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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Das Wandergewerbe

den öffentlichen Pflichten beteiligt sei, zu schützen. Das geschichtlich und wirt¬
schaftlich wichtige und berechtigte Wandergewerbe in wenig verkehrsreichen Ge¬
genden, im Gebirge oder mit selbstverfertigten Waren wird freilich und zwar
mit vollem Recht auch von dieser Seite der gesetzlichen Schonung empfohlen.

Es läßt sich jedenfalls nicht bestreiten, daß das Hausirer mit seinen ver¬
wandten Formen: dem Stadthausiren, der Kolportage und dem Detailreisen
ins Ungesunde gewachsen ist. Im Jahre 1884 wurden im deutschen Reiche
212341 Wandergewerbescheine für Hausirer ausgestellt, 1885:215272, 1886:
219132, 1887: 220770, 1888: 222900 und 1889: 226511. In dem Zeit¬
raume von fünf Jahren hatte sich also die Zahl der Hausirer um 14170 oder
um 6,7 Prozent vermehrt. Diese Zahlen würden noch bedeutend wachsen,
wenn man die in dieser Statistik nicht berücksichtigten Stadthausirer ein¬
rechnen könnte, die keinen Wandergewerbeschein brauchen, deren Betriebsformen
sich jedoch in vielen Fällen ganz mit denen des gewöhnlichen Hausirers decken.
Bedenklicher noch ist das Anschwellen der Zahl der Detailreisendcn, jener Rei¬
senden, die der Volksmund "Hausirer im Frack" nennt, und die im Dienste
eines größern Geschäfts Warenbestellungen bei Privaten aufsuchen; ihre Zahl
ist von 1884 bis 1893 von 45016 auf 70018, also um etwa 55^ Prozent
angewachsen.

Indem nun die verbündeten Regierungen wieder an die gesetzliche Rege¬
lung des Hausirwesens Herangehen, sehen sie angeblich von politischen Beweg¬
gründen, die dem seßhaften Gewerbe eine Unterstützung bringen könnten, ab.
Der Bevollmächtigte zum Bundesrate für Preußen, der Minister für Handel
und Gewerbe, Freiherr vonBerlepsch, hat in der Reichstagssitzung vom 1. Februar
mit dürren Worten erklärt: "Ich meine, ein Hausirer, der fein Geschäft solid
betreibt, hat dieselbe Existenzberechtigung wie ein seßhafter Kaufmann"; und
die Begründung zu dem jetzt zur Beratung stehenden Gesetzentwurfe zur Ab¬
änderung der Gewerbeordnung meint, die ungünstige Lage der seßhaften Ge¬
werbetreibenden an kleinen Orten habe nicht in dem Wettbewerbe der Hausirer
ihre Ursachen, eine wesentliche Umgestaltung der Gewerbeordnung könne daher
unterbleiben, und es reiche aus, dem Betriebe im Umherziehen noch weitere
Beschränkungen aufzuerlegen, um bemerkbar gewordne Auswüchse zu beseitigen
und ungeeignete Leute von dieser Geschäftsform fernzuhalten. Zu diesem Zweck
soll sowohl die Zahl der vom Betriebe im Umherziehen ausgeschlossenen Gegen¬
stände vermehrt als auch der Kreis von Personen, denen der Wandergewerbe-
schcin nicht versagt werden darf, beschränkt werden.

Zunächst bringt der Entwurf etwas für die Landwirtschaft, das Sorgen¬
kind der heutigen Regierungen. Es sollen ausgeschlossen sein von dem Ver¬
triebe im Umherziehen: Bäume aller Art, Sträucher, Sämereien und Blumen¬
zwiebeln, Schnitt- und Wurzelreben und Futtermittel. Ferner soll auf be¬
stimmte Zeit der Handel mit Schweinen oder Geflügel im Umherziehen unter-


Grenzboten I 1895 77
Das Wandergewerbe

den öffentlichen Pflichten beteiligt sei, zu schützen. Das geschichtlich und wirt¬
schaftlich wichtige und berechtigte Wandergewerbe in wenig verkehrsreichen Ge¬
genden, im Gebirge oder mit selbstverfertigten Waren wird freilich und zwar
mit vollem Recht auch von dieser Seite der gesetzlichen Schonung empfohlen.

Es läßt sich jedenfalls nicht bestreiten, daß das Hausirer mit seinen ver¬
wandten Formen: dem Stadthausiren, der Kolportage und dem Detailreisen
ins Ungesunde gewachsen ist. Im Jahre 1884 wurden im deutschen Reiche
212341 Wandergewerbescheine für Hausirer ausgestellt, 1885:215272, 1886:
219132, 1887: 220770, 1888: 222900 und 1889: 226511. In dem Zeit¬
raume von fünf Jahren hatte sich also die Zahl der Hausirer um 14170 oder
um 6,7 Prozent vermehrt. Diese Zahlen würden noch bedeutend wachsen,
wenn man die in dieser Statistik nicht berücksichtigten Stadthausirer ein¬
rechnen könnte, die keinen Wandergewerbeschein brauchen, deren Betriebsformen
sich jedoch in vielen Fällen ganz mit denen des gewöhnlichen Hausirers decken.
Bedenklicher noch ist das Anschwellen der Zahl der Detailreisendcn, jener Rei¬
senden, die der Volksmund „Hausirer im Frack" nennt, und die im Dienste
eines größern Geschäfts Warenbestellungen bei Privaten aufsuchen; ihre Zahl
ist von 1884 bis 1893 von 45016 auf 70018, also um etwa 55^ Prozent
angewachsen.

Indem nun die verbündeten Regierungen wieder an die gesetzliche Rege¬
lung des Hausirwesens Herangehen, sehen sie angeblich von politischen Beweg¬
gründen, die dem seßhaften Gewerbe eine Unterstützung bringen könnten, ab.
Der Bevollmächtigte zum Bundesrate für Preußen, der Minister für Handel
und Gewerbe, Freiherr vonBerlepsch, hat in der Reichstagssitzung vom 1. Februar
mit dürren Worten erklärt: „Ich meine, ein Hausirer, der fein Geschäft solid
betreibt, hat dieselbe Existenzberechtigung wie ein seßhafter Kaufmann"; und
die Begründung zu dem jetzt zur Beratung stehenden Gesetzentwurfe zur Ab¬
änderung der Gewerbeordnung meint, die ungünstige Lage der seßhaften Ge¬
werbetreibenden an kleinen Orten habe nicht in dem Wettbewerbe der Hausirer
ihre Ursachen, eine wesentliche Umgestaltung der Gewerbeordnung könne daher
unterbleiben, und es reiche aus, dem Betriebe im Umherziehen noch weitere
Beschränkungen aufzuerlegen, um bemerkbar gewordne Auswüchse zu beseitigen
und ungeeignete Leute von dieser Geschäftsform fernzuhalten. Zu diesem Zweck
soll sowohl die Zahl der vom Betriebe im Umherziehen ausgeschlossenen Gegen¬
stände vermehrt als auch der Kreis von Personen, denen der Wandergewerbe-
schcin nicht versagt werden darf, beschränkt werden.

Zunächst bringt der Entwurf etwas für die Landwirtschaft, das Sorgen¬
kind der heutigen Regierungen. Es sollen ausgeschlossen sein von dem Ver¬
triebe im Umherziehen: Bäume aller Art, Sträucher, Sämereien und Blumen¬
zwiebeln, Schnitt- und Wurzelreben und Futtermittel. Ferner soll auf be¬
stimmte Zeit der Handel mit Schweinen oder Geflügel im Umherziehen unter-


Grenzboten I 1895 77
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[0623] Das Wandergewerbe den öffentlichen Pflichten beteiligt sei, zu schützen. Das geschichtlich und wirt¬ schaftlich wichtige und berechtigte Wandergewerbe in wenig verkehrsreichen Ge¬ genden, im Gebirge oder mit selbstverfertigten Waren wird freilich und zwar mit vollem Recht auch von dieser Seite der gesetzlichen Schonung empfohlen. Es läßt sich jedenfalls nicht bestreiten, daß das Hausirer mit seinen ver¬ wandten Formen: dem Stadthausiren, der Kolportage und dem Detailreisen ins Ungesunde gewachsen ist. Im Jahre 1884 wurden im deutschen Reiche 212341 Wandergewerbescheine für Hausirer ausgestellt, 1885:215272, 1886: 219132, 1887: 220770, 1888: 222900 und 1889: 226511. In dem Zeit¬ raume von fünf Jahren hatte sich also die Zahl der Hausirer um 14170 oder um 6,7 Prozent vermehrt. Diese Zahlen würden noch bedeutend wachsen, wenn man die in dieser Statistik nicht berücksichtigten Stadthausirer ein¬ rechnen könnte, die keinen Wandergewerbeschein brauchen, deren Betriebsformen sich jedoch in vielen Fällen ganz mit denen des gewöhnlichen Hausirers decken. Bedenklicher noch ist das Anschwellen der Zahl der Detailreisendcn, jener Rei¬ senden, die der Volksmund „Hausirer im Frack" nennt, und die im Dienste eines größern Geschäfts Warenbestellungen bei Privaten aufsuchen; ihre Zahl ist von 1884 bis 1893 von 45016 auf 70018, also um etwa 55^ Prozent angewachsen. Indem nun die verbündeten Regierungen wieder an die gesetzliche Rege¬ lung des Hausirwesens Herangehen, sehen sie angeblich von politischen Beweg¬ gründen, die dem seßhaften Gewerbe eine Unterstützung bringen könnten, ab. Der Bevollmächtigte zum Bundesrate für Preußen, der Minister für Handel und Gewerbe, Freiherr vonBerlepsch, hat in der Reichstagssitzung vom 1. Februar mit dürren Worten erklärt: „Ich meine, ein Hausirer, der fein Geschäft solid betreibt, hat dieselbe Existenzberechtigung wie ein seßhafter Kaufmann"; und die Begründung zu dem jetzt zur Beratung stehenden Gesetzentwurfe zur Ab¬ änderung der Gewerbeordnung meint, die ungünstige Lage der seßhaften Ge¬ werbetreibenden an kleinen Orten habe nicht in dem Wettbewerbe der Hausirer ihre Ursachen, eine wesentliche Umgestaltung der Gewerbeordnung könne daher unterbleiben, und es reiche aus, dem Betriebe im Umherziehen noch weitere Beschränkungen aufzuerlegen, um bemerkbar gewordne Auswüchse zu beseitigen und ungeeignete Leute von dieser Geschäftsform fernzuhalten. Zu diesem Zweck soll sowohl die Zahl der vom Betriebe im Umherziehen ausgeschlossenen Gegen¬ stände vermehrt als auch der Kreis von Personen, denen der Wandergewerbe- schcin nicht versagt werden darf, beschränkt werden. Zunächst bringt der Entwurf etwas für die Landwirtschaft, das Sorgen¬ kind der heutigen Regierungen. Es sollen ausgeschlossen sein von dem Ver¬ triebe im Umherziehen: Bäume aller Art, Sträucher, Sämereien und Blumen¬ zwiebeln, Schnitt- und Wurzelreben und Futtermittel. Ferner soll auf be¬ stimmte Zeit der Handel mit Schweinen oder Geflügel im Umherziehen unter- Grenzboten I 1895 77

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/623>, abgerufen am 23.07.2024.