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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Sparsamkeit und Selbsthilfe

aber was sollte aus dem Volke werden, das das Seiltänzer als eine wichtige,
notwendige Beschäftigung ansahe?

Überlegt man sich den Zweck einer volkswirtschaftlichen Ordnung, dann
muß man, auch ohne jahrelang Nationalökonomie wissenschaftlich getrieben zu
haben, erkennen, daß eine Ordnung zur Unordnung wird, sobald es schwerer
wird, Produkte an den Mann zu bringen, als sie zu erzengen. Der Zweck
aller Arbeit ist in erster Reihe, vorhandne Bedürfnisse zu befriedigen; hieran
sollen sich alle vorhandnen Menschenkräfte und die Naturkräfte, soweit sie sich der
Mensch dienstbar gemacht hat, beteiligen. Erst dann, wenn die vorhandnen Be¬
dürfnisse allerbefriedigt sind, erst dann sollte man neue hervorrufen dürfen, die
an und für sich zum Leben nicht unbedingt nötig sind. Wie es aber heute ge¬
trieben wird, wie sich der gescheitste (? D. N.) Mensch heute z. B. unter das
Joch der "Mode" treiben läßt, ist es für jeden Vernünftigen ein widerwärtiges
Verhältnis. Was irgendwo ein auf Beute gierig ausschauen der Schneider oder
Kaufmann ersinnt, das wird zum Gesetz erhoben, das hoch und niedrig zwingt,
ihm zu gehorchen. Welche Arbeitskraft durch eine einzige Puffärmelseuche
vergeudet und verschwendet wird, ist gar nicht abzuschätzen. Wie ein Kind
alles haben will, was es neues sieht, so bleibt der Mensch auch hierin sein
ganzes Leben lang Kind, wenn es gilt, andre nachzuahmen und sich neue Be¬
dürfnisse einzubilden. Einen kleinen Hang zur Verschwendung haben wir alle,
wenn wirs dazu haben.

Wissen wir das aber und sehen wir, daß wir es nötig haben, in wirt¬
schaftlichen Dingen bevormundet zu werden, und sehen wir, daß eine Vor¬
mundschaft, die sich auf praktische Lebenserfahrung stützt, unser bestes will, so
sollen wir sie annehmen. Wir fügen uns ja schon in so vielen Dingen, ohne
zu mucksen, weil wir wissen, daß es nicht anders geht. Wir kleben die Frei¬
marken in die rechte Ecke des Briefes, wir reisen genau um die Zeil, die die
Bahn bestimmt, wir schicken vom sechsten Jahre an unsre Kinder in die Schule,
wir lassen sie impfen; alles das thun wir, weil wir wissen und einsehen, daß
es vernünftig ist, wenn sich der Einzelne dem Ganzen eingliedert.

Man braucht durchaus nicht sentimental zu werden, man braucht sich und
andern durchaus nicht einzureden, daß es nur Menschenliebe, Bruderliebe sei,
die allein gesündere wirtschaftliche Verhältnisse schaffen könne. Man wird
und muß zuletzt einsehen, daß es ein schreiendes Unrecht ist, wenn für Thorheiten
unbesehen von Hoch und Niedrig Millionen ausgegeben werden, während der
wichtigste Beruf der Deutschen, die Laudwirtschcift, verkümmern und verkommen
muß, weil ihn die fleißigste Arbeit und die hellste Gottesgnadensvnne nicht
vor Kummer und Sorge" schützen kann. Wird wohl der Soldat mutig in die
Schlacht gehen, der schon vorher weiß, daß alle Tapferkeit nichts nützt, daß
er sein Ziel niemals erreichen kann? Wie kann man vom Bauern verlangen,
er solle sein Feld mit der Lust und der Liebe bestellen, die einzig und allein


Sparsamkeit und Selbsthilfe

aber was sollte aus dem Volke werden, das das Seiltänzer als eine wichtige,
notwendige Beschäftigung ansahe?

Überlegt man sich den Zweck einer volkswirtschaftlichen Ordnung, dann
muß man, auch ohne jahrelang Nationalökonomie wissenschaftlich getrieben zu
haben, erkennen, daß eine Ordnung zur Unordnung wird, sobald es schwerer
wird, Produkte an den Mann zu bringen, als sie zu erzengen. Der Zweck
aller Arbeit ist in erster Reihe, vorhandne Bedürfnisse zu befriedigen; hieran
sollen sich alle vorhandnen Menschenkräfte und die Naturkräfte, soweit sie sich der
Mensch dienstbar gemacht hat, beteiligen. Erst dann, wenn die vorhandnen Be¬
dürfnisse allerbefriedigt sind, erst dann sollte man neue hervorrufen dürfen, die
an und für sich zum Leben nicht unbedingt nötig sind. Wie es aber heute ge¬
trieben wird, wie sich der gescheitste (? D. N.) Mensch heute z. B. unter das
Joch der „Mode" treiben läßt, ist es für jeden Vernünftigen ein widerwärtiges
Verhältnis. Was irgendwo ein auf Beute gierig ausschauen der Schneider oder
Kaufmann ersinnt, das wird zum Gesetz erhoben, das hoch und niedrig zwingt,
ihm zu gehorchen. Welche Arbeitskraft durch eine einzige Puffärmelseuche
vergeudet und verschwendet wird, ist gar nicht abzuschätzen. Wie ein Kind
alles haben will, was es neues sieht, so bleibt der Mensch auch hierin sein
ganzes Leben lang Kind, wenn es gilt, andre nachzuahmen und sich neue Be¬
dürfnisse einzubilden. Einen kleinen Hang zur Verschwendung haben wir alle,
wenn wirs dazu haben.

Wissen wir das aber und sehen wir, daß wir es nötig haben, in wirt¬
schaftlichen Dingen bevormundet zu werden, und sehen wir, daß eine Vor¬
mundschaft, die sich auf praktische Lebenserfahrung stützt, unser bestes will, so
sollen wir sie annehmen. Wir fügen uns ja schon in so vielen Dingen, ohne
zu mucksen, weil wir wissen, daß es nicht anders geht. Wir kleben die Frei¬
marken in die rechte Ecke des Briefes, wir reisen genau um die Zeil, die die
Bahn bestimmt, wir schicken vom sechsten Jahre an unsre Kinder in die Schule,
wir lassen sie impfen; alles das thun wir, weil wir wissen und einsehen, daß
es vernünftig ist, wenn sich der Einzelne dem Ganzen eingliedert.

Man braucht durchaus nicht sentimental zu werden, man braucht sich und
andern durchaus nicht einzureden, daß es nur Menschenliebe, Bruderliebe sei,
die allein gesündere wirtschaftliche Verhältnisse schaffen könne. Man wird
und muß zuletzt einsehen, daß es ein schreiendes Unrecht ist, wenn für Thorheiten
unbesehen von Hoch und Niedrig Millionen ausgegeben werden, während der
wichtigste Beruf der Deutschen, die Laudwirtschcift, verkümmern und verkommen
muß, weil ihn die fleißigste Arbeit und die hellste Gottesgnadensvnne nicht
vor Kummer und Sorge» schützen kann. Wird wohl der Soldat mutig in die
Schlacht gehen, der schon vorher weiß, daß alle Tapferkeit nichts nützt, daß
er sein Ziel niemals erreichen kann? Wie kann man vom Bauern verlangen,
er solle sein Feld mit der Lust und der Liebe bestellen, die einzig und allein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/116>, abgerufen am 22.12.2024.