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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Diktatur und Verfassung

gewachsen, und doch erleben wir es heute, daß eine unter den großen
Kulturnationen fast unvergleichliche Stetigkeit und Sicherheit der Rechts¬
entwicklung, die man bisher nur von unten her bedroht glaubte, nun auch
von oben herab in Frage gestellt wird. Noch bis vor wenigen Jahren würde
man jeden, der öffentlich und ernstlich den Staatsstreich befürwortet hätte, für
einen Narren erklärt haben; es ist ein betrübendes Zeichen für den Rückgang
des Gefühls der allgemeinen Rechtssicherheit, daß man sich heute über solche
Vorschläge beunruhigt zeigt und auch an den entscheidenden Stellen ein ge¬
neigtes Ohr dafür vorhanden glaubt.

Die Revolution ist neuerdings zu Politischen Zwecken vielfach als Schreck¬
gespenst vorgeführt worden. Ja man hat, wenn auch zum Teil in löblicher
Absicht, ihren mutmaßlichen Verlauf in allen Einzelheiten ausführlich darge¬
stellt und damit recht eigentlich den Teufel an die Wand gemalt. Vielleicht
ist es nützlich, ganz gewiß aber ist es ebenso zeitgemäß, den Versuch zu machen,
diesen Teufel mit Beelzebub auszutreiben und zur Abwechslung einmal den
Blick auf den mutmaßlichen Verlauf und die Folgen des Staatsstreichs oder
Verfassungsbruchs, der sogenannten Revolution von oben, zu werfen.

Man kann sich die Reichsverfassung -- nur von ihr soll gehandelt werden --
in verschiedner Form und in verschieonem Umfange von den Regierungsgewalten
im Reiche angetastet denken. Übergriffe in gewisse verfassungsmäßig gewähr¬
leistete Freiheiten, z. B. in die Unverletzlichkeit der Abgeordneten wegen der
bei Ausübung ihres Berufs gethanen Äußerungen, sind an sich unschädlich,
solange sie von den Gerichten zurückgewiesen werden und die Negierung nicht
wagt, sich auch über deren Urteile hinwegzusetzen. Immerhin würde in weiten
Volkskreisen das Vertrauen daraus erschüttert werden, daß die Verfassung auch
von den Regierungen jederzeit als ein Rührmichnichtan geachtet werde. Auch
Karl I. wollte einst die Parlamentsmitglieder Pym, Hokus, Haupten und andre
nur verhaften, um sie vor deu Gerichtshof des Hauses der Lords zu stellen,
und doch führen die englischen Geschichtschreiber gerade auf diese verhängnis¬
volle Maßregel -- Macaulay nennt sie ins most inomsntous ok mis vvools
Ms -- die Katastrophe der großen englischen Revolution zurück. Man kann
sich auch vorstellen, daß die Verfassungsbestimmungen nicht formell beseitigt,
sondern nur thatsächlich außer Acht gelassen würden, so z. B. wenn der Kaiser
den Reichstag überhaupt nicht mehr einberufen wollte. Die Verfassung ver¬
pflichtet ihn hierzu ohnedies nicht mit ausdrücklichen Worten, und nur die Vor¬
schrift, daß der Neichshaushalt alljährlich durch Reichsgesetz festgestellt werden
muß, enthält mittelbar die Nötigung, den Reichstag alljährlich zusammenzu¬
rufen. Die Folge davon wäre ein budgetloses Regiment, wie zur Zeit des
preußischen Verfassungskonflikts, und ein gänzlicher Stillstand der Reichsgesetz¬
gebung. So hatte derselbe Karl I. das englische Parlament in der Zeit vom
März 1629 bis zum April 1640 überhaupt uicht einberufen, bis er sich end-


Diktatur und Verfassung

gewachsen, und doch erleben wir es heute, daß eine unter den großen
Kulturnationen fast unvergleichliche Stetigkeit und Sicherheit der Rechts¬
entwicklung, die man bisher nur von unten her bedroht glaubte, nun auch
von oben herab in Frage gestellt wird. Noch bis vor wenigen Jahren würde
man jeden, der öffentlich und ernstlich den Staatsstreich befürwortet hätte, für
einen Narren erklärt haben; es ist ein betrübendes Zeichen für den Rückgang
des Gefühls der allgemeinen Rechtssicherheit, daß man sich heute über solche
Vorschläge beunruhigt zeigt und auch an den entscheidenden Stellen ein ge¬
neigtes Ohr dafür vorhanden glaubt.

Die Revolution ist neuerdings zu Politischen Zwecken vielfach als Schreck¬
gespenst vorgeführt worden. Ja man hat, wenn auch zum Teil in löblicher
Absicht, ihren mutmaßlichen Verlauf in allen Einzelheiten ausführlich darge¬
stellt und damit recht eigentlich den Teufel an die Wand gemalt. Vielleicht
ist es nützlich, ganz gewiß aber ist es ebenso zeitgemäß, den Versuch zu machen,
diesen Teufel mit Beelzebub auszutreiben und zur Abwechslung einmal den
Blick auf den mutmaßlichen Verlauf und die Folgen des Staatsstreichs oder
Verfassungsbruchs, der sogenannten Revolution von oben, zu werfen.

Man kann sich die Reichsverfassung — nur von ihr soll gehandelt werden —
in verschiedner Form und in verschieonem Umfange von den Regierungsgewalten
im Reiche angetastet denken. Übergriffe in gewisse verfassungsmäßig gewähr¬
leistete Freiheiten, z. B. in die Unverletzlichkeit der Abgeordneten wegen der
bei Ausübung ihres Berufs gethanen Äußerungen, sind an sich unschädlich,
solange sie von den Gerichten zurückgewiesen werden und die Negierung nicht
wagt, sich auch über deren Urteile hinwegzusetzen. Immerhin würde in weiten
Volkskreisen das Vertrauen daraus erschüttert werden, daß die Verfassung auch
von den Regierungen jederzeit als ein Rührmichnichtan geachtet werde. Auch
Karl I. wollte einst die Parlamentsmitglieder Pym, Hokus, Haupten und andre
nur verhaften, um sie vor deu Gerichtshof des Hauses der Lords zu stellen,
und doch führen die englischen Geschichtschreiber gerade auf diese verhängnis¬
volle Maßregel — Macaulay nennt sie ins most inomsntous ok mis vvools
Ms — die Katastrophe der großen englischen Revolution zurück. Man kann
sich auch vorstellen, daß die Verfassungsbestimmungen nicht formell beseitigt,
sondern nur thatsächlich außer Acht gelassen würden, so z. B. wenn der Kaiser
den Reichstag überhaupt nicht mehr einberufen wollte. Die Verfassung ver¬
pflichtet ihn hierzu ohnedies nicht mit ausdrücklichen Worten, und nur die Vor¬
schrift, daß der Neichshaushalt alljährlich durch Reichsgesetz festgestellt werden
muß, enthält mittelbar die Nötigung, den Reichstag alljährlich zusammenzu¬
rufen. Die Folge davon wäre ein budgetloses Regiment, wie zur Zeit des
preußischen Verfassungskonflikts, und ein gänzlicher Stillstand der Reichsgesetz¬
gebung. So hatte derselbe Karl I. das englische Parlament in der Zeit vom
März 1629 bis zum April 1640 überhaupt uicht einberufen, bis er sich end-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/354>, abgerufen am 22.12.2024.