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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Knabenerziehunz und Knabenunterricht im alten Hellas

Unterricht der hellenischen Jugend sein einheitliches und vor allem sein echt
nationales Gepräge. Wollten wir Deutschen ähnliches haben, so müßten wir
etwa Schiller in gleicher Weise in den Mittelpunkt alles, Unterrichts rücken,
was natürlich jetzt unmöglicher ist als je. Wäre die Bcgeistenmg für Schiller,
die 1859 in den Schillerfesten zum Ausdruck kam, in gleichem Maße wie bis
dahin weiter gewachsen, so Hütten wir an Schiller vielleicht einen Dichter
von ähnlicher Stellung und Bedeutung erhalten können.^)

Am meisten auffallen würde es uns Wohl, wenn wir unsre Stundenpläne
mit einem athenischen vergleichen könnten, daß aus dem athenischen fremde
Sprachen vollständig fehlen würden. Daß dies für die Zeit der nationalen
Selbständigkeit der Hellenen eigentlich selbstverständlich ist, leuchtet ohne weiteres
ein; oder hätten die jungen Athener etwa Persisch, Phönikisch oder Ägyptisch
lernen sollen, Sprachen ohne litterarische Bedeutung und für Ausländer fast
unzugänglich? Als aber die Römer Herren aller Länder geworden waren,
wo die griechische Zunge klang, als sich jeder Grieche, der die Militär- oder
Beamtenlaufbahn einschlug, die Kenntnis des Lateins erwerben mußte, als
das Latein selbst eine litterarische Sprache ersten Ranges geworden war und
lateinische Dichter und Prosaiker ihre zeitgenössischen hellenischen Kollegen teils
eingeholt hatten, teils überflügelten, hätte es da den Griechen nicht nahe gelegen,
in ihre Schulen das Latein in ähnlicher Weise einzuführen, wie die Römer
seit dem ersten Jahrhundert vor Christus das Griechische zu einem Hauptgegen¬
stand ihres Schulunterrichts gemacht hatten? Es geschah das aber nicht; höchstens
Sklaven scheint man, natürlich zu rein praktischen Zwecken, im Latein unter¬
richtet zu haben, etwa wie sie in der von Aristoteles erwähnten Sklavenschule in
Shrcikus im Kochen und ähnlichen von Sklaven betriebnen Gewerben Unterricht
erhielten. Und dabei bewunderte man in Hellas Leute, die fremde Sprachen
redeten und verstanden, war in gebildeten Kreisen keineswegs blind gegen ge¬
wisse Vorzüge und Schönheiten der lateinischen Sprache und machte sich, wenn
auch vielleicht aus Übersetzungen, mit ihren Dichtern und Prosaschriftstellern
bekannt. Aber die Griechen mochten fühlen, daß sie das ihnen vor allem am
Herzen liegende schöne Gleichgewicht zwischen körperlicher und geistiger Aus¬
bildung, zwischen musikalischen und wissenschaftlichem Unterricht kaum noch
würden bewahren können, wenn sie den wissenschaftlichen Teil ihrer Jugend¬
erziehung um das zeitraubende Studium einer fremden Sprache und Litte¬
ratur vermehrten. So folgten sie auch in diesem Punkte dem Grundsatze, den
Lukian dem Athener Solon in den Mund legt: "Fremdes mögen wir nicht



Ich entsinne mich noch, wie ich damals als dreizehnjähriger Knabe mit meinem Vater
in Leipzig "ach dem Festzug auf dem Augustusplatze einem wackern graubärtigen Handwerks-
'meister zuhörte, der voll Begeisterung der ihn umstehenden Menge beteuerte, daß er sämtliche
Gedichte Schillers auswendig könne, und der wirklich gleich einem alten Rhapsoden Gedicht
""! Gedicht hersagte. ^ -
Knabenerziehunz und Knabenunterricht im alten Hellas

Unterricht der hellenischen Jugend sein einheitliches und vor allem sein echt
nationales Gepräge. Wollten wir Deutschen ähnliches haben, so müßten wir
etwa Schiller in gleicher Weise in den Mittelpunkt alles, Unterrichts rücken,
was natürlich jetzt unmöglicher ist als je. Wäre die Bcgeistenmg für Schiller,
die 1859 in den Schillerfesten zum Ausdruck kam, in gleichem Maße wie bis
dahin weiter gewachsen, so Hütten wir an Schiller vielleicht einen Dichter
von ähnlicher Stellung und Bedeutung erhalten können.^)

Am meisten auffallen würde es uns Wohl, wenn wir unsre Stundenpläne
mit einem athenischen vergleichen könnten, daß aus dem athenischen fremde
Sprachen vollständig fehlen würden. Daß dies für die Zeit der nationalen
Selbständigkeit der Hellenen eigentlich selbstverständlich ist, leuchtet ohne weiteres
ein; oder hätten die jungen Athener etwa Persisch, Phönikisch oder Ägyptisch
lernen sollen, Sprachen ohne litterarische Bedeutung und für Ausländer fast
unzugänglich? Als aber die Römer Herren aller Länder geworden waren,
wo die griechische Zunge klang, als sich jeder Grieche, der die Militär- oder
Beamtenlaufbahn einschlug, die Kenntnis des Lateins erwerben mußte, als
das Latein selbst eine litterarische Sprache ersten Ranges geworden war und
lateinische Dichter und Prosaiker ihre zeitgenössischen hellenischen Kollegen teils
eingeholt hatten, teils überflügelten, hätte es da den Griechen nicht nahe gelegen,
in ihre Schulen das Latein in ähnlicher Weise einzuführen, wie die Römer
seit dem ersten Jahrhundert vor Christus das Griechische zu einem Hauptgegen¬
stand ihres Schulunterrichts gemacht hatten? Es geschah das aber nicht; höchstens
Sklaven scheint man, natürlich zu rein praktischen Zwecken, im Latein unter¬
richtet zu haben, etwa wie sie in der von Aristoteles erwähnten Sklavenschule in
Shrcikus im Kochen und ähnlichen von Sklaven betriebnen Gewerben Unterricht
erhielten. Und dabei bewunderte man in Hellas Leute, die fremde Sprachen
redeten und verstanden, war in gebildeten Kreisen keineswegs blind gegen ge¬
wisse Vorzüge und Schönheiten der lateinischen Sprache und machte sich, wenn
auch vielleicht aus Übersetzungen, mit ihren Dichtern und Prosaschriftstellern
bekannt. Aber die Griechen mochten fühlen, daß sie das ihnen vor allem am
Herzen liegende schöne Gleichgewicht zwischen körperlicher und geistiger Aus¬
bildung, zwischen musikalischen und wissenschaftlichem Unterricht kaum noch
würden bewahren können, wenn sie den wissenschaftlichen Teil ihrer Jugend¬
erziehung um das zeitraubende Studium einer fremden Sprache und Litte¬
ratur vermehrten. So folgten sie auch in diesem Punkte dem Grundsatze, den
Lukian dem Athener Solon in den Mund legt: „Fremdes mögen wir nicht



Ich entsinne mich noch, wie ich damals als dreizehnjähriger Knabe mit meinem Vater
in Leipzig „ach dem Festzug auf dem Augustusplatze einem wackern graubärtigen Handwerks-
'meister zuhörte, der voll Begeisterung der ihn umstehenden Menge beteuerte, daß er sämtliche
Gedichte Schillers auswendig könne, und der wirklich gleich einem alten Rhapsoden Gedicht
"»! Gedicht hersagte. ^ -
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[0235] Knabenerziehunz und Knabenunterricht im alten Hellas Unterricht der hellenischen Jugend sein einheitliches und vor allem sein echt nationales Gepräge. Wollten wir Deutschen ähnliches haben, so müßten wir etwa Schiller in gleicher Weise in den Mittelpunkt alles, Unterrichts rücken, was natürlich jetzt unmöglicher ist als je. Wäre die Bcgeistenmg für Schiller, die 1859 in den Schillerfesten zum Ausdruck kam, in gleichem Maße wie bis dahin weiter gewachsen, so Hütten wir an Schiller vielleicht einen Dichter von ähnlicher Stellung und Bedeutung erhalten können.^) Am meisten auffallen würde es uns Wohl, wenn wir unsre Stundenpläne mit einem athenischen vergleichen könnten, daß aus dem athenischen fremde Sprachen vollständig fehlen würden. Daß dies für die Zeit der nationalen Selbständigkeit der Hellenen eigentlich selbstverständlich ist, leuchtet ohne weiteres ein; oder hätten die jungen Athener etwa Persisch, Phönikisch oder Ägyptisch lernen sollen, Sprachen ohne litterarische Bedeutung und für Ausländer fast unzugänglich? Als aber die Römer Herren aller Länder geworden waren, wo die griechische Zunge klang, als sich jeder Grieche, der die Militär- oder Beamtenlaufbahn einschlug, die Kenntnis des Lateins erwerben mußte, als das Latein selbst eine litterarische Sprache ersten Ranges geworden war und lateinische Dichter und Prosaiker ihre zeitgenössischen hellenischen Kollegen teils eingeholt hatten, teils überflügelten, hätte es da den Griechen nicht nahe gelegen, in ihre Schulen das Latein in ähnlicher Weise einzuführen, wie die Römer seit dem ersten Jahrhundert vor Christus das Griechische zu einem Hauptgegen¬ stand ihres Schulunterrichts gemacht hatten? Es geschah das aber nicht; höchstens Sklaven scheint man, natürlich zu rein praktischen Zwecken, im Latein unter¬ richtet zu haben, etwa wie sie in der von Aristoteles erwähnten Sklavenschule in Shrcikus im Kochen und ähnlichen von Sklaven betriebnen Gewerben Unterricht erhielten. Und dabei bewunderte man in Hellas Leute, die fremde Sprachen redeten und verstanden, war in gebildeten Kreisen keineswegs blind gegen ge¬ wisse Vorzüge und Schönheiten der lateinischen Sprache und machte sich, wenn auch vielleicht aus Übersetzungen, mit ihren Dichtern und Prosaschriftstellern bekannt. Aber die Griechen mochten fühlen, daß sie das ihnen vor allem am Herzen liegende schöne Gleichgewicht zwischen körperlicher und geistiger Aus¬ bildung, zwischen musikalischen und wissenschaftlichem Unterricht kaum noch würden bewahren können, wenn sie den wissenschaftlichen Teil ihrer Jugend¬ erziehung um das zeitraubende Studium einer fremden Sprache und Litte¬ ratur vermehrten. So folgten sie auch in diesem Punkte dem Grundsatze, den Lukian dem Athener Solon in den Mund legt: „Fremdes mögen wir nicht Ich entsinne mich noch, wie ich damals als dreizehnjähriger Knabe mit meinem Vater in Leipzig „ach dem Festzug auf dem Augustusplatze einem wackern graubärtigen Handwerks- 'meister zuhörte, der voll Begeisterung der ihn umstehenden Menge beteuerte, daß er sämtliche Gedichte Schillers auswendig könne, und der wirklich gleich einem alten Rhapsoden Gedicht "»! Gedicht hersagte. ^ -

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/235>, abgerufen am 30.08.2024.