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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Geisteskrankheiten im Heere

krankung an Paralyse während des Feldzugs erklärt sich wohl in vielen Fällen
so, daß bei Personen, die früher syphilitisch waren, durch die Anstrengungen
des Kriegslebens der Ausbruch der Krankheit herbeigeführt ward. Nichtsyphi¬
litische wurden durch dieselben Strapazen und Aufregungen nur vorübergehend
nervös und reizbar. Wären für die früher Angesteckten die Beschwerden des
Kriegs weggeblieben, so wären sie vielleicht nicht paralytisch geworden. Für
zahlreiche Erkrankungen nach dem Feldzuge in Frankreich ist wohl von Be¬
deutung, daß die Syphilis, die sich der betreffende im Feldzuge zugezogen hat,
sehr schwerer Art gewesen sein soll, daß die Ansteckung zu einer Zeit geschah,
wo an Geist und Körper sehr hohe Anforderungen gestellt wurden, und wo
es jedenfalls oft an ausreichender Behandlung und Schonung mangelte. Jeden¬
falls waren die, die über einen kräftigen Körper und ein rüstiges Gehirn ver¬
fügten und nach dem Friedensschluß ein ruhiges, sorgenloses Leben sichren
konnten, der furchtbaren Krankheit weniger ausgesetzt als die, denen dies alles
fehlte. Es liegt uns natürlich fern, Leute, die so unglücklich gewesen sind, ein¬
mal syphilitisch zu werden, in Angst jagen zu wollen. Nur eine kleine Zahl von
ihnen wird geisteskrank. Um aber zu beweisen, daß die Syphilis im Heere
während und nach dem letzten Kriege außerordentlich häufig war, erwähne ich,
daß ihre Zahl bei der deutschen Besatzungsarmee während der Zeit vom
1. Juli 1871 bis zum 31. Juli 1873 nach dem amtlichen Bericht 244,7 Pro-
mille betrug! Sollte der amtliche Bericht der Medizinalabteilungen der deutschen
Kriegsministerien bei dieser Berechnung den Wechsel der Mannschaften bei der
Besatzungsarmee außer Acht gelassen haben, was nicht recht glaublich erscheint,
so bliebe dennoch eine erschreckende Zahl übrig, weil nur wenig gewechselt
worden ist. Über die Zahl der syphilitischen Erkrankungen bei der Feldarmee
sind keine Mitteilungen veröffentlicht worden. Es ist aber bekannt, daß auch
diese Zahl sehr hoch gewesen ist.

Gegenüber dem unverantwortlichen Leichtsinn, mit dem in einzelnen mili¬
tärischen Kreisen über diese gefährlichen Dinge gedacht wird, bedarf der Zu¬
sammenhang zwischen den beiden Krankheiten, die seit dem letzten Feldzuge in
Deutschland so sehr zugenommen haben, zwischen der Syphilis und der Paralyse,
dringend der Beachtung. Es ist jetzt eine gewiß sehr ernst zu nehmende Be¬
wegung zur Beseitigung des Alkoholmißbrauchs in der Schweiz, in Schweden
und neuerdings auch in Deutschland im Gange. Aber eine so wichtige Rolle
auch der Alkohol für die Entstehung der Geisteskrankheiten spielt, meist gehört
doch ein längere Zeit fortgesetzter Mißbrauch dazu, wenn er gefährliche Wir¬
kungen entfalten soll. Viel schlimmer ist die Sache bei der Syphilis. Ein
einmaliger Fehltritt kann hier Körper und Geist des betreffenden Menschen
im kräftigsten Mannesalter ruiniren. Dazu kommt, daß viele Alkoholpsychosen
heilbar sind, während die Paralyse eine unbedingt zum Tode führende Krank¬
heit ist. Über die Syphilisgefahren sind ernste Belehrungen, strenge hygienische


Die Geisteskrankheiten im Heere

krankung an Paralyse während des Feldzugs erklärt sich wohl in vielen Fällen
so, daß bei Personen, die früher syphilitisch waren, durch die Anstrengungen
des Kriegslebens der Ausbruch der Krankheit herbeigeführt ward. Nichtsyphi¬
litische wurden durch dieselben Strapazen und Aufregungen nur vorübergehend
nervös und reizbar. Wären für die früher Angesteckten die Beschwerden des
Kriegs weggeblieben, so wären sie vielleicht nicht paralytisch geworden. Für
zahlreiche Erkrankungen nach dem Feldzuge in Frankreich ist wohl von Be¬
deutung, daß die Syphilis, die sich der betreffende im Feldzuge zugezogen hat,
sehr schwerer Art gewesen sein soll, daß die Ansteckung zu einer Zeit geschah,
wo an Geist und Körper sehr hohe Anforderungen gestellt wurden, und wo
es jedenfalls oft an ausreichender Behandlung und Schonung mangelte. Jeden¬
falls waren die, die über einen kräftigen Körper und ein rüstiges Gehirn ver¬
fügten und nach dem Friedensschluß ein ruhiges, sorgenloses Leben sichren
konnten, der furchtbaren Krankheit weniger ausgesetzt als die, denen dies alles
fehlte. Es liegt uns natürlich fern, Leute, die so unglücklich gewesen sind, ein¬
mal syphilitisch zu werden, in Angst jagen zu wollen. Nur eine kleine Zahl von
ihnen wird geisteskrank. Um aber zu beweisen, daß die Syphilis im Heere
während und nach dem letzten Kriege außerordentlich häufig war, erwähne ich,
daß ihre Zahl bei der deutschen Besatzungsarmee während der Zeit vom
1. Juli 1871 bis zum 31. Juli 1873 nach dem amtlichen Bericht 244,7 Pro-
mille betrug! Sollte der amtliche Bericht der Medizinalabteilungen der deutschen
Kriegsministerien bei dieser Berechnung den Wechsel der Mannschaften bei der
Besatzungsarmee außer Acht gelassen haben, was nicht recht glaublich erscheint,
so bliebe dennoch eine erschreckende Zahl übrig, weil nur wenig gewechselt
worden ist. Über die Zahl der syphilitischen Erkrankungen bei der Feldarmee
sind keine Mitteilungen veröffentlicht worden. Es ist aber bekannt, daß auch
diese Zahl sehr hoch gewesen ist.

Gegenüber dem unverantwortlichen Leichtsinn, mit dem in einzelnen mili¬
tärischen Kreisen über diese gefährlichen Dinge gedacht wird, bedarf der Zu¬
sammenhang zwischen den beiden Krankheiten, die seit dem letzten Feldzuge in
Deutschland so sehr zugenommen haben, zwischen der Syphilis und der Paralyse,
dringend der Beachtung. Es ist jetzt eine gewiß sehr ernst zu nehmende Be¬
wegung zur Beseitigung des Alkoholmißbrauchs in der Schweiz, in Schweden
und neuerdings auch in Deutschland im Gange. Aber eine so wichtige Rolle
auch der Alkohol für die Entstehung der Geisteskrankheiten spielt, meist gehört
doch ein längere Zeit fortgesetzter Mißbrauch dazu, wenn er gefährliche Wir¬
kungen entfalten soll. Viel schlimmer ist die Sache bei der Syphilis. Ein
einmaliger Fehltritt kann hier Körper und Geist des betreffenden Menschen
im kräftigsten Mannesalter ruiniren. Dazu kommt, daß viele Alkoholpsychosen
heilbar sind, während die Paralyse eine unbedingt zum Tode führende Krank¬
heit ist. Über die Syphilisgefahren sind ernste Belehrungen, strenge hygienische


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[0274] Die Geisteskrankheiten im Heere krankung an Paralyse während des Feldzugs erklärt sich wohl in vielen Fällen so, daß bei Personen, die früher syphilitisch waren, durch die Anstrengungen des Kriegslebens der Ausbruch der Krankheit herbeigeführt ward. Nichtsyphi¬ litische wurden durch dieselben Strapazen und Aufregungen nur vorübergehend nervös und reizbar. Wären für die früher Angesteckten die Beschwerden des Kriegs weggeblieben, so wären sie vielleicht nicht paralytisch geworden. Für zahlreiche Erkrankungen nach dem Feldzuge in Frankreich ist wohl von Be¬ deutung, daß die Syphilis, die sich der betreffende im Feldzuge zugezogen hat, sehr schwerer Art gewesen sein soll, daß die Ansteckung zu einer Zeit geschah, wo an Geist und Körper sehr hohe Anforderungen gestellt wurden, und wo es jedenfalls oft an ausreichender Behandlung und Schonung mangelte. Jeden¬ falls waren die, die über einen kräftigen Körper und ein rüstiges Gehirn ver¬ fügten und nach dem Friedensschluß ein ruhiges, sorgenloses Leben sichren konnten, der furchtbaren Krankheit weniger ausgesetzt als die, denen dies alles fehlte. Es liegt uns natürlich fern, Leute, die so unglücklich gewesen sind, ein¬ mal syphilitisch zu werden, in Angst jagen zu wollen. Nur eine kleine Zahl von ihnen wird geisteskrank. Um aber zu beweisen, daß die Syphilis im Heere während und nach dem letzten Kriege außerordentlich häufig war, erwähne ich, daß ihre Zahl bei der deutschen Besatzungsarmee während der Zeit vom 1. Juli 1871 bis zum 31. Juli 1873 nach dem amtlichen Bericht 244,7 Pro- mille betrug! Sollte der amtliche Bericht der Medizinalabteilungen der deutschen Kriegsministerien bei dieser Berechnung den Wechsel der Mannschaften bei der Besatzungsarmee außer Acht gelassen haben, was nicht recht glaublich erscheint, so bliebe dennoch eine erschreckende Zahl übrig, weil nur wenig gewechselt worden ist. Über die Zahl der syphilitischen Erkrankungen bei der Feldarmee sind keine Mitteilungen veröffentlicht worden. Es ist aber bekannt, daß auch diese Zahl sehr hoch gewesen ist. Gegenüber dem unverantwortlichen Leichtsinn, mit dem in einzelnen mili¬ tärischen Kreisen über diese gefährlichen Dinge gedacht wird, bedarf der Zu¬ sammenhang zwischen den beiden Krankheiten, die seit dem letzten Feldzuge in Deutschland so sehr zugenommen haben, zwischen der Syphilis und der Paralyse, dringend der Beachtung. Es ist jetzt eine gewiß sehr ernst zu nehmende Be¬ wegung zur Beseitigung des Alkoholmißbrauchs in der Schweiz, in Schweden und neuerdings auch in Deutschland im Gange. Aber eine so wichtige Rolle auch der Alkohol für die Entstehung der Geisteskrankheiten spielt, meist gehört doch ein längere Zeit fortgesetzter Mißbrauch dazu, wenn er gefährliche Wir¬ kungen entfalten soll. Viel schlimmer ist die Sache bei der Syphilis. Ein einmaliger Fehltritt kann hier Körper und Geist des betreffenden Menschen im kräftigsten Mannesalter ruiniren. Dazu kommt, daß viele Alkoholpsychosen heilbar sind, während die Paralyse eine unbedingt zum Tode führende Krank¬ heit ist. Über die Syphilisgefahren sind ernste Belehrungen, strenge hygienische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/274>, abgerufen am 27.08.2024.