Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.Die Geisteskrankheiten im Heere deutschen Sanitütsbericht mitgeteilten Fälle ergiebt, daß unter den im letzten Eine auffallende, aber ganz sicher festgestellte Erscheinung ist ferner die, Zuverlässige Forschungen haben nun ergeben, daß unter den Ursachen Grenzboten II 1395 ?>4
Die Geisteskrankheiten im Heere deutschen Sanitütsbericht mitgeteilten Fälle ergiebt, daß unter den im letzten Eine auffallende, aber ganz sicher festgestellte Erscheinung ist ferner die, Zuverlässige Forschungen haben nun ergeben, daß unter den Ursachen Grenzboten II 1395 ?>4
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0273" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219949"/> <fw type="header" place="top"> Die Geisteskrankheiten im Heere</fw><lb/> <p xml:id="ID_962" prev="#ID_961"> deutschen Sanitütsbericht mitgeteilten Fälle ergiebt, daß unter den im letzten<lb/> Feldzug geheilten Geisteskrankheiten gerade viele nach innern Krankheiten ent-<lb/> standne Erschöpfungspsychoseu sind. Man kann hieraus entnehmen, wie ge¬<lb/> wissenhaft die Fürsorge sür diese geretteten Kameraden unter den schwierigen<lb/> Verhältnissen des großen Feldzugs war! In einer Anzahl von Füllen, nament¬<lb/> lich solchen nach Typhus, wurden die Kranken zwar auch am Leben erhalten,<lb/> verfielen aber in lebenslänglichen Schwachsinn. Wie viele der an Erschöpfungs-<lb/> Psychosc erkrankten freilich gestorben sind, vermag keine Statistik anzugeben.<lb/> Natürlich müssen wir annehmen, daß die Zahl der an solchen Leiden ver¬<lb/> storbnen bei einer geschlagner, vielleicht auf ungeordnetem Rückzug befindlichen<lb/> Armee besonders groß sein muß. Nicht unerwähnt darf bleiben, daß Er-<lb/> schöpfnngspsychosen auch nach übergroßen körperlichen Strapazen allein be¬<lb/> obachtet worden sind, also ohne daß eine fieberhafte Krankheit vorausge¬<lb/> gangen wäre.</p><lb/> <p xml:id="ID_963"> Eine auffallende, aber ganz sicher festgestellte Erscheinung ist ferner die,<lb/> daß nährend und vor allen Dingen nach den letzten Feldzügen sehr viele Er¬<lb/> krankungen an fortschreitender Hirnlähmung (progressiver Paralyse) vorge¬<lb/> kommen sind. Der Verlauf dieser schwersten und traurigsten aller Geistes¬<lb/> krankheiten ist meist der, daß nach einer Zeit heftiger Aufregungen, großer<lb/> Unternehmungslust und kritiklosen Größenwahns der höchste Grad vollstän¬<lb/> digen Blödsinns eintritt. Nach verschiednen Anfällen von Ohnmachten, Läh¬<lb/> mungen und Krnmpfen erlöst durchschnittlich zwei bis drei Jahre nach Beginn<lb/> der Psychose der Tod die Kranken. Die fortschreitende Hirnlühmung ist zur<lb/> Zeit die einzige Geisteskrankheit, bei der ein klarer, unanfechtbarer anatomischer<lb/> Befund ermittelt ist. Anatomisch besteht die Krankheit zunächst in einem fort¬<lb/> schreitenden Untergang der Ganglienzellen und Nervenfasern der Hirnrinde,<lb/> also der Elemente des Nervensystems, an deren Gesundheit jede normale Geistes¬<lb/> thätigkeit gebunden ist. Im Gehirn ist der Schwund der Nervensubstanz so<lb/> beträchtlich, daß seine Größe und sein Gewicht wesentlich abnehmen. Die<lb/> Hirnhöhlen werden immer größer. Die Hirnhäute weisen Verwachsungen und<lb/> Verdickungen auf. Die Schädelknochen können bei langsamem Verlauf des<lb/> Leidens nach innen wachsen, da ihnen das schrumpfende Hirn Platz macht.<lb/> Auch wichtige Abschnitte des Rückenmarks gehen zu Grunde.</p><lb/> <p xml:id="ID_964" next="#ID_965"> Zuverlässige Forschungen haben nun ergeben, daß unter den Ursachen<lb/> der Krankheit, die die Irrenärzte progressive Paralyse nennen, die Syphilis<lb/> eine sehr wichtige Rolle spielt. Eine Anzahl von Krankheiten aber, die die<lb/> Laien „Hirnerweichung" nennen, beruhen auf ganz andern Ursachen. Außer<lb/> der syphilitischen Ansteckung gehören nach den gegenwärtigen Ansichten zu<lb/> den Ursachen der Paralyse noch geistige Überanstrengung, anhaltende Ge¬<lb/> mütserregungen, körperliche Strapazen, Kopfverletzungen und akute innere<lb/> Krankheiten, alles Dinge, die der Krieg reichlich mit sich bringt. Die Er-</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1395 ?>4</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0273]
Die Geisteskrankheiten im Heere
deutschen Sanitütsbericht mitgeteilten Fälle ergiebt, daß unter den im letzten
Feldzug geheilten Geisteskrankheiten gerade viele nach innern Krankheiten ent-
standne Erschöpfungspsychoseu sind. Man kann hieraus entnehmen, wie ge¬
wissenhaft die Fürsorge sür diese geretteten Kameraden unter den schwierigen
Verhältnissen des großen Feldzugs war! In einer Anzahl von Füllen, nament¬
lich solchen nach Typhus, wurden die Kranken zwar auch am Leben erhalten,
verfielen aber in lebenslänglichen Schwachsinn. Wie viele der an Erschöpfungs-
Psychosc erkrankten freilich gestorben sind, vermag keine Statistik anzugeben.
Natürlich müssen wir annehmen, daß die Zahl der an solchen Leiden ver¬
storbnen bei einer geschlagner, vielleicht auf ungeordnetem Rückzug befindlichen
Armee besonders groß sein muß. Nicht unerwähnt darf bleiben, daß Er-
schöpfnngspsychosen auch nach übergroßen körperlichen Strapazen allein be¬
obachtet worden sind, also ohne daß eine fieberhafte Krankheit vorausge¬
gangen wäre.
Eine auffallende, aber ganz sicher festgestellte Erscheinung ist ferner die,
daß nährend und vor allen Dingen nach den letzten Feldzügen sehr viele Er¬
krankungen an fortschreitender Hirnlähmung (progressiver Paralyse) vorge¬
kommen sind. Der Verlauf dieser schwersten und traurigsten aller Geistes¬
krankheiten ist meist der, daß nach einer Zeit heftiger Aufregungen, großer
Unternehmungslust und kritiklosen Größenwahns der höchste Grad vollstän¬
digen Blödsinns eintritt. Nach verschiednen Anfällen von Ohnmachten, Läh¬
mungen und Krnmpfen erlöst durchschnittlich zwei bis drei Jahre nach Beginn
der Psychose der Tod die Kranken. Die fortschreitende Hirnlühmung ist zur
Zeit die einzige Geisteskrankheit, bei der ein klarer, unanfechtbarer anatomischer
Befund ermittelt ist. Anatomisch besteht die Krankheit zunächst in einem fort¬
schreitenden Untergang der Ganglienzellen und Nervenfasern der Hirnrinde,
also der Elemente des Nervensystems, an deren Gesundheit jede normale Geistes¬
thätigkeit gebunden ist. Im Gehirn ist der Schwund der Nervensubstanz so
beträchtlich, daß seine Größe und sein Gewicht wesentlich abnehmen. Die
Hirnhöhlen werden immer größer. Die Hirnhäute weisen Verwachsungen und
Verdickungen auf. Die Schädelknochen können bei langsamem Verlauf des
Leidens nach innen wachsen, da ihnen das schrumpfende Hirn Platz macht.
Auch wichtige Abschnitte des Rückenmarks gehen zu Grunde.
Zuverlässige Forschungen haben nun ergeben, daß unter den Ursachen
der Krankheit, die die Irrenärzte progressive Paralyse nennen, die Syphilis
eine sehr wichtige Rolle spielt. Eine Anzahl von Krankheiten aber, die die
Laien „Hirnerweichung" nennen, beruhen auf ganz andern Ursachen. Außer
der syphilitischen Ansteckung gehören nach den gegenwärtigen Ansichten zu
den Ursachen der Paralyse noch geistige Überanstrengung, anhaltende Ge¬
mütserregungen, körperliche Strapazen, Kopfverletzungen und akute innere
Krankheiten, alles Dinge, die der Krieg reichlich mit sich bringt. Die Er-
Grenzboten II 1395 ?>4
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