Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.Litteratur Nicolai Jwanowitsch Pirogow. Lebensfragen. Tagebuch eines alten Arztes. Aus dem Russischen übertragen von August Fischer. (Bibliothek russischer Denkwürdigkeiten. Heraus¬ gegeben von Th. Schiemann. Dritter Band.) Stuttgart, Cotta,' 1894 Der Mann, der hier sein Leben erzählt, ist ein tüchtiger in Deutschland und Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig Litteratur Nicolai Jwanowitsch Pirogow. Lebensfragen. Tagebuch eines alten Arztes. Aus dem Russischen übertragen von August Fischer. (Bibliothek russischer Denkwürdigkeiten. Heraus¬ gegeben von Th. Schiemann. Dritter Band.) Stuttgart, Cotta,' 1894 Der Mann, der hier sein Leben erzählt, ist ein tüchtiger in Deutschland und Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0304" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219980"/> </div> </div> <div n="1"> <head> Litteratur</head><lb/> <div n="2"> <head> Nicolai Jwanowitsch Pirogow. Lebensfragen. Tagebuch eines alten Arztes. Aus<lb/> dem Russischen übertragen von August Fischer. (Bibliothek russischer Denkwürdigkeiten. Heraus¬<lb/> gegeben von Th. Schiemann. Dritter Band.) Stuttgart, Cotta,' 1894</head><lb/> <p xml:id="ID_1101"> Der Mann, der hier sein Leben erzählt, ist ein tüchtiger in Deutschland und<lb/> Frankreich gebildeter Chirurg, der sich um das Hospitalwesen in seinem Vaterlands<lb/> und um das allgemeine Lazarettwesen in den letzten europäischen Kriegen das größte<lb/> Verdienst erworben hat. Doch würde dies das allgemeine Interesse, zumal in<lb/> Deutschland, an diesem starken Bande kaum rechtfertigen. Hierzu gehört die aller¬<lb/> dings ausnehmend gewinnende, in ihrer Art bedeutende, in ihrer russischen Um¬<lb/> gebung aber geradezu auffallende Persönlichkeit des Mannes. Er hat diese Lebcns-<lb/> gedanken und Lebenserinnerungen in seinen letzten Lebensjahren von 1379 bis<lb/> 1881 aufgesetzt. Er beginnt mit tiefen philosophischen Tagebuchaufzeichnungen, die<lb/> dem medizinischen Durchschnittsdenken jeuer Jahre erfreulicherweise durchaus nicht<lb/> entsprechen. Wir haben eben einen „alten Arzt" vor uns, der in Berlin studirte,<lb/> als „noch die klassischen Stücke Shakespeares, Schillers, Lessings und Goethes beim<lb/> Publikum in Gunst waren." „Die Zeit seines Berliner Aufenthalts war gerade<lb/> die Zeit des Übergangs — und zwar eines.sehr...schnellen, Übergangs — der<lb/> deutschen Medizin zum Realismus; damals begann gerade ihr Einschwenken in die<lb/> Reihe der exakten Wissenschaften, das von den Fanatikern des Realismus bis auf<lb/> den heutigen Tag so gefeiert wird." Pirogow scheint diesen Übergang nur inso¬<lb/> weit mitgemacht zu haben, als es seine technischen Fähigkeiten in seinem Berufe<lb/> fördern konnte. Aber keineswegs opferte er diesem berüchtigten „Fortschritt" sein<lb/> Denken und Fühlen als Mensch und Gelehrter, wie die meisten seiner Zunftgenossen<lb/> um die Mitte dieses Jahrhunderts. Die religiösen Betrachtungen dieser Tagebuch-<lb/> blätter werden auf die deutschen Leser etwas fremdartig wirken, da sie sich auf<lb/> dem Grunde des orthodoxen Kirchenglcmbeus aufbauen. Der starke Pnlsschlng<lb/> eines wahrhaft christlichen Seelenlebens aber wird sie sympathisch berühre», zumal<lb/> da es das Leben eines „mit der Wissenschaft fortgeschrittenen" Arztes ist. Ein<lb/> darwinistischer Streber im struMlo cet tlnz lito war dieser Arzt nicht. Er wurde<lb/> daher auch dem Büreaukratismns seiner Regierung auf die Dauer unbequem und<lb/> hat die spätere Lebenszeit im Privatleben gestanden. Die Freimütigkeit und Ge¬<lb/> rechtigkeitsliebe, mit der diese Lebensaufzcichnungen Verhältnisse und Persönlich¬<lb/> keiten schildern, erklären das hinlänglich. Der etwas breite Raum, der der Anek¬<lb/> dote eingeräumt wird, mag zwar den Ernst des Eindrucks dieser Beobachtungen<lb/> gelegentlich etwas einschränken. Dafür wird er um so anziehender wirken, nicht<lb/> bloß auf die große Leserzahl, die sich gerade heute für das — frühere! — geistige<lb/> Leben in den deutsch-russischen Ostseeprovinzen interessirt, sondern mich auf die noch<lb/> größere aus medizinischen Kreisen, die gern persönliche und allgemeine Erinnerungen<lb/> an die Lehrer des ältern Arztgeschlechts (Joh. Müller, die Brüder Weber, Schönlein,,<lb/> Dieffenbach, Gräfe, die beiden Langenbecks u. n.) ausfrischt.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <note type="byline"> Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig<lb/> Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig</note><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0304]
Litteratur
Nicolai Jwanowitsch Pirogow. Lebensfragen. Tagebuch eines alten Arztes. Aus
dem Russischen übertragen von August Fischer. (Bibliothek russischer Denkwürdigkeiten. Heraus¬
gegeben von Th. Schiemann. Dritter Band.) Stuttgart, Cotta,' 1894
Der Mann, der hier sein Leben erzählt, ist ein tüchtiger in Deutschland und
Frankreich gebildeter Chirurg, der sich um das Hospitalwesen in seinem Vaterlands
und um das allgemeine Lazarettwesen in den letzten europäischen Kriegen das größte
Verdienst erworben hat. Doch würde dies das allgemeine Interesse, zumal in
Deutschland, an diesem starken Bande kaum rechtfertigen. Hierzu gehört die aller¬
dings ausnehmend gewinnende, in ihrer Art bedeutende, in ihrer russischen Um¬
gebung aber geradezu auffallende Persönlichkeit des Mannes. Er hat diese Lebcns-
gedanken und Lebenserinnerungen in seinen letzten Lebensjahren von 1379 bis
1881 aufgesetzt. Er beginnt mit tiefen philosophischen Tagebuchaufzeichnungen, die
dem medizinischen Durchschnittsdenken jeuer Jahre erfreulicherweise durchaus nicht
entsprechen. Wir haben eben einen „alten Arzt" vor uns, der in Berlin studirte,
als „noch die klassischen Stücke Shakespeares, Schillers, Lessings und Goethes beim
Publikum in Gunst waren." „Die Zeit seines Berliner Aufenthalts war gerade
die Zeit des Übergangs — und zwar eines.sehr...schnellen, Übergangs — der
deutschen Medizin zum Realismus; damals begann gerade ihr Einschwenken in die
Reihe der exakten Wissenschaften, das von den Fanatikern des Realismus bis auf
den heutigen Tag so gefeiert wird." Pirogow scheint diesen Übergang nur inso¬
weit mitgemacht zu haben, als es seine technischen Fähigkeiten in seinem Berufe
fördern konnte. Aber keineswegs opferte er diesem berüchtigten „Fortschritt" sein
Denken und Fühlen als Mensch und Gelehrter, wie die meisten seiner Zunftgenossen
um die Mitte dieses Jahrhunderts. Die religiösen Betrachtungen dieser Tagebuch-
blätter werden auf die deutschen Leser etwas fremdartig wirken, da sie sich auf
dem Grunde des orthodoxen Kirchenglcmbeus aufbauen. Der starke Pnlsschlng
eines wahrhaft christlichen Seelenlebens aber wird sie sympathisch berühre», zumal
da es das Leben eines „mit der Wissenschaft fortgeschrittenen" Arztes ist. Ein
darwinistischer Streber im struMlo cet tlnz lito war dieser Arzt nicht. Er wurde
daher auch dem Büreaukratismns seiner Regierung auf die Dauer unbequem und
hat die spätere Lebenszeit im Privatleben gestanden. Die Freimütigkeit und Ge¬
rechtigkeitsliebe, mit der diese Lebensaufzcichnungen Verhältnisse und Persönlich¬
keiten schildern, erklären das hinlänglich. Der etwas breite Raum, der der Anek¬
dote eingeräumt wird, mag zwar den Ernst des Eindrucks dieser Beobachtungen
gelegentlich etwas einschränken. Dafür wird er um so anziehender wirken, nicht
bloß auf die große Leserzahl, die sich gerade heute für das — frühere! — geistige
Leben in den deutsch-russischen Ostseeprovinzen interessirt, sondern mich auf die noch
größere aus medizinischen Kreisen, die gern persönliche und allgemeine Erinnerungen
an die Lehrer des ältern Arztgeschlechts (Joh. Müller, die Brüder Weber, Schönlein,,
Dieffenbach, Gräfe, die beiden Langenbecks u. n.) ausfrischt.
Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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