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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Der geistige Gehalt in der Malerei

aber auch bei jedem Geistesakt der Phantasie, der angesichts der Natur zu
einem Bilde drängt, der Fall sein. Ist nnr die Phantasie des Künstlers
lebendig genug, reichlich genug getränkt mit sinnlicher Weltciuffassung, so wird
auch ein historisches Bild, bei dem besonders die Kraft zur Wiedergabe und
Verbindung sinnlicher Anschauung in Betracht kommt, die volle Harmonie des
Sinnenscheins erreichen können.

Neuerdings wird freilich selbst über die großen Meister der Vergangenheit
behauptet, daß sie eigentlich nicht von dem betreffenden Vorwurf bewegt ge¬
malt hätten, sondern nur um des malerischen Sinnenscheins willen. Biblische
Geschichten z. B. hätten sie dargestellt, weil sie dabei das Nackte ungehindert
zeigen oder etwa eine farbenglühende Landschaft hätten anbringen können.
Aber selbst wenn es richtig wäre, daß sie bei der Wahl des Stoffs jenes Inder
esse geleitet hätte, so fragt sich doch noch, ob nicht bei der Darstellung selbst
notwendig der geistige Gehalt zu seinem Rechte kommen mußte. Wie konnte
jemand einen Abraham malen oder selbst einen Adam, ohne daß sich auf
das Gesicht seine Phantasie geworfen und es mit sprechenden Charakter auszu¬
statten sich angespannt Hütte? Und bloß auf das Gesicht? Mußte denn nicht
auch die Gestalt, die Bewegung, die Handlung, die ganze Komposition mit
dem Charakter in Einklang gebracht werden?

Und steht es etwa anders bei den großen Künstlern der Gegenwart?
Wird ein Böcklin nicht eben an diesem Punkte der freien Stoffwahl seiner
eignen Gefolgschaft abtrünnig? Ist bei der Wirkung der Bilder Robert Hangs
aus der Zeit der Befreiungskriege nicht gerade das wesentlich, daß seine Ge¬
stalten so trefflich im Geist und Charakter jener Zeit erdacht sind?

Freilich, der geistige Gehalt und die sinnliche Darstellung müssen ohne
Rest in einander aufgehen; das ist eine in der Kunst sich stets neu bezeugende
Wahrheit, aber auch eine solche, die wir längst wissen. In diesem Sinne
pflegte man die erzählende Manier eines Bonifazio Venezicmo tadelnd hervor¬
zuheben, Tizian aber entging diesem Vorwurf, obwohl er dieselben Gegen¬
stände darstellte, denn er verlor die räumliche Schönheit über der Aufzählung
der einzelnen geschichtlichen Umstände nie aus den Augen.

Einem großen Historienmaler füllt es nicht ein, wie ein Kalenderschreiber
erzählen zu wollen, sondern die völlige Einheit seiner sinnlichen und seiner
geistigen Anschauung ist der künstlerische Stern, der seinem Schaffen leuchtet.
Und die "Modernen" könnten manchen großen Meister der Neuzeit nicht so
übermütig abthun, wenn sie nicht durch die Voraussetzung voreingenommen
wären, er habe die uukünstlerische Absicht gehabt, zu erzählen. Wiederum
schiebt man der konservativen Kunstrichtung einen allbekannten Schulschnitzer
unter, um sie darauf in Bausch und Bogen zu verwerfen, und wiederum
bauscht man die Auffrischung einer pädagoischen Lehre zu einem neuen Prinzip
auf, das dann freilich wie eine Seifenblase zerplatzt. Hier ist Volkes Stimme


Der geistige Gehalt in der Malerei

aber auch bei jedem Geistesakt der Phantasie, der angesichts der Natur zu
einem Bilde drängt, der Fall sein. Ist nnr die Phantasie des Künstlers
lebendig genug, reichlich genug getränkt mit sinnlicher Weltciuffassung, so wird
auch ein historisches Bild, bei dem besonders die Kraft zur Wiedergabe und
Verbindung sinnlicher Anschauung in Betracht kommt, die volle Harmonie des
Sinnenscheins erreichen können.

Neuerdings wird freilich selbst über die großen Meister der Vergangenheit
behauptet, daß sie eigentlich nicht von dem betreffenden Vorwurf bewegt ge¬
malt hätten, sondern nur um des malerischen Sinnenscheins willen. Biblische
Geschichten z. B. hätten sie dargestellt, weil sie dabei das Nackte ungehindert
zeigen oder etwa eine farbenglühende Landschaft hätten anbringen können.
Aber selbst wenn es richtig wäre, daß sie bei der Wahl des Stoffs jenes Inder
esse geleitet hätte, so fragt sich doch noch, ob nicht bei der Darstellung selbst
notwendig der geistige Gehalt zu seinem Rechte kommen mußte. Wie konnte
jemand einen Abraham malen oder selbst einen Adam, ohne daß sich auf
das Gesicht seine Phantasie geworfen und es mit sprechenden Charakter auszu¬
statten sich angespannt Hütte? Und bloß auf das Gesicht? Mußte denn nicht
auch die Gestalt, die Bewegung, die Handlung, die ganze Komposition mit
dem Charakter in Einklang gebracht werden?

Und steht es etwa anders bei den großen Künstlern der Gegenwart?
Wird ein Böcklin nicht eben an diesem Punkte der freien Stoffwahl seiner
eignen Gefolgschaft abtrünnig? Ist bei der Wirkung der Bilder Robert Hangs
aus der Zeit der Befreiungskriege nicht gerade das wesentlich, daß seine Ge¬
stalten so trefflich im Geist und Charakter jener Zeit erdacht sind?

Freilich, der geistige Gehalt und die sinnliche Darstellung müssen ohne
Rest in einander aufgehen; das ist eine in der Kunst sich stets neu bezeugende
Wahrheit, aber auch eine solche, die wir längst wissen. In diesem Sinne
pflegte man die erzählende Manier eines Bonifazio Venezicmo tadelnd hervor¬
zuheben, Tizian aber entging diesem Vorwurf, obwohl er dieselben Gegen¬
stände darstellte, denn er verlor die räumliche Schönheit über der Aufzählung
der einzelnen geschichtlichen Umstände nie aus den Augen.

Einem großen Historienmaler füllt es nicht ein, wie ein Kalenderschreiber
erzählen zu wollen, sondern die völlige Einheit seiner sinnlichen und seiner
geistigen Anschauung ist der künstlerische Stern, der seinem Schaffen leuchtet.
Und die „Modernen" könnten manchen großen Meister der Neuzeit nicht so
übermütig abthun, wenn sie nicht durch die Voraussetzung voreingenommen
wären, er habe die uukünstlerische Absicht gehabt, zu erzählen. Wiederum
schiebt man der konservativen Kunstrichtung einen allbekannten Schulschnitzer
unter, um sie darauf in Bausch und Bogen zu verwerfen, und wiederum
bauscht man die Auffrischung einer pädagoischen Lehre zu einem neuen Prinzip
auf, das dann freilich wie eine Seifenblase zerplatzt. Hier ist Volkes Stimme


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[0144] Der geistige Gehalt in der Malerei aber auch bei jedem Geistesakt der Phantasie, der angesichts der Natur zu einem Bilde drängt, der Fall sein. Ist nnr die Phantasie des Künstlers lebendig genug, reichlich genug getränkt mit sinnlicher Weltciuffassung, so wird auch ein historisches Bild, bei dem besonders die Kraft zur Wiedergabe und Verbindung sinnlicher Anschauung in Betracht kommt, die volle Harmonie des Sinnenscheins erreichen können. Neuerdings wird freilich selbst über die großen Meister der Vergangenheit behauptet, daß sie eigentlich nicht von dem betreffenden Vorwurf bewegt ge¬ malt hätten, sondern nur um des malerischen Sinnenscheins willen. Biblische Geschichten z. B. hätten sie dargestellt, weil sie dabei das Nackte ungehindert zeigen oder etwa eine farbenglühende Landschaft hätten anbringen können. Aber selbst wenn es richtig wäre, daß sie bei der Wahl des Stoffs jenes Inder esse geleitet hätte, so fragt sich doch noch, ob nicht bei der Darstellung selbst notwendig der geistige Gehalt zu seinem Rechte kommen mußte. Wie konnte jemand einen Abraham malen oder selbst einen Adam, ohne daß sich auf das Gesicht seine Phantasie geworfen und es mit sprechenden Charakter auszu¬ statten sich angespannt Hütte? Und bloß auf das Gesicht? Mußte denn nicht auch die Gestalt, die Bewegung, die Handlung, die ganze Komposition mit dem Charakter in Einklang gebracht werden? Und steht es etwa anders bei den großen Künstlern der Gegenwart? Wird ein Böcklin nicht eben an diesem Punkte der freien Stoffwahl seiner eignen Gefolgschaft abtrünnig? Ist bei der Wirkung der Bilder Robert Hangs aus der Zeit der Befreiungskriege nicht gerade das wesentlich, daß seine Ge¬ stalten so trefflich im Geist und Charakter jener Zeit erdacht sind? Freilich, der geistige Gehalt und die sinnliche Darstellung müssen ohne Rest in einander aufgehen; das ist eine in der Kunst sich stets neu bezeugende Wahrheit, aber auch eine solche, die wir längst wissen. In diesem Sinne pflegte man die erzählende Manier eines Bonifazio Venezicmo tadelnd hervor¬ zuheben, Tizian aber entging diesem Vorwurf, obwohl er dieselben Gegen¬ stände darstellte, denn er verlor die räumliche Schönheit über der Aufzählung der einzelnen geschichtlichen Umstände nie aus den Augen. Einem großen Historienmaler füllt es nicht ein, wie ein Kalenderschreiber erzählen zu wollen, sondern die völlige Einheit seiner sinnlichen und seiner geistigen Anschauung ist der künstlerische Stern, der seinem Schaffen leuchtet. Und die „Modernen" könnten manchen großen Meister der Neuzeit nicht so übermütig abthun, wenn sie nicht durch die Voraussetzung voreingenommen wären, er habe die uukünstlerische Absicht gehabt, zu erzählen. Wiederum schiebt man der konservativen Kunstrichtung einen allbekannten Schulschnitzer unter, um sie darauf in Bausch und Bogen zu verwerfen, und wiederum bauscht man die Auffrischung einer pädagoischen Lehre zu einem neuen Prinzip auf, das dann freilich wie eine Seifenblase zerplatzt. Hier ist Volkes Stimme

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/144>, abgerufen am 24.08.2024.