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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

Baltzers gehörte, einem einzelnen Manne gegenüber, mochte es auch der ver¬
ehrte Lehrer sein, in einer dogmatischen Frage Unrecht haben könne, das ver¬
stand er nicht. Er bedauerte aufs schmerzlichste diese "wissenschaftliche Recht¬
haberei," diesen "unbeugsamen Starrsinn" des verehrten Mannes, ohne die
Pietät gegen ihn zu verletzen, noch sich zur Nachfolge verleiten zu lassen.
Übrigens hat Baltzer der Diözese außer der dogmatischen Schulung ihres
Klerus noch ein andres Vermächtnis hinterlassen, die Diözcsanagende, die er
in Diepenbrocks Auftrag abgefaßt hat. Die klassische, keruige, wahrhaft poetische,
nirgends durch Schwulst, Floskeln oder sonstige Geschmacklosigkeiten entstellte
Sprache ihrer Gebete, Ansprachen und Psalmen habe ich erst würdigen ge¬
lernt, als ich später die aus der Wesseubergischen Zeit stammende der Diözese
Freiburg kennen lernte, die ein jammervolles Machwerk ist. Sehr eifrig be¬
schäftigte sich Baltzer auch mit den Naturwissenschaften; sein Hexaömervn, ein
Versuch, die mosaische Schöpfungsgeschichte mit den Ergebnissen der modernen
Wissenschaft in Einklang zu bringen, wurde von einer so großen Zuhörerschar
besucht, daß sie der größte Hörsal (die kleine Aula) kaum faßte, und seiue
Polemik gegen den Affenvogt fand auch in Fachkreisen Anerkennung. Während
Baltzers Aufenthalt in Rom vertrat ihn Reinkens, der als Kirchenhistoriker
gar nicht auf dogmatische Vorlesungen vorbereitet war. Er hat sich jedoch
das Verdienst erworben, uns nachdrücklich auf das Tridentiuum und den On-tv-
otüsruns KomÄims als die besten Quellen der katholischen Dogmatik verwiesen
zu haben.

Der Moralist B. war mir in jeder Beziehung zuwider; als Charakter,
weil er durch spioniren, Dennnziren und Jntriguireu unermüdlich an dem
Sturze Baltzers arbeitete -- er hielt sich selbst berufen zum Dogmatiker --, und
als Lehrer, weil seine Vorlesungen ein sinnloses Sammelsurium von Zitaten
waren, und zwar von Zitaten aus den alten Klassikern; keinen Satz sprach er
ohne: siehe Cicero, oder Seneca, oder Plato. Gewiß verdient die Moral der
Alten unsre höchste Beachtung; ja sie ist viel zu gut dazu, zu Zitaten zer¬
pflückt zu werden; wird sie ernsthaft behandelt, dann pflegt allerdings das
Ergebnis nicht nach dem Geschmack orthodoxer Theologen auszufallen. Schon
B.s Vortragsweise war mir unausstehlich; er sprach ungeheuer schnell, und
es hörte sich alles an wie das Schwatzen eines Waschweibes.

Movers hat sich durch sein Werk über die Phönizier, das ich sonder¬
barerweise nicht gelesen habe, einen bedeutenden Ruf unter den Orientalisten
erworben. Er machte uns die Verwebung der Geschicke des Volkes Israel in
die Geschichte der Weltmonarchieen sehr klar und erwärmte uns für die Schön¬
heiten der hebräischen Poesie, für die er selbst begeistert war. Sem Vortrag
war so anziehend, daß er mich verlockte, eine Zeit lang sehr eifrig das He¬
bräische zu treiben und bei Schmoelders arabische Grammatik zu hören. Später
bin ich jedoch zu diesen Dingen nie wieder zurückgekehrt, sodaß ich heute kaum


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

Baltzers gehörte, einem einzelnen Manne gegenüber, mochte es auch der ver¬
ehrte Lehrer sein, in einer dogmatischen Frage Unrecht haben könne, das ver¬
stand er nicht. Er bedauerte aufs schmerzlichste diese „wissenschaftliche Recht¬
haberei," diesen „unbeugsamen Starrsinn" des verehrten Mannes, ohne die
Pietät gegen ihn zu verletzen, noch sich zur Nachfolge verleiten zu lassen.
Übrigens hat Baltzer der Diözese außer der dogmatischen Schulung ihres
Klerus noch ein andres Vermächtnis hinterlassen, die Diözcsanagende, die er
in Diepenbrocks Auftrag abgefaßt hat. Die klassische, keruige, wahrhaft poetische,
nirgends durch Schwulst, Floskeln oder sonstige Geschmacklosigkeiten entstellte
Sprache ihrer Gebete, Ansprachen und Psalmen habe ich erst würdigen ge¬
lernt, als ich später die aus der Wesseubergischen Zeit stammende der Diözese
Freiburg kennen lernte, die ein jammervolles Machwerk ist. Sehr eifrig be¬
schäftigte sich Baltzer auch mit den Naturwissenschaften; sein Hexaömervn, ein
Versuch, die mosaische Schöpfungsgeschichte mit den Ergebnissen der modernen
Wissenschaft in Einklang zu bringen, wurde von einer so großen Zuhörerschar
besucht, daß sie der größte Hörsal (die kleine Aula) kaum faßte, und seiue
Polemik gegen den Affenvogt fand auch in Fachkreisen Anerkennung. Während
Baltzers Aufenthalt in Rom vertrat ihn Reinkens, der als Kirchenhistoriker
gar nicht auf dogmatische Vorlesungen vorbereitet war. Er hat sich jedoch
das Verdienst erworben, uns nachdrücklich auf das Tridentiuum und den On-tv-
otüsruns KomÄims als die besten Quellen der katholischen Dogmatik verwiesen
zu haben.

Der Moralist B. war mir in jeder Beziehung zuwider; als Charakter,
weil er durch spioniren, Dennnziren und Jntriguireu unermüdlich an dem
Sturze Baltzers arbeitete — er hielt sich selbst berufen zum Dogmatiker —, und
als Lehrer, weil seine Vorlesungen ein sinnloses Sammelsurium von Zitaten
waren, und zwar von Zitaten aus den alten Klassikern; keinen Satz sprach er
ohne: siehe Cicero, oder Seneca, oder Plato. Gewiß verdient die Moral der
Alten unsre höchste Beachtung; ja sie ist viel zu gut dazu, zu Zitaten zer¬
pflückt zu werden; wird sie ernsthaft behandelt, dann pflegt allerdings das
Ergebnis nicht nach dem Geschmack orthodoxer Theologen auszufallen. Schon
B.s Vortragsweise war mir unausstehlich; er sprach ungeheuer schnell, und
es hörte sich alles an wie das Schwatzen eines Waschweibes.

Movers hat sich durch sein Werk über die Phönizier, das ich sonder¬
barerweise nicht gelesen habe, einen bedeutenden Ruf unter den Orientalisten
erworben. Er machte uns die Verwebung der Geschicke des Volkes Israel in
die Geschichte der Weltmonarchieen sehr klar und erwärmte uns für die Schön¬
heiten der hebräischen Poesie, für die er selbst begeistert war. Sem Vortrag
war so anziehend, daß er mich verlockte, eine Zeit lang sehr eifrig das He¬
bräische zu treiben und bei Schmoelders arabische Grammatik zu hören. Später
bin ich jedoch zu diesen Dingen nie wieder zurückgekehrt, sodaß ich heute kaum


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[0092] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome Baltzers gehörte, einem einzelnen Manne gegenüber, mochte es auch der ver¬ ehrte Lehrer sein, in einer dogmatischen Frage Unrecht haben könne, das ver¬ stand er nicht. Er bedauerte aufs schmerzlichste diese „wissenschaftliche Recht¬ haberei," diesen „unbeugsamen Starrsinn" des verehrten Mannes, ohne die Pietät gegen ihn zu verletzen, noch sich zur Nachfolge verleiten zu lassen. Übrigens hat Baltzer der Diözese außer der dogmatischen Schulung ihres Klerus noch ein andres Vermächtnis hinterlassen, die Diözcsanagende, die er in Diepenbrocks Auftrag abgefaßt hat. Die klassische, keruige, wahrhaft poetische, nirgends durch Schwulst, Floskeln oder sonstige Geschmacklosigkeiten entstellte Sprache ihrer Gebete, Ansprachen und Psalmen habe ich erst würdigen ge¬ lernt, als ich später die aus der Wesseubergischen Zeit stammende der Diözese Freiburg kennen lernte, die ein jammervolles Machwerk ist. Sehr eifrig be¬ schäftigte sich Baltzer auch mit den Naturwissenschaften; sein Hexaömervn, ein Versuch, die mosaische Schöpfungsgeschichte mit den Ergebnissen der modernen Wissenschaft in Einklang zu bringen, wurde von einer so großen Zuhörerschar besucht, daß sie der größte Hörsal (die kleine Aula) kaum faßte, und seiue Polemik gegen den Affenvogt fand auch in Fachkreisen Anerkennung. Während Baltzers Aufenthalt in Rom vertrat ihn Reinkens, der als Kirchenhistoriker gar nicht auf dogmatische Vorlesungen vorbereitet war. Er hat sich jedoch das Verdienst erworben, uns nachdrücklich auf das Tridentiuum und den On-tv- otüsruns KomÄims als die besten Quellen der katholischen Dogmatik verwiesen zu haben. Der Moralist B. war mir in jeder Beziehung zuwider; als Charakter, weil er durch spioniren, Dennnziren und Jntriguireu unermüdlich an dem Sturze Baltzers arbeitete — er hielt sich selbst berufen zum Dogmatiker —, und als Lehrer, weil seine Vorlesungen ein sinnloses Sammelsurium von Zitaten waren, und zwar von Zitaten aus den alten Klassikern; keinen Satz sprach er ohne: siehe Cicero, oder Seneca, oder Plato. Gewiß verdient die Moral der Alten unsre höchste Beachtung; ja sie ist viel zu gut dazu, zu Zitaten zer¬ pflückt zu werden; wird sie ernsthaft behandelt, dann pflegt allerdings das Ergebnis nicht nach dem Geschmack orthodoxer Theologen auszufallen. Schon B.s Vortragsweise war mir unausstehlich; er sprach ungeheuer schnell, und es hörte sich alles an wie das Schwatzen eines Waschweibes. Movers hat sich durch sein Werk über die Phönizier, das ich sonder¬ barerweise nicht gelesen habe, einen bedeutenden Ruf unter den Orientalisten erworben. Er machte uns die Verwebung der Geschicke des Volkes Israel in die Geschichte der Weltmonarchieen sehr klar und erwärmte uns für die Schön¬ heiten der hebräischen Poesie, für die er selbst begeistert war. Sem Vortrag war so anziehend, daß er mich verlockte, eine Zeit lang sehr eifrig das He¬ bräische zu treiben und bei Schmoelders arabische Grammatik zu hören. Später bin ich jedoch zu diesen Dingen nie wieder zurückgekehrt, sodaß ich heute kaum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/92>, abgerufen am 23.06.2024.