Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Kenntnis der englischen Veltpolitik

und Weise des politischen Planens und Handelns erstehen sieht, darin liegt
eine Mahnung vor dem Herannahen der dringendsten Gefahr. Das ist es,
was ohne Zweifel das Unbehagen am meisten steigert und die dumpfe Furcht
vor einem schweren Fall uicht zur Ruhe kommen läßt.

Japan beruft sich auf Englands Stellung in Ägypten, indem es sich in
Korea festsetzt. Das klingt wie Hohn; doch hat es in Korea eine ganze Menge
von Gründen für sich, die England in Ägypten nicht hat. Frankreich, von
England gedrängt, Tschantabun, die wichtige östliche Küstenprovinz Siams,
unbesetzt zu lassen, antwortet mit dem Bau von Befestigungen dort und erklärt
ebenfalls, die englische Forderung werde diskutabel, sobald England Ägypten
verlasse. ?o usf vör^ Strom^ ling'rmAv ist bezeichnenderweise eine häufige
Phrase in englischen Zeitungen, und auf den Gebrauch großer Redensarten
hat sich dem gegenüber Lord Roseberry beschränkt, der während der siamesisch-
französischen Tragikomödie Staatssekretär des Auswärtigen war. Nicht einmal
den Gefallen thaten ihm die Franzosen, seine großen Worte zu lesen. Wer liest
in Frankreich ein englisches Blaubuch? Das französische Gclbbuch über Siam
bringt die französischen Forderungen und ein paar thörichte englische Depeschen,
und der englische Minister hatte nicht einmal die Genugthuung, seine hohlen
Drohungen aus den Berichten des Hauses der Gemeinen in die französische
Presse übergehen zu scheu. Bis sie in die Pariser Presse gelangten, hatten sie
alle Stacheln verloren. Wir finden dieses Verfahren der französischen Staats¬
männer sachgemäß. Wozu braucht Frankreich die für England bestimmte"
Ruhmredigkeiten und Drohungen Noseberrys zu kennen, an die dieser selbst
nicht glaubt? Und wozu ins Gelbbuch englische Foroeruugen aufnehmen, die
England nicht aufrechterhalten wird? Man könnte dieses kluge Totschweigen
sogar als Höflichkeit und Mahnung zur Höflichkeit auslegen.

Die Siamesische Angelegenheit ist noch nicht erledigt -- sie läßt in der
Unbestimmtheit der Grenze hundert Anlässe zu fernern Reibungen mit Englaud-
Birma oder China bestehen, wie es eben beliebt --, da entwickelt sich schon
wieder ein neues Problem in Madagaskar. Sehr naiv sagte einer der mi¬
nisterielle" "Stumpredner": Die Franzosen sind wenigstens offen. "Was wir
in Ägypten eigentlich vorhaben, wir mögen es uns selbst nicht gestehen; der fran¬
zösische Minister Hanvtaux dagegen erklärt offen seine Absicht, Madagaskar in eine
blühende französische Kolonie umzuwandeln, und fordert gerade für diesen Zweck
15000 Mann und 2,6 Millionen Pfund Sterling." Noch viel dunkler als in
Ägypten sind allerdings Englands Wege in Madagaskar. Die auffallende Ruhe,
die angesichts der französischen Expedition nach Madagaskar in der englischen
Presse herrscht, ist berechnet. England weiß, daß sich Frankreich eine schwere
Aufgabe anstatt, und läßt es einstweilen geschehen. Es hat die erst langsame,
dann rasche Ausbreitung Frankreichs von seinen alten Vcsitznngen Rouillon
und Jsle Sie. Marie (1820) über Mayotte und die Komoren und die Festsetzung


Zur Kenntnis der englischen Veltpolitik

und Weise des politischen Planens und Handelns erstehen sieht, darin liegt
eine Mahnung vor dem Herannahen der dringendsten Gefahr. Das ist es,
was ohne Zweifel das Unbehagen am meisten steigert und die dumpfe Furcht
vor einem schweren Fall uicht zur Ruhe kommen läßt.

Japan beruft sich auf Englands Stellung in Ägypten, indem es sich in
Korea festsetzt. Das klingt wie Hohn; doch hat es in Korea eine ganze Menge
von Gründen für sich, die England in Ägypten nicht hat. Frankreich, von
England gedrängt, Tschantabun, die wichtige östliche Küstenprovinz Siams,
unbesetzt zu lassen, antwortet mit dem Bau von Befestigungen dort und erklärt
ebenfalls, die englische Forderung werde diskutabel, sobald England Ägypten
verlasse. ?o usf vör^ Strom^ ling'rmAv ist bezeichnenderweise eine häufige
Phrase in englischen Zeitungen, und auf den Gebrauch großer Redensarten
hat sich dem gegenüber Lord Roseberry beschränkt, der während der siamesisch-
französischen Tragikomödie Staatssekretär des Auswärtigen war. Nicht einmal
den Gefallen thaten ihm die Franzosen, seine großen Worte zu lesen. Wer liest
in Frankreich ein englisches Blaubuch? Das französische Gclbbuch über Siam
bringt die französischen Forderungen und ein paar thörichte englische Depeschen,
und der englische Minister hatte nicht einmal die Genugthuung, seine hohlen
Drohungen aus den Berichten des Hauses der Gemeinen in die französische
Presse übergehen zu scheu. Bis sie in die Pariser Presse gelangten, hatten sie
alle Stacheln verloren. Wir finden dieses Verfahren der französischen Staats¬
männer sachgemäß. Wozu braucht Frankreich die für England bestimmte»
Ruhmredigkeiten und Drohungen Noseberrys zu kennen, an die dieser selbst
nicht glaubt? Und wozu ins Gelbbuch englische Foroeruugen aufnehmen, die
England nicht aufrechterhalten wird? Man könnte dieses kluge Totschweigen
sogar als Höflichkeit und Mahnung zur Höflichkeit auslegen.

Die Siamesische Angelegenheit ist noch nicht erledigt — sie läßt in der
Unbestimmtheit der Grenze hundert Anlässe zu fernern Reibungen mit Englaud-
Birma oder China bestehen, wie es eben beliebt —, da entwickelt sich schon
wieder ein neues Problem in Madagaskar. Sehr naiv sagte einer der mi¬
nisterielle» „Stumpredner": Die Franzosen sind wenigstens offen. „Was wir
in Ägypten eigentlich vorhaben, wir mögen es uns selbst nicht gestehen; der fran¬
zösische Minister Hanvtaux dagegen erklärt offen seine Absicht, Madagaskar in eine
blühende französische Kolonie umzuwandeln, und fordert gerade für diesen Zweck
15000 Mann und 2,6 Millionen Pfund Sterling." Noch viel dunkler als in
Ägypten sind allerdings Englands Wege in Madagaskar. Die auffallende Ruhe,
die angesichts der französischen Expedition nach Madagaskar in der englischen
Presse herrscht, ist berechnet. England weiß, daß sich Frankreich eine schwere
Aufgabe anstatt, und läßt es einstweilen geschehen. Es hat die erst langsame,
dann rasche Ausbreitung Frankreichs von seinen alten Vcsitznngen Rouillon
und Jsle Sie. Marie (1820) über Mayotte und die Komoren und die Festsetzung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0064" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219066"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Kenntnis der englischen Veltpolitik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_197" prev="#ID_196"> und Weise des politischen Planens und Handelns erstehen sieht, darin liegt<lb/>
eine Mahnung vor dem Herannahen der dringendsten Gefahr. Das ist es,<lb/>
was ohne Zweifel das Unbehagen am meisten steigert und die dumpfe Furcht<lb/>
vor einem schweren Fall uicht zur Ruhe kommen läßt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_198"> Japan beruft sich auf Englands Stellung in Ägypten, indem es sich in<lb/>
Korea festsetzt. Das klingt wie Hohn; doch hat es in Korea eine ganze Menge<lb/>
von Gründen für sich, die England in Ägypten nicht hat. Frankreich, von<lb/>
England gedrängt, Tschantabun, die wichtige östliche Küstenprovinz Siams,<lb/>
unbesetzt zu lassen, antwortet mit dem Bau von Befestigungen dort und erklärt<lb/>
ebenfalls, die englische Forderung werde diskutabel, sobald England Ägypten<lb/>
verlasse. ?o usf vör^ Strom^ ling'rmAv ist bezeichnenderweise eine häufige<lb/>
Phrase in englischen Zeitungen, und auf den Gebrauch großer Redensarten<lb/>
hat sich dem gegenüber Lord Roseberry beschränkt, der während der siamesisch-<lb/>
französischen Tragikomödie Staatssekretär des Auswärtigen war. Nicht einmal<lb/>
den Gefallen thaten ihm die Franzosen, seine großen Worte zu lesen. Wer liest<lb/>
in Frankreich ein englisches Blaubuch? Das französische Gclbbuch über Siam<lb/>
bringt die französischen Forderungen und ein paar thörichte englische Depeschen,<lb/>
und der englische Minister hatte nicht einmal die Genugthuung, seine hohlen<lb/>
Drohungen aus den Berichten des Hauses der Gemeinen in die französische<lb/>
Presse übergehen zu scheu. Bis sie in die Pariser Presse gelangten, hatten sie<lb/>
alle Stacheln verloren. Wir finden dieses Verfahren der französischen Staats¬<lb/>
männer sachgemäß. Wozu braucht Frankreich die für England bestimmte»<lb/>
Ruhmredigkeiten und Drohungen Noseberrys zu kennen, an die dieser selbst<lb/>
nicht glaubt? Und wozu ins Gelbbuch englische Foroeruugen aufnehmen, die<lb/>
England nicht aufrechterhalten wird? Man könnte dieses kluge Totschweigen<lb/>
sogar als Höflichkeit und Mahnung zur Höflichkeit auslegen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_199" next="#ID_200"> Die Siamesische Angelegenheit ist noch nicht erledigt &#x2014; sie läßt in der<lb/>
Unbestimmtheit der Grenze hundert Anlässe zu fernern Reibungen mit Englaud-<lb/>
Birma oder China bestehen, wie es eben beliebt &#x2014;, da entwickelt sich schon<lb/>
wieder ein neues Problem in Madagaskar. Sehr naiv sagte einer der mi¬<lb/>
nisterielle» &#x201E;Stumpredner": Die Franzosen sind wenigstens offen. &#x201E;Was wir<lb/>
in Ägypten eigentlich vorhaben, wir mögen es uns selbst nicht gestehen; der fran¬<lb/>
zösische Minister Hanvtaux dagegen erklärt offen seine Absicht, Madagaskar in eine<lb/>
blühende französische Kolonie umzuwandeln, und fordert gerade für diesen Zweck<lb/>
15000 Mann und 2,6 Millionen Pfund Sterling." Noch viel dunkler als in<lb/>
Ägypten sind allerdings Englands Wege in Madagaskar. Die auffallende Ruhe,<lb/>
die angesichts der französischen Expedition nach Madagaskar in der englischen<lb/>
Presse herrscht, ist berechnet. England weiß, daß sich Frankreich eine schwere<lb/>
Aufgabe anstatt, und läßt es einstweilen geschehen. Es hat die erst langsame,<lb/>
dann rasche Ausbreitung Frankreichs von seinen alten Vcsitznngen Rouillon<lb/>
und Jsle Sie. Marie (1820) über Mayotte und die Komoren und die Festsetzung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0064] Zur Kenntnis der englischen Veltpolitik und Weise des politischen Planens und Handelns erstehen sieht, darin liegt eine Mahnung vor dem Herannahen der dringendsten Gefahr. Das ist es, was ohne Zweifel das Unbehagen am meisten steigert und die dumpfe Furcht vor einem schweren Fall uicht zur Ruhe kommen läßt. Japan beruft sich auf Englands Stellung in Ägypten, indem es sich in Korea festsetzt. Das klingt wie Hohn; doch hat es in Korea eine ganze Menge von Gründen für sich, die England in Ägypten nicht hat. Frankreich, von England gedrängt, Tschantabun, die wichtige östliche Küstenprovinz Siams, unbesetzt zu lassen, antwortet mit dem Bau von Befestigungen dort und erklärt ebenfalls, die englische Forderung werde diskutabel, sobald England Ägypten verlasse. ?o usf vör^ Strom^ ling'rmAv ist bezeichnenderweise eine häufige Phrase in englischen Zeitungen, und auf den Gebrauch großer Redensarten hat sich dem gegenüber Lord Roseberry beschränkt, der während der siamesisch- französischen Tragikomödie Staatssekretär des Auswärtigen war. Nicht einmal den Gefallen thaten ihm die Franzosen, seine großen Worte zu lesen. Wer liest in Frankreich ein englisches Blaubuch? Das französische Gclbbuch über Siam bringt die französischen Forderungen und ein paar thörichte englische Depeschen, und der englische Minister hatte nicht einmal die Genugthuung, seine hohlen Drohungen aus den Berichten des Hauses der Gemeinen in die französische Presse übergehen zu scheu. Bis sie in die Pariser Presse gelangten, hatten sie alle Stacheln verloren. Wir finden dieses Verfahren der französischen Staats¬ männer sachgemäß. Wozu braucht Frankreich die für England bestimmte» Ruhmredigkeiten und Drohungen Noseberrys zu kennen, an die dieser selbst nicht glaubt? Und wozu ins Gelbbuch englische Foroeruugen aufnehmen, die England nicht aufrechterhalten wird? Man könnte dieses kluge Totschweigen sogar als Höflichkeit und Mahnung zur Höflichkeit auslegen. Die Siamesische Angelegenheit ist noch nicht erledigt — sie läßt in der Unbestimmtheit der Grenze hundert Anlässe zu fernern Reibungen mit Englaud- Birma oder China bestehen, wie es eben beliebt —, da entwickelt sich schon wieder ein neues Problem in Madagaskar. Sehr naiv sagte einer der mi¬ nisterielle» „Stumpredner": Die Franzosen sind wenigstens offen. „Was wir in Ägypten eigentlich vorhaben, wir mögen es uns selbst nicht gestehen; der fran¬ zösische Minister Hanvtaux dagegen erklärt offen seine Absicht, Madagaskar in eine blühende französische Kolonie umzuwandeln, und fordert gerade für diesen Zweck 15000 Mann und 2,6 Millionen Pfund Sterling." Noch viel dunkler als in Ägypten sind allerdings Englands Wege in Madagaskar. Die auffallende Ruhe, die angesichts der französischen Expedition nach Madagaskar in der englischen Presse herrscht, ist berechnet. England weiß, daß sich Frankreich eine schwere Aufgabe anstatt, und läßt es einstweilen geschehen. Es hat die erst langsame, dann rasche Ausbreitung Frankreichs von seinen alten Vcsitznngen Rouillon und Jsle Sie. Marie (1820) über Mayotte und die Komoren und die Festsetzung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/64
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/64>, abgerufen am 23.07.2024.