtung der englischen Commonwealth unter dem Protektorat Oliver Cromwells. Halten wir uns an zwei Vorschläge, die letzthin an die breite Öffentlich¬ keit gebracht und, bedauerlich genug, der Mühe ernsthafter Widerlegung für wert geachtet worden sind: die Einführung der kaiserlichen Diktatur oder die Oktroyirung eines neuen, und zwar weder allgemeinen, noch gleichen noch ge¬ heimen Reichstagswahlrechts. Man kann eigentlich nicht sagen, daß der erste Vorschlag sehr viel weiter ginge als der zweite. Ob der Kaiser überhaupt ohne Reichstag, oder ob er mit einer Volksvertretung regiert, die von vorn¬ herein zu dem Zwecke gebildet wird, alle Gesetzesvorschläge der Regierung gut¬ zuheißen, läuft so ziemlich auf eins hinaus. Beim öffentlichen wie beim pri¬ vaten Unrecht ist es nur der erste Schritt, der Überwindung kostet. Nichts ist gewisser, daß auch an einem neugeschaffenen Psendoreichstag, der etwa die Miene annähme, sich gegen seinen Schöpfer zu wenden, solange herumgemodelt werden würde, bis er die gewünschten Ergebnisse lieferte. Graf Mirbach erwartete in der Sitzung des preußischen Herrenhauses vom 28. Mürz den Schritt, „eine» neuen Reichstag ans der Basis eines neuen Wahlrechts ins Leben treten zu lasse»," von den Verbündeten deutschen Fürsten und versicherte — ans Grund welcher Legitimation, verriet er nicht — daß man das in allen ländlichen Kreisen mit Jubel begrüßen würde. Er war be¬ scheiden genug, zuzugestehen, daß die Frage schwer zu lösen sei, aber Alexander der Große habe ja auch schwierige Fragen auf einfache Weise gelöst. Dagegen ist zunächst zu erinnern, daß im deutschen Reiche, abgesehen von den drei nor¬ dischen Stndterepubliken, die sich in den Kundgebungen der neuesten Staats¬ doktrin hartnäckig totschweigen lassen müssen, zweiundzwanzig deutsche Landes- fürsten vorhanden sind. Ihnen allen scheint Graf Mirbach die Eigenschaften eines Alexander des Großen zuzutrauen. Ohne dies bestreiten zu wolle», thun wir doch den deutschen Fürsten nicht Unrecht, wenn wir bei ihnen noch ein andres und höheres voraussetzen: deutsche Vertragstreue. Es ist richtig, daß weder sie noch der deutsche Kaiser die Reichsverfassung mit einem Eide besiegelt haben. Aber sie haben, nach den Eingangsworten der Verfassung, seiner Zeit „einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebiets und des inner¬ halb desselben giltigen Rechtes, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes geschlossen, der den Namen Deutsches Reich sichren und nachstehende Verfassung haben wird." Wollten es die deutschen Fürsten und Freie» Städte jemals unternehmen, für sich allein diesen Bundesvertrag, d. h. eben die Reichs- verfassung abzuändern, so wäre hierzu doch mindestens dieselbe Einstimmigkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/355>, abgerufen am 25.08.2024.