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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Krankheit hinüber, die bisweilen schon durch geringfügige, meist aber durch
schwere Verletzungen veranlaßt wird. Diese Krankheit ist erst in dem letzten
Jahrzehnt genauer erforscht worden. Ehe man sie kannte, hat man die be¬
rechtigten Klagen einer Anzahl von Opfern des Krieges gar nicht verstanden.
Auf die Betreffenden hat der Unfall einen übermächtigen Einfluß ausgeübt.
Ihre ganze Persönlichkeit ist aus dem innern Gleichgewicht gekommen. Die
Kranken beschäftigen sich anhaltend mit den großen Gefahren, in denen sie ge¬
schwebt haben. Diese lebhafte Gemütserregung beherrscht einzig und allein
ihr Denken und Fühlen. Sie werden gedrückt und teilnahmlos gegen alle
Vorgänge in ihrer Umgebung, geraten oft in heftige Angst und äußern schwere
hypochondrische Wahnideen, Versündigungs- oder Verfolgungsideen. Zuweilen
kommt es zu Zwangsvorstellungen. Nach und nach engt sich der Kreis ihrer
Vorstellungen auf das Interesse an der eignen Person, am eignen Körper ein,
an dem alle nur erdenklichen Beschwerden empfunden werden. Über etwas
andres vermögen sie nicht mehr nachzudenken; bei einer Arbeit auszuhalten
find sie außer stände. Da in diesen Fällen die Verletzung die vielen Klagen
nicht erklärt, da die körperliche Untersuchung außer der verbellten Wunde oft
nichts zu Tage bringt, finden die Beschwerden oft keinen Glauben. Und doch
sind die Leute ohne Zweifel gemütskrank. Sie fühlen sich schwer leidend und
werden oft erst dadurch, daß man ihnen nicht glaubt, dazu verführt, mehr
oder weniger bewußt zu übertreiben. Unkundige erklären dann ihre Klagen
durchweg für Simulation. Aber bei längerer, sorgfältiger Beobachtung ist es
meist recht gut möglich, Simulirtes von Nichtsimulirtem zu unterscheiden.
Die Krankheit wird von den Ärzten traumatische Neurose genannt. Sie kommt
besonders bei solchen Verletzten zum Ausbruch, die schon vorher nervös waren.
Es ist nicht nötig, daß sich die Verletzung stets am Kopf befunden hat. Die
traumatische Neurose schließt sich in ihren ersten Anfängen meist unmittelbar
an die betreffenden Verletzungen und Gemütserregungen an, die Krankheits¬
zeichen sind aber gewöhnlich erst nach vielen Monaten vollständig ausgeprägt.
Manche dieser Unglücklichen haben sich in ihrer Angst und Verzweiflung das
Leben genommen, andre sind im Laufe der Jahre mehr oder minder schwach¬
sinnig geworden, einige wurden gesund. Die Krankheit ist für die Jnvaliditäts-
verhältnisse und die Unfallversicherung gleich wichtig.

In den großen Feldzügen dieses Jahrhunderts sind regelmäßig sehr zahl¬
reiche Erkrankungen an innern Leiden beobachtet worden. So sielen im Krim¬
krieg 78,9 Prozent der französischen und 70,3 Prozent der italienischen Toten
innern Krankheiten zum Opfer. 1866 betrug die Zahl der an innern Krank¬
heiten verstorbnen Preußen 59 Prozent, 1870/71 der von innern Leiden dahin¬
gerafften Deutschen 30,2Prozent aller Todesfülle. Im letzten deutsch-französischen
Kriege waren unsre Heere namentlich von Ruhr und Thphns heimgesucht.
Andremal wüteten Pocken, Malaria, Cholera. Kriege in Nußland können


Krankheit hinüber, die bisweilen schon durch geringfügige, meist aber durch
schwere Verletzungen veranlaßt wird. Diese Krankheit ist erst in dem letzten
Jahrzehnt genauer erforscht worden. Ehe man sie kannte, hat man die be¬
rechtigten Klagen einer Anzahl von Opfern des Krieges gar nicht verstanden.
Auf die Betreffenden hat der Unfall einen übermächtigen Einfluß ausgeübt.
Ihre ganze Persönlichkeit ist aus dem innern Gleichgewicht gekommen. Die
Kranken beschäftigen sich anhaltend mit den großen Gefahren, in denen sie ge¬
schwebt haben. Diese lebhafte Gemütserregung beherrscht einzig und allein
ihr Denken und Fühlen. Sie werden gedrückt und teilnahmlos gegen alle
Vorgänge in ihrer Umgebung, geraten oft in heftige Angst und äußern schwere
hypochondrische Wahnideen, Versündigungs- oder Verfolgungsideen. Zuweilen
kommt es zu Zwangsvorstellungen. Nach und nach engt sich der Kreis ihrer
Vorstellungen auf das Interesse an der eignen Person, am eignen Körper ein,
an dem alle nur erdenklichen Beschwerden empfunden werden. Über etwas
andres vermögen sie nicht mehr nachzudenken; bei einer Arbeit auszuhalten
find sie außer stände. Da in diesen Fällen die Verletzung die vielen Klagen
nicht erklärt, da die körperliche Untersuchung außer der verbellten Wunde oft
nichts zu Tage bringt, finden die Beschwerden oft keinen Glauben. Und doch
sind die Leute ohne Zweifel gemütskrank. Sie fühlen sich schwer leidend und
werden oft erst dadurch, daß man ihnen nicht glaubt, dazu verführt, mehr
oder weniger bewußt zu übertreiben. Unkundige erklären dann ihre Klagen
durchweg für Simulation. Aber bei längerer, sorgfältiger Beobachtung ist es
meist recht gut möglich, Simulirtes von Nichtsimulirtem zu unterscheiden.
Die Krankheit wird von den Ärzten traumatische Neurose genannt. Sie kommt
besonders bei solchen Verletzten zum Ausbruch, die schon vorher nervös waren.
Es ist nicht nötig, daß sich die Verletzung stets am Kopf befunden hat. Die
traumatische Neurose schließt sich in ihren ersten Anfängen meist unmittelbar
an die betreffenden Verletzungen und Gemütserregungen an, die Krankheits¬
zeichen sind aber gewöhnlich erst nach vielen Monaten vollständig ausgeprägt.
Manche dieser Unglücklichen haben sich in ihrer Angst und Verzweiflung das
Leben genommen, andre sind im Laufe der Jahre mehr oder minder schwach¬
sinnig geworden, einige wurden gesund. Die Krankheit ist für die Jnvaliditäts-
verhältnisse und die Unfallversicherung gleich wichtig.

In den großen Feldzügen dieses Jahrhunderts sind regelmäßig sehr zahl¬
reiche Erkrankungen an innern Leiden beobachtet worden. So sielen im Krim¬
krieg 78,9 Prozent der französischen und 70,3 Prozent der italienischen Toten
innern Krankheiten zum Opfer. 1866 betrug die Zahl der an innern Krank¬
heiten verstorbnen Preußen 59 Prozent, 1870/71 der von innern Leiden dahin¬
gerafften Deutschen 30,2Prozent aller Todesfülle. Im letzten deutsch-französischen
Kriege waren unsre Heere namentlich von Ruhr und Thphns heimgesucht.
Andremal wüteten Pocken, Malaria, Cholera. Kriege in Nußland können


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[0271] Krankheit hinüber, die bisweilen schon durch geringfügige, meist aber durch schwere Verletzungen veranlaßt wird. Diese Krankheit ist erst in dem letzten Jahrzehnt genauer erforscht worden. Ehe man sie kannte, hat man die be¬ rechtigten Klagen einer Anzahl von Opfern des Krieges gar nicht verstanden. Auf die Betreffenden hat der Unfall einen übermächtigen Einfluß ausgeübt. Ihre ganze Persönlichkeit ist aus dem innern Gleichgewicht gekommen. Die Kranken beschäftigen sich anhaltend mit den großen Gefahren, in denen sie ge¬ schwebt haben. Diese lebhafte Gemütserregung beherrscht einzig und allein ihr Denken und Fühlen. Sie werden gedrückt und teilnahmlos gegen alle Vorgänge in ihrer Umgebung, geraten oft in heftige Angst und äußern schwere hypochondrische Wahnideen, Versündigungs- oder Verfolgungsideen. Zuweilen kommt es zu Zwangsvorstellungen. Nach und nach engt sich der Kreis ihrer Vorstellungen auf das Interesse an der eignen Person, am eignen Körper ein, an dem alle nur erdenklichen Beschwerden empfunden werden. Über etwas andres vermögen sie nicht mehr nachzudenken; bei einer Arbeit auszuhalten find sie außer stände. Da in diesen Fällen die Verletzung die vielen Klagen nicht erklärt, da die körperliche Untersuchung außer der verbellten Wunde oft nichts zu Tage bringt, finden die Beschwerden oft keinen Glauben. Und doch sind die Leute ohne Zweifel gemütskrank. Sie fühlen sich schwer leidend und werden oft erst dadurch, daß man ihnen nicht glaubt, dazu verführt, mehr oder weniger bewußt zu übertreiben. Unkundige erklären dann ihre Klagen durchweg für Simulation. Aber bei längerer, sorgfältiger Beobachtung ist es meist recht gut möglich, Simulirtes von Nichtsimulirtem zu unterscheiden. Die Krankheit wird von den Ärzten traumatische Neurose genannt. Sie kommt besonders bei solchen Verletzten zum Ausbruch, die schon vorher nervös waren. Es ist nicht nötig, daß sich die Verletzung stets am Kopf befunden hat. Die traumatische Neurose schließt sich in ihren ersten Anfängen meist unmittelbar an die betreffenden Verletzungen und Gemütserregungen an, die Krankheits¬ zeichen sind aber gewöhnlich erst nach vielen Monaten vollständig ausgeprägt. Manche dieser Unglücklichen haben sich in ihrer Angst und Verzweiflung das Leben genommen, andre sind im Laufe der Jahre mehr oder minder schwach¬ sinnig geworden, einige wurden gesund. Die Krankheit ist für die Jnvaliditäts- verhältnisse und die Unfallversicherung gleich wichtig. In den großen Feldzügen dieses Jahrhunderts sind regelmäßig sehr zahl¬ reiche Erkrankungen an innern Leiden beobachtet worden. So sielen im Krim¬ krieg 78,9 Prozent der französischen und 70,3 Prozent der italienischen Toten innern Krankheiten zum Opfer. 1866 betrug die Zahl der an innern Krank¬ heiten verstorbnen Preußen 59 Prozent, 1870/71 der von innern Leiden dahin¬ gerafften Deutschen 30,2Prozent aller Todesfülle. Im letzten deutsch-französischen Kriege waren unsre Heere namentlich von Ruhr und Thphns heimgesucht. Andremal wüteten Pocken, Malaria, Cholera. Kriege in Nußland können

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/271>, abgerufen am 27.08.2024.