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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Anabenerzielwng und Knabenunterricht im alten Hellas

Trank der Weinstock Wasser, das der fleißge Herr ihm gab,
Giebt er reinen Wein dafür ihm, stattet zweifach Dank ihm ab:
Drum sei rege, ja nicht träge!

Unter einem andern Diktat steht noch die Zensur des Lehrers: fleißig ("x^o-
?r"^s). Bei der Beschränkung dieses Unterrichts auf das Notwendigste legte
man auf Schönschreiben und Schnellschreiben nur wenig Wert.

So wurde also gleich der Elementarunterricht zu einer Art Kursus in
der nationalen Litteratur; man übte dabei sehr bald sprachliche und sachliche
Erklärung an den bedeutendsten und volkstümlichsten Dichtungen, wie es z. B.
in Platos Protagoras an einem Gedichte des Simonides geschieht. Zugleich
aber lieferten die besonders im Epos und in der Tragödie zahlreich vorkom¬
menden mythologischen, geschichtlichen und geographischen Beziehungen dem
Lehrer den Stoff, um den Knaben so viel geschichtliches und geographisches
Wissen beizubringen, als davon für die Jugend erforderlich schien. Das
war nun freilich nicht viel. Von einer Weltgeschichte konnte erst in rö¬
mischer Zeit die Rede sein; auch vergrößerte sich erst damals einigermaßen
das Gebiet des erforschten Teils der Erde. Landkarten von Griechenland
gab es zwar schon zu Sokrates und Aristophanes Zeit, und Anspielungen
auf ihren Inhalt verstand das Publikum im Theater. Auch eine leidliche
Kenntnis der frühern athenischen Geschichte wird von Demosthenes und andern
Rednern offenbar bei ihren Zuhörern vorausgesetzt. Wir wissen aber nicht,
wie viel von alledem auf Rechnung des Schulunterrichts zu setzen ist, oder
wie viel auf Rechnung eignen Lesens, auf Rechnung von Reisen und
Feldzügen, auf Rechnung des Anschauens öffentlicher Denkmäler und In¬
schriften, des persönlichen Verkehrs mit gereisten und unterrichteten Männern,
endlich auf Rechnung populärer Vorträge, wie solche z. V. Hippias sogar in
Sparta über Archäologie und Geschichte gehalten hat. Mit der Mythologie
und den zahlreichen Stamm- und Volkssagen dagegen wurden die athenischen
Knaben infolge der Tragödienaufführungen, denen sie regelmüßig beiwohnten,
so bekannt, daß sie, wenigstens im vierten und dritten Jahrhundert v. Chr.,
sofort aus dem Namen des Helden den ganzen Inhalt des Stücks vorher¬
zusagen wußten. Zumal des Euripides Stücke erfreuten sich ihrer Gunst; ihn
lernten sie auswendig, sodaß sie später als Kriegsgefangne in Sizilien ihr
Los dadurch freundlicher gestalteten, daß sie ihre Mischen Herren mit dem
Dichter bekannt machten. Die philosophischen Kenntnisse endlich, die selbst
jüngere Knaben aus wohlhabenden Familien, wie z. B. der junge Lysis, ver¬
raten, dem sogar der dunkle Heraklit nicht fremd zu sein scheint, mochten wohl
meist aus Büchern stammen. Auch dem jungen Sokrates hat es trotz seiner
Armut nicht an Büchern gemangelt.

Dagegen Hütte ein besondrer Fachunterricht in all den zahlreichen Disziplinen
unsrer heutigen Stundenpläne wider den Grundsatz verstoßen, an dem die Hel-


Grenzboten II 1895 29
Anabenerzielwng und Knabenunterricht im alten Hellas

Trank der Weinstock Wasser, das der fleißge Herr ihm gab,
Giebt er reinen Wein dafür ihm, stattet zweifach Dank ihm ab:
Drum sei rege, ja nicht träge!

Unter einem andern Diktat steht noch die Zensur des Lehrers: fleißig («x^o-
?r«^s). Bei der Beschränkung dieses Unterrichts auf das Notwendigste legte
man auf Schönschreiben und Schnellschreiben nur wenig Wert.

So wurde also gleich der Elementarunterricht zu einer Art Kursus in
der nationalen Litteratur; man übte dabei sehr bald sprachliche und sachliche
Erklärung an den bedeutendsten und volkstümlichsten Dichtungen, wie es z. B.
in Platos Protagoras an einem Gedichte des Simonides geschieht. Zugleich
aber lieferten die besonders im Epos und in der Tragödie zahlreich vorkom¬
menden mythologischen, geschichtlichen und geographischen Beziehungen dem
Lehrer den Stoff, um den Knaben so viel geschichtliches und geographisches
Wissen beizubringen, als davon für die Jugend erforderlich schien. Das
war nun freilich nicht viel. Von einer Weltgeschichte konnte erst in rö¬
mischer Zeit die Rede sein; auch vergrößerte sich erst damals einigermaßen
das Gebiet des erforschten Teils der Erde. Landkarten von Griechenland
gab es zwar schon zu Sokrates und Aristophanes Zeit, und Anspielungen
auf ihren Inhalt verstand das Publikum im Theater. Auch eine leidliche
Kenntnis der frühern athenischen Geschichte wird von Demosthenes und andern
Rednern offenbar bei ihren Zuhörern vorausgesetzt. Wir wissen aber nicht,
wie viel von alledem auf Rechnung des Schulunterrichts zu setzen ist, oder
wie viel auf Rechnung eignen Lesens, auf Rechnung von Reisen und
Feldzügen, auf Rechnung des Anschauens öffentlicher Denkmäler und In¬
schriften, des persönlichen Verkehrs mit gereisten und unterrichteten Männern,
endlich auf Rechnung populärer Vorträge, wie solche z. V. Hippias sogar in
Sparta über Archäologie und Geschichte gehalten hat. Mit der Mythologie
und den zahlreichen Stamm- und Volkssagen dagegen wurden die athenischen
Knaben infolge der Tragödienaufführungen, denen sie regelmüßig beiwohnten,
so bekannt, daß sie, wenigstens im vierten und dritten Jahrhundert v. Chr.,
sofort aus dem Namen des Helden den ganzen Inhalt des Stücks vorher¬
zusagen wußten. Zumal des Euripides Stücke erfreuten sich ihrer Gunst; ihn
lernten sie auswendig, sodaß sie später als Kriegsgefangne in Sizilien ihr
Los dadurch freundlicher gestalteten, daß sie ihre Mischen Herren mit dem
Dichter bekannt machten. Die philosophischen Kenntnisse endlich, die selbst
jüngere Knaben aus wohlhabenden Familien, wie z. B. der junge Lysis, ver¬
raten, dem sogar der dunkle Heraklit nicht fremd zu sein scheint, mochten wohl
meist aus Büchern stammen. Auch dem jungen Sokrates hat es trotz seiner
Armut nicht an Büchern gemangelt.

Dagegen Hütte ein besondrer Fachunterricht in all den zahlreichen Disziplinen
unsrer heutigen Stundenpläne wider den Grundsatz verstoßen, an dem die Hel-


Grenzboten II 1895 29
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[0233] Anabenerzielwng und Knabenunterricht im alten Hellas Trank der Weinstock Wasser, das der fleißge Herr ihm gab, Giebt er reinen Wein dafür ihm, stattet zweifach Dank ihm ab: Drum sei rege, ja nicht träge! Unter einem andern Diktat steht noch die Zensur des Lehrers: fleißig («x^o- ?r«^s). Bei der Beschränkung dieses Unterrichts auf das Notwendigste legte man auf Schönschreiben und Schnellschreiben nur wenig Wert. So wurde also gleich der Elementarunterricht zu einer Art Kursus in der nationalen Litteratur; man übte dabei sehr bald sprachliche und sachliche Erklärung an den bedeutendsten und volkstümlichsten Dichtungen, wie es z. B. in Platos Protagoras an einem Gedichte des Simonides geschieht. Zugleich aber lieferten die besonders im Epos und in der Tragödie zahlreich vorkom¬ menden mythologischen, geschichtlichen und geographischen Beziehungen dem Lehrer den Stoff, um den Knaben so viel geschichtliches und geographisches Wissen beizubringen, als davon für die Jugend erforderlich schien. Das war nun freilich nicht viel. Von einer Weltgeschichte konnte erst in rö¬ mischer Zeit die Rede sein; auch vergrößerte sich erst damals einigermaßen das Gebiet des erforschten Teils der Erde. Landkarten von Griechenland gab es zwar schon zu Sokrates und Aristophanes Zeit, und Anspielungen auf ihren Inhalt verstand das Publikum im Theater. Auch eine leidliche Kenntnis der frühern athenischen Geschichte wird von Demosthenes und andern Rednern offenbar bei ihren Zuhörern vorausgesetzt. Wir wissen aber nicht, wie viel von alledem auf Rechnung des Schulunterrichts zu setzen ist, oder wie viel auf Rechnung eignen Lesens, auf Rechnung von Reisen und Feldzügen, auf Rechnung des Anschauens öffentlicher Denkmäler und In¬ schriften, des persönlichen Verkehrs mit gereisten und unterrichteten Männern, endlich auf Rechnung populärer Vorträge, wie solche z. V. Hippias sogar in Sparta über Archäologie und Geschichte gehalten hat. Mit der Mythologie und den zahlreichen Stamm- und Volkssagen dagegen wurden die athenischen Knaben infolge der Tragödienaufführungen, denen sie regelmüßig beiwohnten, so bekannt, daß sie, wenigstens im vierten und dritten Jahrhundert v. Chr., sofort aus dem Namen des Helden den ganzen Inhalt des Stücks vorher¬ zusagen wußten. Zumal des Euripides Stücke erfreuten sich ihrer Gunst; ihn lernten sie auswendig, sodaß sie später als Kriegsgefangne in Sizilien ihr Los dadurch freundlicher gestalteten, daß sie ihre Mischen Herren mit dem Dichter bekannt machten. Die philosophischen Kenntnisse endlich, die selbst jüngere Knaben aus wohlhabenden Familien, wie z. B. der junge Lysis, ver¬ raten, dem sogar der dunkle Heraklit nicht fremd zu sein scheint, mochten wohl meist aus Büchern stammen. Auch dem jungen Sokrates hat es trotz seiner Armut nicht an Büchern gemangelt. Dagegen Hütte ein besondrer Fachunterricht in all den zahlreichen Disziplinen unsrer heutigen Stundenpläne wider den Grundsatz verstoßen, an dem die Hel- Grenzboten II 1895 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/233>, abgerufen am 22.12.2024.