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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Geisteskrankheiten im Heere

des Feldzugs erkrankt und noch nicht geheilt waren, nein, der Feldzug schuf
auch für viele Soldaten die Grundlage zu seelischen Erkrankungen, die erst
nach dem Kriege zum Ausbruch kamen; die eigentliche Krankheit begann in
manchen Fällen erst viele Jahre später, so waren z. B. Paralytiker ost noch
jahrelang nach dem Kriege vollständig geistig gesund.

Eine Zeit lang hat man angenommen, daß die durch den Krieg ent¬
stehenden Geisteskrankheiten eine besondre, im Frieden nicht vorkommende Krank¬
heitsform darstellten, die man "Kriegspsychose" genannt hat. Man glaubte,
der Inhalt der kranken Ideen sei besonders dem Kriegsleben entnommen, in¬
sofern in den Phantasien der Leidenden aufregende Schlachtenszenen, Blut,
Leichen, Kanonendonner und dergleichen eine hervorragende Rolle spielten.
Aber das ist nach den hierüber angestellten Erörterungen nicht der Fall. Es
sind im letzten Feldzuge sehr verschiedenartige psychische Störungen beobachtet
worden, und es ist keine einzige Krankheitsform mitgeteilt worden, die nicht
auch in Friedenszeiten vorkäme.

Für einen Teil der geistigen Erkrankungen sind nur bestimmte äußere
Ursachen verantwortlich zu machen. Hierher gehören äußere und innere Krank¬
heiten, Überanstrengungen, Gemütserregungen, klimatische Einflüsse und die
Einwirkung von Gift, und zwar handelt es sich bald um eine einzige dieser
äußern Ursachen, bald wird die Wirkung mehrerer zugleich anzunehmen sein.
Aber auch vererbte Anlage zu Seelenstörungen, frühere Erkrankungen u. a. in.
dürfen bei der Beurteilung nicht außer Acht gelassen werden.

Von äußern Erkrankungen, die die geistige Gesundheit zerstören können,
nennen wir zunächst die Verletzungen des Schädels, der Hirnhäute und des
Gehirns. Säbelhiebe, Granatsplitter, Flintenkugeln u. dergl. führen nicht
selten zu Schwachsinn verschiedner Form und verschiedner Grade. Körperliche
Krankheitszeichen pflegen die Geistesstörung zu begleiten. Sie hängen von dem
Orte der Verletzung ab und bestehen je nachdem in Störungen der Bewegungen
der Glieder, der Antlitznerven oder der Zunge, in Störungen des Gefühls,
des Gleichgewichts, der Sprache, der Sinnesorgane und des Pulses. Die
Schwere der Krankheit richtet sich nach dein Grade der Verletzung und nach
der Art der Wundheilung. Kopfverletzungen hinterlassen oft nur eine Ab¬
nahme der Leistungsfähigkeit des Gehirns, die bei Schonung keine unan¬
genehmen Folgen hat, aber dann, wenn Strapazen, geistige Anstrengungen oder
Alkoholgenuß einwirken, gefährliche Erscheinungen hervorruft.

Sturz, Stoß, Kolbenschlag, Prellschuß an deu Helm, Unfall mit Pferden
u. dergl. können Hirnerschütlerungen zur Folge haben. Nach Erschütterungen
des Gehirns werden die Menschen zuweilen mehr oder weniger geistesschwach;
manchmal entwickelt sich auch ein Zustand von Vergeßlichkeit, leichter Ermüd¬
barkeit und krankhafter Empfindlichkeit.

Dieser Zustand führt uns zu einer weitern, sehr wichtigen psychischen


Die Geisteskrankheiten im Heere

des Feldzugs erkrankt und noch nicht geheilt waren, nein, der Feldzug schuf
auch für viele Soldaten die Grundlage zu seelischen Erkrankungen, die erst
nach dem Kriege zum Ausbruch kamen; die eigentliche Krankheit begann in
manchen Fällen erst viele Jahre später, so waren z. B. Paralytiker ost noch
jahrelang nach dem Kriege vollständig geistig gesund.

Eine Zeit lang hat man angenommen, daß die durch den Krieg ent¬
stehenden Geisteskrankheiten eine besondre, im Frieden nicht vorkommende Krank¬
heitsform darstellten, die man „Kriegspsychose" genannt hat. Man glaubte,
der Inhalt der kranken Ideen sei besonders dem Kriegsleben entnommen, in¬
sofern in den Phantasien der Leidenden aufregende Schlachtenszenen, Blut,
Leichen, Kanonendonner und dergleichen eine hervorragende Rolle spielten.
Aber das ist nach den hierüber angestellten Erörterungen nicht der Fall. Es
sind im letzten Feldzuge sehr verschiedenartige psychische Störungen beobachtet
worden, und es ist keine einzige Krankheitsform mitgeteilt worden, die nicht
auch in Friedenszeiten vorkäme.

Für einen Teil der geistigen Erkrankungen sind nur bestimmte äußere
Ursachen verantwortlich zu machen. Hierher gehören äußere und innere Krank¬
heiten, Überanstrengungen, Gemütserregungen, klimatische Einflüsse und die
Einwirkung von Gift, und zwar handelt es sich bald um eine einzige dieser
äußern Ursachen, bald wird die Wirkung mehrerer zugleich anzunehmen sein.
Aber auch vererbte Anlage zu Seelenstörungen, frühere Erkrankungen u. a. in.
dürfen bei der Beurteilung nicht außer Acht gelassen werden.

Von äußern Erkrankungen, die die geistige Gesundheit zerstören können,
nennen wir zunächst die Verletzungen des Schädels, der Hirnhäute und des
Gehirns. Säbelhiebe, Granatsplitter, Flintenkugeln u. dergl. führen nicht
selten zu Schwachsinn verschiedner Form und verschiedner Grade. Körperliche
Krankheitszeichen pflegen die Geistesstörung zu begleiten. Sie hängen von dem
Orte der Verletzung ab und bestehen je nachdem in Störungen der Bewegungen
der Glieder, der Antlitznerven oder der Zunge, in Störungen des Gefühls,
des Gleichgewichts, der Sprache, der Sinnesorgane und des Pulses. Die
Schwere der Krankheit richtet sich nach dein Grade der Verletzung und nach
der Art der Wundheilung. Kopfverletzungen hinterlassen oft nur eine Ab¬
nahme der Leistungsfähigkeit des Gehirns, die bei Schonung keine unan¬
genehmen Folgen hat, aber dann, wenn Strapazen, geistige Anstrengungen oder
Alkoholgenuß einwirken, gefährliche Erscheinungen hervorruft.

Sturz, Stoß, Kolbenschlag, Prellschuß an deu Helm, Unfall mit Pferden
u. dergl. können Hirnerschütlerungen zur Folge haben. Nach Erschütterungen
des Gehirns werden die Menschen zuweilen mehr oder weniger geistesschwach;
manchmal entwickelt sich auch ein Zustand von Vergeßlichkeit, leichter Ermüd¬
barkeit und krankhafter Empfindlichkeit.

Dieser Zustand führt uns zu einer weitern, sehr wichtigen psychischen


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[0270] Die Geisteskrankheiten im Heere des Feldzugs erkrankt und noch nicht geheilt waren, nein, der Feldzug schuf auch für viele Soldaten die Grundlage zu seelischen Erkrankungen, die erst nach dem Kriege zum Ausbruch kamen; die eigentliche Krankheit begann in manchen Fällen erst viele Jahre später, so waren z. B. Paralytiker ost noch jahrelang nach dem Kriege vollständig geistig gesund. Eine Zeit lang hat man angenommen, daß die durch den Krieg ent¬ stehenden Geisteskrankheiten eine besondre, im Frieden nicht vorkommende Krank¬ heitsform darstellten, die man „Kriegspsychose" genannt hat. Man glaubte, der Inhalt der kranken Ideen sei besonders dem Kriegsleben entnommen, in¬ sofern in den Phantasien der Leidenden aufregende Schlachtenszenen, Blut, Leichen, Kanonendonner und dergleichen eine hervorragende Rolle spielten. Aber das ist nach den hierüber angestellten Erörterungen nicht der Fall. Es sind im letzten Feldzuge sehr verschiedenartige psychische Störungen beobachtet worden, und es ist keine einzige Krankheitsform mitgeteilt worden, die nicht auch in Friedenszeiten vorkäme. Für einen Teil der geistigen Erkrankungen sind nur bestimmte äußere Ursachen verantwortlich zu machen. Hierher gehören äußere und innere Krank¬ heiten, Überanstrengungen, Gemütserregungen, klimatische Einflüsse und die Einwirkung von Gift, und zwar handelt es sich bald um eine einzige dieser äußern Ursachen, bald wird die Wirkung mehrerer zugleich anzunehmen sein. Aber auch vererbte Anlage zu Seelenstörungen, frühere Erkrankungen u. a. in. dürfen bei der Beurteilung nicht außer Acht gelassen werden. Von äußern Erkrankungen, die die geistige Gesundheit zerstören können, nennen wir zunächst die Verletzungen des Schädels, der Hirnhäute und des Gehirns. Säbelhiebe, Granatsplitter, Flintenkugeln u. dergl. führen nicht selten zu Schwachsinn verschiedner Form und verschiedner Grade. Körperliche Krankheitszeichen pflegen die Geistesstörung zu begleiten. Sie hängen von dem Orte der Verletzung ab und bestehen je nachdem in Störungen der Bewegungen der Glieder, der Antlitznerven oder der Zunge, in Störungen des Gefühls, des Gleichgewichts, der Sprache, der Sinnesorgane und des Pulses. Die Schwere der Krankheit richtet sich nach dein Grade der Verletzung und nach der Art der Wundheilung. Kopfverletzungen hinterlassen oft nur eine Ab¬ nahme der Leistungsfähigkeit des Gehirns, die bei Schonung keine unan¬ genehmen Folgen hat, aber dann, wenn Strapazen, geistige Anstrengungen oder Alkoholgenuß einwirken, gefährliche Erscheinungen hervorruft. Sturz, Stoß, Kolbenschlag, Prellschuß an deu Helm, Unfall mit Pferden u. dergl. können Hirnerschütlerungen zur Folge haben. Nach Erschütterungen des Gehirns werden die Menschen zuweilen mehr oder weniger geistesschwach; manchmal entwickelt sich auch ein Zustand von Vergeßlichkeit, leichter Ermüd¬ barkeit und krankhafter Empfindlichkeit. Dieser Zustand führt uns zu einer weitern, sehr wichtigen psychischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/270>, abgerufen am 27.08.2024.