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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Behandlung des Verbrechers

Wir leben leider in einer Zeit, in der sich jeder scheut, dem andern in seine
Kreise zu treten. Man wagt es nicht mehr, einen nichtsnutzigen Bengel, der
sich auf der Straße lümmelhaft benimmt, am Ohr zu nehmen und schnell
Justiz zu üben. Warum? Erstens, weil es unbequem ist, und zweitens, weil
man möglicherweise die staatliche Maschinerie gegen sich selbst in Bewegung
bringt. Wir sind so von Gesetzesparagrapheu eingeschnürt, daß wir uns eigne
Schritte kaum noch zutrauen. Mich freut es aber jedesmal, wenn ich lese,
daß irgendwo jemand gezeigt hat: Der Staat bin ich, so z.B., wenn ein Fleischer-
meister einen Wurstdieb über denselben Ladentisch zieht, von dem er die Wurst
gestohlen hat, und ihm durch etliche Hiebe die Lehre einschärft: Du sollst nicht
stehlen. Läßt er ihn dann laufen, ohne ihn weiter unglücklich zu machen, so
hat er sicherlich milder und wahrscheinlich auch zweckmüßiger gehandelt, als
wenn er ihn, ohne ihm selbst ein Haar zu krümmen, dem Staate zur Be¬
strafung übergeben hätte.

Das beste zur Behandlung des Verbrechers und zur Bekümpfuug des
Verbrechens muß die Gesellschaft thun, d. h. die Gemeinde, die Schule, die
Kirche, die Familie. Sie müssen sich selbst zu helfen suchen und nicht bei
jeder Gelegenheit den Staat zu Hilfe rufen, der dann mit seiner eisernen Hand
fester zuschlägt, als nötig wäre. Man muß immer neue Wege zum Herzen
des andern suchen und manchmal auch ein kräftiges Wort wagen. Mancher
würde nicht gesunken sein, wenn sich zur rechten Zeit jemand um ihn bekümmert
hätte. Aber freilich, man muß ja heutzutage vorsichtig sein, der Geistliche
darf keinem Trunkenbolde kräftig ins Gewissen reden, und der einfache Staats¬
bürger erst recht nicht. Und da arbeitet die Gesetzesmaschine immer rastlos
fort, ohne daß die Mehrzahl der Volksgenossen weiß, was Recht und was
Unrecht ist! Der liebe Staat soll eben alles machen, er ist der Gott des
modernen Erdenbürgers, der alles thun, aber auch alles verantworten soll.
Der Staat, der auf Zwang beruht, kann aber uur mit seinen Mitteln so weit
reichen, als man überhaupt mit Zwang kommen kann. Wo er religiöse
Gesinnung und sittliches Leben zwangsweise vermitteln will, da zerstört er
-- um das schöne und treffende Wort von C. Jeutsch zu gebrauchen -- bloß
die Heiterkeit und Anmut, die Sicherheit und die Poesie des Lebeus. Inner¬
liche Besserung, Reinigung und Erhebung anzustreben, ist Sache der Kirche,
der Kunst und der Wissenschaft, der Familie, der Korporationen. Besser als
durch alle Strafandrohungen wird jedenfalls die Rechtsordnung dadurch ge¬
sichert, daß ein guter und gesunder Geist durch die Gesellschaft geht. Solch ein
guter und gesunder Geist ist auch heute uoch möglich, wenn Gemeinde, Kirche,
Schule und Familie ihre Pflicht thun, und dabei soll sie der Staat unterstützen,
denn wenn er auch nicht selbst religiöses und sittliches Leben wirkt, so hat er
doch ein hohes Interesse daran, daß die Bürger des Landes nicht bloß aus
Furcht, sondern aus Pflichtgefühl handeln. Diese Unterstützung übt er aber


Grsnzlwteu II 18S5 16
Die Behandlung des Verbrechers

Wir leben leider in einer Zeit, in der sich jeder scheut, dem andern in seine
Kreise zu treten. Man wagt es nicht mehr, einen nichtsnutzigen Bengel, der
sich auf der Straße lümmelhaft benimmt, am Ohr zu nehmen und schnell
Justiz zu üben. Warum? Erstens, weil es unbequem ist, und zweitens, weil
man möglicherweise die staatliche Maschinerie gegen sich selbst in Bewegung
bringt. Wir sind so von Gesetzesparagrapheu eingeschnürt, daß wir uns eigne
Schritte kaum noch zutrauen. Mich freut es aber jedesmal, wenn ich lese,
daß irgendwo jemand gezeigt hat: Der Staat bin ich, so z.B., wenn ein Fleischer-
meister einen Wurstdieb über denselben Ladentisch zieht, von dem er die Wurst
gestohlen hat, und ihm durch etliche Hiebe die Lehre einschärft: Du sollst nicht
stehlen. Läßt er ihn dann laufen, ohne ihn weiter unglücklich zu machen, so
hat er sicherlich milder und wahrscheinlich auch zweckmüßiger gehandelt, als
wenn er ihn, ohne ihm selbst ein Haar zu krümmen, dem Staate zur Be¬
strafung übergeben hätte.

Das beste zur Behandlung des Verbrechers und zur Bekümpfuug des
Verbrechens muß die Gesellschaft thun, d. h. die Gemeinde, die Schule, die
Kirche, die Familie. Sie müssen sich selbst zu helfen suchen und nicht bei
jeder Gelegenheit den Staat zu Hilfe rufen, der dann mit seiner eisernen Hand
fester zuschlägt, als nötig wäre. Man muß immer neue Wege zum Herzen
des andern suchen und manchmal auch ein kräftiges Wort wagen. Mancher
würde nicht gesunken sein, wenn sich zur rechten Zeit jemand um ihn bekümmert
hätte. Aber freilich, man muß ja heutzutage vorsichtig sein, der Geistliche
darf keinem Trunkenbolde kräftig ins Gewissen reden, und der einfache Staats¬
bürger erst recht nicht. Und da arbeitet die Gesetzesmaschine immer rastlos
fort, ohne daß die Mehrzahl der Volksgenossen weiß, was Recht und was
Unrecht ist! Der liebe Staat soll eben alles machen, er ist der Gott des
modernen Erdenbürgers, der alles thun, aber auch alles verantworten soll.
Der Staat, der auf Zwang beruht, kann aber uur mit seinen Mitteln so weit
reichen, als man überhaupt mit Zwang kommen kann. Wo er religiöse
Gesinnung und sittliches Leben zwangsweise vermitteln will, da zerstört er
— um das schöne und treffende Wort von C. Jeutsch zu gebrauchen — bloß
die Heiterkeit und Anmut, die Sicherheit und die Poesie des Lebeus. Inner¬
liche Besserung, Reinigung und Erhebung anzustreben, ist Sache der Kirche,
der Kunst und der Wissenschaft, der Familie, der Korporationen. Besser als
durch alle Strafandrohungen wird jedenfalls die Rechtsordnung dadurch ge¬
sichert, daß ein guter und gesunder Geist durch die Gesellschaft geht. Solch ein
guter und gesunder Geist ist auch heute uoch möglich, wenn Gemeinde, Kirche,
Schule und Familie ihre Pflicht thun, und dabei soll sie der Staat unterstützen,
denn wenn er auch nicht selbst religiöses und sittliches Leben wirkt, so hat er
doch ein hohes Interesse daran, daß die Bürger des Landes nicht bloß aus
Furcht, sondern aus Pflichtgefühl handeln. Diese Unterstützung übt er aber


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[0129] Die Behandlung des Verbrechers Wir leben leider in einer Zeit, in der sich jeder scheut, dem andern in seine Kreise zu treten. Man wagt es nicht mehr, einen nichtsnutzigen Bengel, der sich auf der Straße lümmelhaft benimmt, am Ohr zu nehmen und schnell Justiz zu üben. Warum? Erstens, weil es unbequem ist, und zweitens, weil man möglicherweise die staatliche Maschinerie gegen sich selbst in Bewegung bringt. Wir sind so von Gesetzesparagrapheu eingeschnürt, daß wir uns eigne Schritte kaum noch zutrauen. Mich freut es aber jedesmal, wenn ich lese, daß irgendwo jemand gezeigt hat: Der Staat bin ich, so z.B., wenn ein Fleischer- meister einen Wurstdieb über denselben Ladentisch zieht, von dem er die Wurst gestohlen hat, und ihm durch etliche Hiebe die Lehre einschärft: Du sollst nicht stehlen. Läßt er ihn dann laufen, ohne ihn weiter unglücklich zu machen, so hat er sicherlich milder und wahrscheinlich auch zweckmüßiger gehandelt, als wenn er ihn, ohne ihm selbst ein Haar zu krümmen, dem Staate zur Be¬ strafung übergeben hätte. Das beste zur Behandlung des Verbrechers und zur Bekümpfuug des Verbrechens muß die Gesellschaft thun, d. h. die Gemeinde, die Schule, die Kirche, die Familie. Sie müssen sich selbst zu helfen suchen und nicht bei jeder Gelegenheit den Staat zu Hilfe rufen, der dann mit seiner eisernen Hand fester zuschlägt, als nötig wäre. Man muß immer neue Wege zum Herzen des andern suchen und manchmal auch ein kräftiges Wort wagen. Mancher würde nicht gesunken sein, wenn sich zur rechten Zeit jemand um ihn bekümmert hätte. Aber freilich, man muß ja heutzutage vorsichtig sein, der Geistliche darf keinem Trunkenbolde kräftig ins Gewissen reden, und der einfache Staats¬ bürger erst recht nicht. Und da arbeitet die Gesetzesmaschine immer rastlos fort, ohne daß die Mehrzahl der Volksgenossen weiß, was Recht und was Unrecht ist! Der liebe Staat soll eben alles machen, er ist der Gott des modernen Erdenbürgers, der alles thun, aber auch alles verantworten soll. Der Staat, der auf Zwang beruht, kann aber uur mit seinen Mitteln so weit reichen, als man überhaupt mit Zwang kommen kann. Wo er religiöse Gesinnung und sittliches Leben zwangsweise vermitteln will, da zerstört er — um das schöne und treffende Wort von C. Jeutsch zu gebrauchen — bloß die Heiterkeit und Anmut, die Sicherheit und die Poesie des Lebeus. Inner¬ liche Besserung, Reinigung und Erhebung anzustreben, ist Sache der Kirche, der Kunst und der Wissenschaft, der Familie, der Korporationen. Besser als durch alle Strafandrohungen wird jedenfalls die Rechtsordnung dadurch ge¬ sichert, daß ein guter und gesunder Geist durch die Gesellschaft geht. Solch ein guter und gesunder Geist ist auch heute uoch möglich, wenn Gemeinde, Kirche, Schule und Familie ihre Pflicht thun, und dabei soll sie der Staat unterstützen, denn wenn er auch nicht selbst religiöses und sittliches Leben wirkt, so hat er doch ein hohes Interesse daran, daß die Bürger des Landes nicht bloß aus Furcht, sondern aus Pflichtgefühl handeln. Diese Unterstützung übt er aber Grsnzlwteu II 18S5 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/129>, abgerufen am 25.08.2024.