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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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List und "Larey

Prodnzirt, die Pillen, mir wenige Minuten existiren, bevor sie ins Wertlose
übergehn. Ein Newton, ein Watt, ein Kepler ist nicht so produktiv als ein
Esel, ein Pferd oder ein Pflngstier." (S. 213.) Mögen immerhin die markt¬
gängigen Tauschwerte das ausmachen, was man gewöhnlich Reichtum nennt,
aber "die Kraft, Reichtümer zu schaffen, ist unendlich wichtiger als der Reich¬
tum selbst; sie verbürgt nicht nur den Besitz und die Vermehrung des Er-
worbnen, sondern auch den Ersatz des Verlornen. Dies ist noch viel mehr
der Fall bei ganzen Nationen, die nicht von Renten leben können, als bei
Privaten. Deutschland ist in jedem Jahrhundert dnrch Pest, durch Hungersnot
oder durch innere und äußere Kriege verheert worden; immer hat es aber
einen großen Teil seiner produktiven Kräfte gerettet, und so gelangte es schnell
wieder zu einigem Wohlstand, während das reiche und mächtige, aber des-
poten- und pfaffengerittene Spanien, im vollen Besitz des innern Friedens,
immer tiefer in Armut und Elend versank. Der nordamerikanische Befreiungs¬
krieg hat die Nation Hunderte von Millionen gekostet, aber ihre produktive
Kraft ward durch die Erwerbung der Selbständigkeit unermeßlich gestärkt,
darum konnte sie im Laufe weniger Jahre nach dem Frieden ungleich größere
Reichtümer erwerben, als sie je zuvor besessen hatte. Man vergleiche den
Zustand von Frankreich im Jahre 1809 mit dem vom Jahre 1839, welch
ein Unterschied! Und doch hat Frankreich seitdem seine Herrschaft über einen
großen Teil des europäischen Kontinents verloren, zwei verheerende Invasionen
erlitten und Milliarden an Kriegskontributionen und -Entschädigungen ent¬
richtet." (S. 201--202.) Das Sandhase System sei gar kein System der
Volkswirtschaft, sondern bloß ein System des Tausches oder Handels, und
verdiene den Namen Merkantilsystem, den man dem Colbertschen fälschlich bei¬
gelegt habe. Den Prozeß der Reichtumsanhäufung habe es allerdings sehr
gut dargestellt, aber einer seiner Hauptmangel bestehe darin, "daß es nur ein
System der Privatökonomie aller Individuen eines Landes oder auch des
ganzen menschlichen Geschlechts war, wie sie sich bilden und gestalten würde,
wenn es keine besondern Staaten, Nationen oder Nationalinteressen, keine be¬
sondern Verfassungen und Kulturzustände, keine Kriege und Nationalleiden¬
schaften gäbe."

Damit ist schon der zweite Fehler ausgesprochen: die Schule übersieht
das Mittelglied zwischen dem Privatwirt und der Menschheit: die Nation.
"Auf die Natur der Nationalität, schreibt List in der Einleitung, als des
Mittelgliedes zwischen Individualität und Menschheit, ist mein ganzes Gebäude
gegründet." Einigung der individuellen Kräfte zur Verfolgung gemeinsamer
Zwecke, heißt es S. 14, "ist das mächtigste Mittel zur BeWirkung der Glück¬
seligkeit der Individuen. Allein und getrennt von seinen Mitmenschen ist das
Individuum schwach und hilflos. Je größer die Zahl derer ist, mit welchen
es in gesellschaftlicher Verbindung steht, je vollkommner die Einigung, desto


List und «Larey

Prodnzirt, die Pillen, mir wenige Minuten existiren, bevor sie ins Wertlose
übergehn. Ein Newton, ein Watt, ein Kepler ist nicht so produktiv als ein
Esel, ein Pferd oder ein Pflngstier." (S. 213.) Mögen immerhin die markt¬
gängigen Tauschwerte das ausmachen, was man gewöhnlich Reichtum nennt,
aber „die Kraft, Reichtümer zu schaffen, ist unendlich wichtiger als der Reich¬
tum selbst; sie verbürgt nicht nur den Besitz und die Vermehrung des Er-
worbnen, sondern auch den Ersatz des Verlornen. Dies ist noch viel mehr
der Fall bei ganzen Nationen, die nicht von Renten leben können, als bei
Privaten. Deutschland ist in jedem Jahrhundert dnrch Pest, durch Hungersnot
oder durch innere und äußere Kriege verheert worden; immer hat es aber
einen großen Teil seiner produktiven Kräfte gerettet, und so gelangte es schnell
wieder zu einigem Wohlstand, während das reiche und mächtige, aber des-
poten- und pfaffengerittene Spanien, im vollen Besitz des innern Friedens,
immer tiefer in Armut und Elend versank. Der nordamerikanische Befreiungs¬
krieg hat die Nation Hunderte von Millionen gekostet, aber ihre produktive
Kraft ward durch die Erwerbung der Selbständigkeit unermeßlich gestärkt,
darum konnte sie im Laufe weniger Jahre nach dem Frieden ungleich größere
Reichtümer erwerben, als sie je zuvor besessen hatte. Man vergleiche den
Zustand von Frankreich im Jahre 1809 mit dem vom Jahre 1839, welch
ein Unterschied! Und doch hat Frankreich seitdem seine Herrschaft über einen
großen Teil des europäischen Kontinents verloren, zwei verheerende Invasionen
erlitten und Milliarden an Kriegskontributionen und -Entschädigungen ent¬
richtet." (S. 201—202.) Das Sandhase System sei gar kein System der
Volkswirtschaft, sondern bloß ein System des Tausches oder Handels, und
verdiene den Namen Merkantilsystem, den man dem Colbertschen fälschlich bei¬
gelegt habe. Den Prozeß der Reichtumsanhäufung habe es allerdings sehr
gut dargestellt, aber einer seiner Hauptmangel bestehe darin, „daß es nur ein
System der Privatökonomie aller Individuen eines Landes oder auch des
ganzen menschlichen Geschlechts war, wie sie sich bilden und gestalten würde,
wenn es keine besondern Staaten, Nationen oder Nationalinteressen, keine be¬
sondern Verfassungen und Kulturzustände, keine Kriege und Nationalleiden¬
schaften gäbe."

Damit ist schon der zweite Fehler ausgesprochen: die Schule übersieht
das Mittelglied zwischen dem Privatwirt und der Menschheit: die Nation.
«Auf die Natur der Nationalität, schreibt List in der Einleitung, als des
Mittelgliedes zwischen Individualität und Menschheit, ist mein ganzes Gebäude
gegründet." Einigung der individuellen Kräfte zur Verfolgung gemeinsamer
Zwecke, heißt es S. 14, „ist das mächtigste Mittel zur BeWirkung der Glück¬
seligkeit der Individuen. Allein und getrennt von seinen Mitmenschen ist das
Individuum schwach und hilflos. Je größer die Zahl derer ist, mit welchen
es in gesellschaftlicher Verbindung steht, je vollkommner die Einigung, desto


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[0261] List und «Larey Prodnzirt, die Pillen, mir wenige Minuten existiren, bevor sie ins Wertlose übergehn. Ein Newton, ein Watt, ein Kepler ist nicht so produktiv als ein Esel, ein Pferd oder ein Pflngstier." (S. 213.) Mögen immerhin die markt¬ gängigen Tauschwerte das ausmachen, was man gewöhnlich Reichtum nennt, aber „die Kraft, Reichtümer zu schaffen, ist unendlich wichtiger als der Reich¬ tum selbst; sie verbürgt nicht nur den Besitz und die Vermehrung des Er- worbnen, sondern auch den Ersatz des Verlornen. Dies ist noch viel mehr der Fall bei ganzen Nationen, die nicht von Renten leben können, als bei Privaten. Deutschland ist in jedem Jahrhundert dnrch Pest, durch Hungersnot oder durch innere und äußere Kriege verheert worden; immer hat es aber einen großen Teil seiner produktiven Kräfte gerettet, und so gelangte es schnell wieder zu einigem Wohlstand, während das reiche und mächtige, aber des- poten- und pfaffengerittene Spanien, im vollen Besitz des innern Friedens, immer tiefer in Armut und Elend versank. Der nordamerikanische Befreiungs¬ krieg hat die Nation Hunderte von Millionen gekostet, aber ihre produktive Kraft ward durch die Erwerbung der Selbständigkeit unermeßlich gestärkt, darum konnte sie im Laufe weniger Jahre nach dem Frieden ungleich größere Reichtümer erwerben, als sie je zuvor besessen hatte. Man vergleiche den Zustand von Frankreich im Jahre 1809 mit dem vom Jahre 1839, welch ein Unterschied! Und doch hat Frankreich seitdem seine Herrschaft über einen großen Teil des europäischen Kontinents verloren, zwei verheerende Invasionen erlitten und Milliarden an Kriegskontributionen und -Entschädigungen ent¬ richtet." (S. 201—202.) Das Sandhase System sei gar kein System der Volkswirtschaft, sondern bloß ein System des Tausches oder Handels, und verdiene den Namen Merkantilsystem, den man dem Colbertschen fälschlich bei¬ gelegt habe. Den Prozeß der Reichtumsanhäufung habe es allerdings sehr gut dargestellt, aber einer seiner Hauptmangel bestehe darin, „daß es nur ein System der Privatökonomie aller Individuen eines Landes oder auch des ganzen menschlichen Geschlechts war, wie sie sich bilden und gestalten würde, wenn es keine besondern Staaten, Nationen oder Nationalinteressen, keine be¬ sondern Verfassungen und Kulturzustände, keine Kriege und Nationalleiden¬ schaften gäbe." Damit ist schon der zweite Fehler ausgesprochen: die Schule übersieht das Mittelglied zwischen dem Privatwirt und der Menschheit: die Nation. «Auf die Natur der Nationalität, schreibt List in der Einleitung, als des Mittelgliedes zwischen Individualität und Menschheit, ist mein ganzes Gebäude gegründet." Einigung der individuellen Kräfte zur Verfolgung gemeinsamer Zwecke, heißt es S. 14, „ist das mächtigste Mittel zur BeWirkung der Glück¬ seligkeit der Individuen. Allein und getrennt von seinen Mitmenschen ist das Individuum schwach und hilflos. Je größer die Zahl derer ist, mit welchen es in gesellschaftlicher Verbindung steht, je vollkommner die Einigung, desto

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/261>, abgerufen am 28.08.2024.