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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Keime erstickt; Canio "fordert als Mensch seine Rechte," und wahrlich, man
muß ihn ernst nehmen, denn sein Zorn braust wie ein Sturmwind über^ die
kleine Bühne> sodaß nun selbst die zuhörenden Bauern stutzig werden. Es ist
zu bedauern, daß die zweite Hälfte dieses Ausbruchs der gequälten Pajazzo-
seele nicht nur der ersten musikalisch nachsteht, sondern sogar einen gänzlichen
Rückfall Leonccivallos in die angestamntte Sentimentalität bedeutet. Es ist wirk¬
lich schade, daß der Komponist den Hörer, den er eben noch zu einer gewissen
Höhe mit fortzureißen verstanden hat, jetzt mit nichtssagenden Phrasen abspeist,
da doch Canio in seinem Fluche die höchste Kraft entfalten sollte. Doch der
Fehler ist nun einmal gemacht und muß mit in den Kauf genommen werden.
Man darf darüber nicht vergessen, daß die rücksichtslose Naschheit, mit der
Leoncavallo die Katastrophe herbeiführt, und die Kraft der Accente, die ihm
bei der Darstellung des Furchtbarsten doch noch zu Gebote steht, ihn zu guter-
letzt noch einmal als echten Dramatiker erscheinen lassen. > .

Ob er sich bei der widerspruchsvollen Beschaffenheit seiner musikalischen
Natur je zu einem in sich gleichwertigen Werke aufschwingen wird? Wer kann
es wissen! Sein Bajazzo ist jedenfalls musikalisch nur mit großer Vorsicht
zu genießen und enthält ebenso viele Fehler wie Vorzüge.

Die einzige einaktige deutsche Oper, die in der großen Öffentlichkeit für
Würdig befunden wurde, den Italienern die Spitze zu bieten, ist Ferdinand
Hummels "Mara." Hätten wir aber der ausländischen Kunst nichts besseres
entgegenzustellen, als dieses Berliner Produkt, daun wäre es zu Ende mit
unsrer musikalischen Herrlichkeit, und wir thäten am besten, das Feld zu
räumen. >

Die "Dichtung" von Axel Delmar ist ein äußerliches Machwerk, das
unter einiger Glätte -- und selbst die ist nicht immer gewahrt -- Sen¬
timentalität und Hohlheit verbirgt. Der ganze alte Opernkram lebt hier wieder
auf. Eddin ist der sattsam bekannte Nvrmaloperntscherkesfe, der eine "Schuld"
auf sich lädt, Weib und Kind zärtlich liebt, den "Tigern," die sein Kind be¬
drohen, mannhaft entgegentritt und schließlich, wenn es denn nicht anders geht,
unter dem üblichen "Glockengeläute im Thal" weichlichen Abschied von den
Seinen nimmt. Mara selbst ist die nicht minder bekannte mit Opfermut und
Standhaftigkeit imprügnirte Heldin ohne Furcht und Tadel, und Dimitri, der
im ganzen Stück nichts zu sagen hat als "Kuckuck," der süßliche Sprößling
ihrer Liebe. Djui stellt sich vor als der racheschnaubende böse Bruder, deu
der Chor mannhaft in seinem schlimmen Begehren unterstützt.

In der Anlage zeigt sich derselbe Fehler wie im Bajazzo. Über Mara,
die eine musterhafte Gattin und Mutter ist, bricht schweres Unheil herein.
Erst stirbt ihr Vater durch die Kugel ihres Mannes, und dann muß sie gar
selbst ihren Mann erschießen, um ihm einen qualvollen Tod zu ersparen. Das
ist wohl traurig und quälend, aber nichts weniger als tragisch. Während


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Keime erstickt; Canio „fordert als Mensch seine Rechte," und wahrlich, man
muß ihn ernst nehmen, denn sein Zorn braust wie ein Sturmwind über^ die
kleine Bühne> sodaß nun selbst die zuhörenden Bauern stutzig werden. Es ist
zu bedauern, daß die zweite Hälfte dieses Ausbruchs der gequälten Pajazzo-
seele nicht nur der ersten musikalisch nachsteht, sondern sogar einen gänzlichen
Rückfall Leonccivallos in die angestamntte Sentimentalität bedeutet. Es ist wirk¬
lich schade, daß der Komponist den Hörer, den er eben noch zu einer gewissen
Höhe mit fortzureißen verstanden hat, jetzt mit nichtssagenden Phrasen abspeist,
da doch Canio in seinem Fluche die höchste Kraft entfalten sollte. Doch der
Fehler ist nun einmal gemacht und muß mit in den Kauf genommen werden.
Man darf darüber nicht vergessen, daß die rücksichtslose Naschheit, mit der
Leoncavallo die Katastrophe herbeiführt, und die Kraft der Accente, die ihm
bei der Darstellung des Furchtbarsten doch noch zu Gebote steht, ihn zu guter-
letzt noch einmal als echten Dramatiker erscheinen lassen. > .

Ob er sich bei der widerspruchsvollen Beschaffenheit seiner musikalischen
Natur je zu einem in sich gleichwertigen Werke aufschwingen wird? Wer kann
es wissen! Sein Bajazzo ist jedenfalls musikalisch nur mit großer Vorsicht
zu genießen und enthält ebenso viele Fehler wie Vorzüge.

Die einzige einaktige deutsche Oper, die in der großen Öffentlichkeit für
Würdig befunden wurde, den Italienern die Spitze zu bieten, ist Ferdinand
Hummels „Mara." Hätten wir aber der ausländischen Kunst nichts besseres
entgegenzustellen, als dieses Berliner Produkt, daun wäre es zu Ende mit
unsrer musikalischen Herrlichkeit, und wir thäten am besten, das Feld zu
räumen. >

Die „Dichtung" von Axel Delmar ist ein äußerliches Machwerk, das
unter einiger Glätte — und selbst die ist nicht immer gewahrt — Sen¬
timentalität und Hohlheit verbirgt. Der ganze alte Opernkram lebt hier wieder
auf. Eddin ist der sattsam bekannte Nvrmaloperntscherkesfe, der eine „Schuld"
auf sich lädt, Weib und Kind zärtlich liebt, den „Tigern," die sein Kind be¬
drohen, mannhaft entgegentritt und schließlich, wenn es denn nicht anders geht,
unter dem üblichen „Glockengeläute im Thal" weichlichen Abschied von den
Seinen nimmt. Mara selbst ist die nicht minder bekannte mit Opfermut und
Standhaftigkeit imprügnirte Heldin ohne Furcht und Tadel, und Dimitri, der
im ganzen Stück nichts zu sagen hat als „Kuckuck," der süßliche Sprößling
ihrer Liebe. Djui stellt sich vor als der racheschnaubende böse Bruder, deu
der Chor mannhaft in seinem schlimmen Begehren unterstützt.

In der Anlage zeigt sich derselbe Fehler wie im Bajazzo. Über Mara,
die eine musterhafte Gattin und Mutter ist, bricht schweres Unheil herein.
Erst stirbt ihr Vater durch die Kugel ihres Mannes, und dann muß sie gar
selbst ihren Mann erschießen, um ihm einen qualvollen Tod zu ersparen. Das
ist wohl traurig und quälend, aber nichts weniger als tragisch. Während


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[0242] Moderne Gpern Keime erstickt; Canio „fordert als Mensch seine Rechte," und wahrlich, man muß ihn ernst nehmen, denn sein Zorn braust wie ein Sturmwind über^ die kleine Bühne> sodaß nun selbst die zuhörenden Bauern stutzig werden. Es ist zu bedauern, daß die zweite Hälfte dieses Ausbruchs der gequälten Pajazzo- seele nicht nur der ersten musikalisch nachsteht, sondern sogar einen gänzlichen Rückfall Leonccivallos in die angestamntte Sentimentalität bedeutet. Es ist wirk¬ lich schade, daß der Komponist den Hörer, den er eben noch zu einer gewissen Höhe mit fortzureißen verstanden hat, jetzt mit nichtssagenden Phrasen abspeist, da doch Canio in seinem Fluche die höchste Kraft entfalten sollte. Doch der Fehler ist nun einmal gemacht und muß mit in den Kauf genommen werden. Man darf darüber nicht vergessen, daß die rücksichtslose Naschheit, mit der Leoncavallo die Katastrophe herbeiführt, und die Kraft der Accente, die ihm bei der Darstellung des Furchtbarsten doch noch zu Gebote steht, ihn zu guter- letzt noch einmal als echten Dramatiker erscheinen lassen. > . Ob er sich bei der widerspruchsvollen Beschaffenheit seiner musikalischen Natur je zu einem in sich gleichwertigen Werke aufschwingen wird? Wer kann es wissen! Sein Bajazzo ist jedenfalls musikalisch nur mit großer Vorsicht zu genießen und enthält ebenso viele Fehler wie Vorzüge. Die einzige einaktige deutsche Oper, die in der großen Öffentlichkeit für Würdig befunden wurde, den Italienern die Spitze zu bieten, ist Ferdinand Hummels „Mara." Hätten wir aber der ausländischen Kunst nichts besseres entgegenzustellen, als dieses Berliner Produkt, daun wäre es zu Ende mit unsrer musikalischen Herrlichkeit, und wir thäten am besten, das Feld zu räumen. > Die „Dichtung" von Axel Delmar ist ein äußerliches Machwerk, das unter einiger Glätte — und selbst die ist nicht immer gewahrt — Sen¬ timentalität und Hohlheit verbirgt. Der ganze alte Opernkram lebt hier wieder auf. Eddin ist der sattsam bekannte Nvrmaloperntscherkesfe, der eine „Schuld" auf sich lädt, Weib und Kind zärtlich liebt, den „Tigern," die sein Kind be¬ drohen, mannhaft entgegentritt und schließlich, wenn es denn nicht anders geht, unter dem üblichen „Glockengeläute im Thal" weichlichen Abschied von den Seinen nimmt. Mara selbst ist die nicht minder bekannte mit Opfermut und Standhaftigkeit imprügnirte Heldin ohne Furcht und Tadel, und Dimitri, der im ganzen Stück nichts zu sagen hat als „Kuckuck," der süßliche Sprößling ihrer Liebe. Djui stellt sich vor als der racheschnaubende böse Bruder, deu der Chor mannhaft in seinem schlimmen Begehren unterstützt. In der Anlage zeigt sich derselbe Fehler wie im Bajazzo. Über Mara, die eine musterhafte Gattin und Mutter ist, bricht schweres Unheil herein. Erst stirbt ihr Vater durch die Kugel ihres Mannes, und dann muß sie gar selbst ihren Mann erschießen, um ihm einen qualvollen Tod zu ersparen. Das ist wohl traurig und quälend, aber nichts weniger als tragisch. Während

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/242>, abgerufen am 29.08.2024.