Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Gastwirtschaften. Manche haben sich schönere Hänser gebant und leben auf einem Ich gehe einen Schritt weiter. Die Zahl der Einwohner beträgt gegenwärtig Darf ich nun noch über die Honoratioren ein Wort sagen: juristische Be¬ Maßgebliches und Unmaßgebliches Gastwirtschaften. Manche haben sich schönere Hänser gebant und leben auf einem Ich gehe einen Schritt weiter. Die Zahl der Einwohner beträgt gegenwärtig Darf ich nun noch über die Honoratioren ein Wort sagen: juristische Be¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0303" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219979"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1098" prev="#ID_1097"> Gastwirtschaften. Manche haben sich schönere Hänser gebant und leben auf einem<lb/> bedeutend größern Fuße als am Anfang der Periode. Sie kommen mit ihrem<lb/> Einkommen' vielleicht an die obere Grenze der Bnhrschen Skala heran. Söhne<lb/> aus einzelnen dieser Familien studiren oder haben längst ausstudirt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1099"> Ich gehe einen Schritt weiter. Die Zahl der Einwohner beträgt gegenwärtig<lb/> etwa 3000. Sie hat sich also seit dem Anfange der Periode verdoppelt. Die<lb/> Eisenbahn hat große wirtschaftliche Veränderungen anch in diese kleine Welt der<lb/> 3000 gebracht. Drei Fabriken mit zusammen 1000 Arbeitern sind in diese Zahl<lb/> noch nicht mit eingerechnet. Ein Teil dieser Arbeiter gehört einem Konsumverein<lb/> ein mit eignen Schneider- und Schusterwerkstätten. Trotzdem sind neue Geschäfte<lb/> zu jenen von Anfang an bestehenden getreten, namentlich kleinere, aber auch größere.<lb/> Ueber deren Erfolge kann ich nichts mitteilen, was die Frage zu fördern imstande<lb/> Ware. Es mögen manche davon verschwunden und wieder andre dafür entstanden<lb/> sein. Die Bewegung war also auf diesem kleinen Fleckchen Erde groß genug, und<lb/> auch die Einwirkung der neuen Zeit mit Transporterleichterung und Großbetrieb<lb/> hat nicht gefehlt. Aber trotzdem: jene 23 bleiben übrig, ein Mittelstand, wie man<lb/> ihn nicht besser und beständiger sich wünschen kann. Der alte Btthr hätte viel¬<lb/> leicht seine Freude an diesem Zeugnis aus „Weißnichtwo" gehabt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1100"> Darf ich nun noch über die Honoratioren ein Wort sagen: juristische Be¬<lb/> amte, Rechtsanwälte, Geistliche, Ärzte u. s. w., so sind diese ja an einem kleinen<lb/> Orte nicht nur die Vornehmen, fondern auch die „Reichen" schlechthin. Ihrem<lb/> Einkommen nach gehören sie zu unserm Mittelstande. Bähr zählt sie nicht mit,<lb/> weil er nur die produktiven Stände berücksichtigt. Für mich wird eine kurze Be¬<lb/> merkung gestattet sein, da sie anch einen wirtschaftlichen Hintergrund hat. Ich<lb/> zähle hier 14- Häuser, ans denen allen ich mir einst die Gespielen meiner Kind¬<lb/> heit holte. Die Familien selbst sind jetzt sämtlich dort verschwunden, denn der<lb/> Sohn bleibt ja in diesem Stande selten am Orte des Vaters. Die Familien-<lb/> häupter sind der größern Zahl nach am Orte gestorben, wenn sie aber im Laufe<lb/> der Beobachtungsperiode weggezogen sind, so habe ich ihr und ihrer Angehörigen<lb/> Schicksal bis auf den heutigen Tag verfolgen können. In Bezug auf diese Vor¬<lb/> nehmen oder Reichen oder Gebildeten, die höchste Kaste meines kleinen Gemein¬<lb/> wesens, macht mich nun die Beobachtung, daß sie fast sämtlich in diesen fünfund-<lb/> v'erzig Jahren den Weg nach unten gegangen sind, wahrhaft betroffen. Eine<lb/> Familie hatte keine Söhne, ans Vieren sind die Söhne mißraten, aus sieben haben<lb/> sie es nicht zu einer der väterlichen entsprechenden Stellung oder auch nur zu einer<lb/> angemessenen Schulbildung gebracht. Nur aus zweien, wovon eine die des Orts¬<lb/> geistlichen ist, sind Sohne hervorgegangen, die nicht hinter ihren Vätern zurück¬<lb/> blieben. Giebt das nicht zu denken? Uns allen ist wohl der Satz bekannt, daß<lb/> i» bürgerlichen Familien erworbnes Gut nicht leicht in die dritte Hand kommt.<lb/> I" einer der geistreichen sozialpolitischen Unterhaltungen des zweiten Teils der Neuen<lb/> Heloise sagt Julie: „Man hat immer nnr Talente, um dadurch emporzusteigen.<lb/> Keiner will hinunter." Meinen Sie, daß das natürliche Ordnung ist?" Gewiß<lb/> uicht, würde ich von meinem kleinen Beobachtungsfelde aus antworten, aber das<lb/> Hinuntersteigen brauchte nicht in so erschrecklichem Maße zu erfolgen.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0303]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Gastwirtschaften. Manche haben sich schönere Hänser gebant und leben auf einem
bedeutend größern Fuße als am Anfang der Periode. Sie kommen mit ihrem
Einkommen' vielleicht an die obere Grenze der Bnhrschen Skala heran. Söhne
aus einzelnen dieser Familien studiren oder haben längst ausstudirt.
Ich gehe einen Schritt weiter. Die Zahl der Einwohner beträgt gegenwärtig
etwa 3000. Sie hat sich also seit dem Anfange der Periode verdoppelt. Die
Eisenbahn hat große wirtschaftliche Veränderungen anch in diese kleine Welt der
3000 gebracht. Drei Fabriken mit zusammen 1000 Arbeitern sind in diese Zahl
noch nicht mit eingerechnet. Ein Teil dieser Arbeiter gehört einem Konsumverein
ein mit eignen Schneider- und Schusterwerkstätten. Trotzdem sind neue Geschäfte
zu jenen von Anfang an bestehenden getreten, namentlich kleinere, aber auch größere.
Ueber deren Erfolge kann ich nichts mitteilen, was die Frage zu fördern imstande
Ware. Es mögen manche davon verschwunden und wieder andre dafür entstanden
sein. Die Bewegung war also auf diesem kleinen Fleckchen Erde groß genug, und
auch die Einwirkung der neuen Zeit mit Transporterleichterung und Großbetrieb
hat nicht gefehlt. Aber trotzdem: jene 23 bleiben übrig, ein Mittelstand, wie man
ihn nicht besser und beständiger sich wünschen kann. Der alte Btthr hätte viel¬
leicht seine Freude an diesem Zeugnis aus „Weißnichtwo" gehabt.
Darf ich nun noch über die Honoratioren ein Wort sagen: juristische Be¬
amte, Rechtsanwälte, Geistliche, Ärzte u. s. w., so sind diese ja an einem kleinen
Orte nicht nur die Vornehmen, fondern auch die „Reichen" schlechthin. Ihrem
Einkommen nach gehören sie zu unserm Mittelstande. Bähr zählt sie nicht mit,
weil er nur die produktiven Stände berücksichtigt. Für mich wird eine kurze Be¬
merkung gestattet sein, da sie anch einen wirtschaftlichen Hintergrund hat. Ich
zähle hier 14- Häuser, ans denen allen ich mir einst die Gespielen meiner Kind¬
heit holte. Die Familien selbst sind jetzt sämtlich dort verschwunden, denn der
Sohn bleibt ja in diesem Stande selten am Orte des Vaters. Die Familien-
häupter sind der größern Zahl nach am Orte gestorben, wenn sie aber im Laufe
der Beobachtungsperiode weggezogen sind, so habe ich ihr und ihrer Angehörigen
Schicksal bis auf den heutigen Tag verfolgen können. In Bezug auf diese Vor¬
nehmen oder Reichen oder Gebildeten, die höchste Kaste meines kleinen Gemein¬
wesens, macht mich nun die Beobachtung, daß sie fast sämtlich in diesen fünfund-
v'erzig Jahren den Weg nach unten gegangen sind, wahrhaft betroffen. Eine
Familie hatte keine Söhne, ans Vieren sind die Söhne mißraten, aus sieben haben
sie es nicht zu einer der väterlichen entsprechenden Stellung oder auch nur zu einer
angemessenen Schulbildung gebracht. Nur aus zweien, wovon eine die des Orts¬
geistlichen ist, sind Sohne hervorgegangen, die nicht hinter ihren Vätern zurück¬
blieben. Giebt das nicht zu denken? Uns allen ist wohl der Satz bekannt, daß
i» bürgerlichen Familien erworbnes Gut nicht leicht in die dritte Hand kommt.
I" einer der geistreichen sozialpolitischen Unterhaltungen des zweiten Teils der Neuen
Heloise sagt Julie: „Man hat immer nnr Talente, um dadurch emporzusteigen.
Keiner will hinunter." Meinen Sie, daß das natürliche Ordnung ist?" Gewiß
uicht, würde ich von meinem kleinen Beobachtungsfelde aus antworten, aber das
Hinuntersteigen brauchte nicht in so erschrecklichem Maße zu erfolgen.
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