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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur

und mit den landwirtschaftlichen Verhältnissen vertrauter Verwaltuugsbeamter dem
Grafen Kcmitz beipflichtet, lassen uns aber auch durch seine Autorität nicht in unsrer
Auffassung irre macheu.) Aber gerade an der Agrarfrage zeigt es sich aufs
deutlichste, wie wenig es uns nützen könnte, wenn die Parteien durch die vor¬
geschlagne Reform in höherm Grade als jetzt den Volkswillen oder vielmehr den
Willen der von ihnen vertretenen Volksschichten zum Ausdruck brächten. Der
Antrag ist, wie Massow selbst bemerkt, vorm Jahre von der überwiegenden Mehr¬
heit des Reichstags entschieden abgelehnt worden. Diese Mehrheit entsprach aber
durchaus der Stimmung der Mehrheit des Volkes, und unter den Gegnern be¬
fanden sich so anerkannt tüchtige Landwirte und Kenner der Landwirtschaft wie
Schulz-Lupitz, Graf Hatzfeld, Freiherr von Schorlemer, Professor Freiherr von der
Goltz. Hätte also vorm Jahre das Volk selbst entschieden, so wäre der Antrag
Kanitz für immer begraben gewesen, was Herr von Massow für ein großes Unglück
halten würde. Wenn es nun mittlerweile der agrarischen Agitation gelungen sein
sollte (was noch lange nicht feststeht), die Mehrheit des Volkes davon zu über¬
zeugen, daß es sich vorm Jahre geirrt habe, und dieses Jahr deu Antrag an¬
nähme, welche Bürgschaft hätten wir dafür, daß die schnelle Bekehrung in einer
so wichtigen und schwierigen Sache nicht auf einem furchtbaren Irrtum beruhte?
Der Fehler unsrer Zeit, sagt Massow Seite 4V ganz richtig, "in allen Ländern
ist, daß die Nationen selbst nicht wissen, was sie wollen." Aber der Grund für
diese Erscheinung wird nicht ganz richtig angegeben. Er besteht darin, daß die
modernen Verhältnisse ungemein verwickelt, die Daseinsbedingungen der Völker daher
schwer zu ermitteln sind, und daß die Berufnen mit der Ermittlung keine Eile
haben, weil sie fürchten, daß ihnen die daraus folgenden Pflichten schwere Opfer
auferlegen könnten. Sehr hübsch ist auch die Bemerkung auf Seite 34: "Wären
unsre Verhältnisse normale ^normal!^, so müßte jeder Deutsche seinen Kanzler¬
kandidaten in xotto haben." Das heißt mit andern Worten: das englische Staats¬
leben ist normal, das preußische das Gegenteil.



Litteratur
Die Weltstellung des byzantinischen Reiches vor den Kreuzziigen. Von Dr. Karl
Neumann, Privatdozenten für Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg.
Leipzig, Duncker und Humblot, 1894

Die "Byzantinistik," eine Bezeichnung, die freilich zu sehr an Byzantinismus
erinnert, um schön zu sein, ist in unsrer Zeit eine Wissenschaft geworden. Sie
erfreut sich in Deutschland bereits eiuer Professur und einer eignen, sehr lebendigen
Zeitschrift. In der That ist ihr Gegenstand nicht so "tot," als er früher all¬
gemein erschien, "da die byzantinischen Studien in Deutschland noch eine wenig
beneidete Domäne der klassischen Philologie bildeten." Mit der äußern ästhetischen
Physiognomie seiner Mönchs- und Schulmeisterlitteratur, die freilich im allgemeinen
jenes Urteil verdient, ist Byzanz nicht erschöpft. Der große, glänzende Mittel¬
punkt der Kultur und Politik während eines Jahrtausends bietet Fäden nach allen


Litteratur

und mit den landwirtschaftlichen Verhältnissen vertrauter Verwaltuugsbeamter dem
Grafen Kcmitz beipflichtet, lassen uns aber auch durch seine Autorität nicht in unsrer
Auffassung irre macheu.) Aber gerade an der Agrarfrage zeigt es sich aufs
deutlichste, wie wenig es uns nützen könnte, wenn die Parteien durch die vor¬
geschlagne Reform in höherm Grade als jetzt den Volkswillen oder vielmehr den
Willen der von ihnen vertretenen Volksschichten zum Ausdruck brächten. Der
Antrag ist, wie Massow selbst bemerkt, vorm Jahre von der überwiegenden Mehr¬
heit des Reichstags entschieden abgelehnt worden. Diese Mehrheit entsprach aber
durchaus der Stimmung der Mehrheit des Volkes, und unter den Gegnern be¬
fanden sich so anerkannt tüchtige Landwirte und Kenner der Landwirtschaft wie
Schulz-Lupitz, Graf Hatzfeld, Freiherr von Schorlemer, Professor Freiherr von der
Goltz. Hätte also vorm Jahre das Volk selbst entschieden, so wäre der Antrag
Kanitz für immer begraben gewesen, was Herr von Massow für ein großes Unglück
halten würde. Wenn es nun mittlerweile der agrarischen Agitation gelungen sein
sollte (was noch lange nicht feststeht), die Mehrheit des Volkes davon zu über¬
zeugen, daß es sich vorm Jahre geirrt habe, und dieses Jahr deu Antrag an¬
nähme, welche Bürgschaft hätten wir dafür, daß die schnelle Bekehrung in einer
so wichtigen und schwierigen Sache nicht auf einem furchtbaren Irrtum beruhte?
Der Fehler unsrer Zeit, sagt Massow Seite 4V ganz richtig, „in allen Ländern
ist, daß die Nationen selbst nicht wissen, was sie wollen." Aber der Grund für
diese Erscheinung wird nicht ganz richtig angegeben. Er besteht darin, daß die
modernen Verhältnisse ungemein verwickelt, die Daseinsbedingungen der Völker daher
schwer zu ermitteln sind, und daß die Berufnen mit der Ermittlung keine Eile
haben, weil sie fürchten, daß ihnen die daraus folgenden Pflichten schwere Opfer
auferlegen könnten. Sehr hübsch ist auch die Bemerkung auf Seite 34: „Wären
unsre Verhältnisse normale ^normal!^, so müßte jeder Deutsche seinen Kanzler¬
kandidaten in xotto haben." Das heißt mit andern Worten: das englische Staats¬
leben ist normal, das preußische das Gegenteil.



Litteratur
Die Weltstellung des byzantinischen Reiches vor den Kreuzziigen. Von Dr. Karl
Neumann, Privatdozenten für Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg.
Leipzig, Duncker und Humblot, 1894

Die „Byzantinistik," eine Bezeichnung, die freilich zu sehr an Byzantinismus
erinnert, um schön zu sein, ist in unsrer Zeit eine Wissenschaft geworden. Sie
erfreut sich in Deutschland bereits eiuer Professur und einer eignen, sehr lebendigen
Zeitschrift. In der That ist ihr Gegenstand nicht so „tot," als er früher all¬
gemein erschien, „da die byzantinischen Studien in Deutschland noch eine wenig
beneidete Domäne der klassischen Philologie bildeten." Mit der äußern ästhetischen
Physiognomie seiner Mönchs- und Schulmeisterlitteratur, die freilich im allgemeinen
jenes Urteil verdient, ist Byzanz nicht erschöpft. Der große, glänzende Mittel¬
punkt der Kultur und Politik während eines Jahrtausends bietet Fäden nach allen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/110>, abgerufen am 22.06.2024.