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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Das Wandergewerbe

werbeordnungsnovelle vom 1. Juli 1883 ausgedrückten Bestrebungen, der
zügellosen Freiheit des Hausirhandels, des Stadthausirens, des Detailreisens,
der Kolportage, der Wanderlager und Wanderauktionen die im Interesse eines
anständigen Geschäftsgebahrens und der öffentlichen Sicherheit notwendigen
Schranken zu setzen. In erster Linie handelt es sich bei den Maßnahmen
der Regierungen um sicherheitspolizeiliche Rücksichten, wie sie schon in der
Begründung zur Gewerbeordnung von 1869 geltend gemacht worden sind. Dort
wurde über den Hausirhandel gesagt: "Der Gewerbebetrieb im Umherziehen bildet
leicht den Vorwand für Bettelei und Unsittlichkeit; er kann wegen der Schwie¬
rigkeit der Kontrolle leicht zur Beförderung des Betriebes mit gestohlnen und
gefälschten Sachen mißbraucht werden. Das mit dieser Form des Gewerbe¬
betriebes verbundne Betreten der Häuser wird leicht zum Auskundschafter von
Gelegenheit zum Diebstahl benutzt, und die Leichtigkeit, den Nachforschungen
des betrognen Käufers zu entgehen, kaun zur Erleichterung des Betruges mi߬
braucht werden." In den Konkurrenzkampf zwischen dem ansässigen Gewerbe
und den Hcmsirern will die Gesetzgebung nicht entscheidend eingreifen.

Das stehende Handelsgewerbe ist ja allerdings, namentlich in den kleinern
und mittlern Betrieben, durch die neuere Entwicklung, die der Zwischenhandel
mit dem Aufblühen der Konsumvereine, Magazine und Versandtgeschäfte und
besonders auch durch die Entfaltung des Wandergewerbes genommen hat, schwer
bedroht; die Konkurrenz dieser Geschäfte unter einander ist sehr stark -- hat
doch von 1875 bis 1882 die Zahl der Geschäfte mit Manufaktur- und Schund¬
waren um 6,63 Prozent, mit Kurz- und Galanteriewaren um 9,36 Prozent,
mit Cigarren und Tabak um 30,41 Prozent, mit Kolonial- und Eßwaren um
33,37 Prozent zugenommen (Bevölkerungszuwachs 6,88 Prozent). Die sozial¬
politische Gesetzgebung hat diesen Betrieben manche Lasten auferlegt, die
Gesetzgebung über die Sonntagsruhe hat den stehenden Geschäften in den
kleinern Städten doch wohl einigen materiellen Schaden gebracht: die Arbeiter
und kleinen Leute, die ihren Bedarf an Waren am Sonntag zu decken pflegten
und in den fünf Verkaufsstunden jetzt nicht immer ihre Einkäufe zu erledigen
wiffen, werden vom Hausirer, der ihnen mit einiger Zähigkeit zur Arbeits¬
stätte oder zur Wohnung folgt, mit allem versehen, was sie haben wollen.
Freilich heißt es, daß sie oft mit schlechten und teuern Erzeugnissen einer auf
den Hausirhandel begründeten "Schund"industrie hineingelegt und im Hand¬
umdrehen auch mit unnötigen Gegenständen beglückt werden. Außerdem spielt
bei der Abschätzung der Werte im Interessenkonflikt zwischen dein stehenden
Handelsgewerbe und Handwerk einerseits und dem Wandergewerbe andrerseits
bei vielen auch ein politischer Gedanke mit, nämlich der, daß wenn der Staat
einen gesunden Mittelstand erhalten wolle, er in seinem eignen Interesse be¬
rechtigt und verpflichtet sei, das im Dienste des Großkapitals stehende Lohn-
hausirertnm zu beschränken und das ansässige Gewerbe, das weit mehr an


Das Wandergewerbe

werbeordnungsnovelle vom 1. Juli 1883 ausgedrückten Bestrebungen, der
zügellosen Freiheit des Hausirhandels, des Stadthausirens, des Detailreisens,
der Kolportage, der Wanderlager und Wanderauktionen die im Interesse eines
anständigen Geschäftsgebahrens und der öffentlichen Sicherheit notwendigen
Schranken zu setzen. In erster Linie handelt es sich bei den Maßnahmen
der Regierungen um sicherheitspolizeiliche Rücksichten, wie sie schon in der
Begründung zur Gewerbeordnung von 1869 geltend gemacht worden sind. Dort
wurde über den Hausirhandel gesagt: „Der Gewerbebetrieb im Umherziehen bildet
leicht den Vorwand für Bettelei und Unsittlichkeit; er kann wegen der Schwie¬
rigkeit der Kontrolle leicht zur Beförderung des Betriebes mit gestohlnen und
gefälschten Sachen mißbraucht werden. Das mit dieser Form des Gewerbe¬
betriebes verbundne Betreten der Häuser wird leicht zum Auskundschafter von
Gelegenheit zum Diebstahl benutzt, und die Leichtigkeit, den Nachforschungen
des betrognen Käufers zu entgehen, kaun zur Erleichterung des Betruges mi߬
braucht werden." In den Konkurrenzkampf zwischen dem ansässigen Gewerbe
und den Hcmsirern will die Gesetzgebung nicht entscheidend eingreifen.

Das stehende Handelsgewerbe ist ja allerdings, namentlich in den kleinern
und mittlern Betrieben, durch die neuere Entwicklung, die der Zwischenhandel
mit dem Aufblühen der Konsumvereine, Magazine und Versandtgeschäfte und
besonders auch durch die Entfaltung des Wandergewerbes genommen hat, schwer
bedroht; die Konkurrenz dieser Geschäfte unter einander ist sehr stark — hat
doch von 1875 bis 1882 die Zahl der Geschäfte mit Manufaktur- und Schund¬
waren um 6,63 Prozent, mit Kurz- und Galanteriewaren um 9,36 Prozent,
mit Cigarren und Tabak um 30,41 Prozent, mit Kolonial- und Eßwaren um
33,37 Prozent zugenommen (Bevölkerungszuwachs 6,88 Prozent). Die sozial¬
politische Gesetzgebung hat diesen Betrieben manche Lasten auferlegt, die
Gesetzgebung über die Sonntagsruhe hat den stehenden Geschäften in den
kleinern Städten doch wohl einigen materiellen Schaden gebracht: die Arbeiter
und kleinen Leute, die ihren Bedarf an Waren am Sonntag zu decken pflegten
und in den fünf Verkaufsstunden jetzt nicht immer ihre Einkäufe zu erledigen
wiffen, werden vom Hausirer, der ihnen mit einiger Zähigkeit zur Arbeits¬
stätte oder zur Wohnung folgt, mit allem versehen, was sie haben wollen.
Freilich heißt es, daß sie oft mit schlechten und teuern Erzeugnissen einer auf
den Hausirhandel begründeten „Schund"industrie hineingelegt und im Hand¬
umdrehen auch mit unnötigen Gegenständen beglückt werden. Außerdem spielt
bei der Abschätzung der Werte im Interessenkonflikt zwischen dein stehenden
Handelsgewerbe und Handwerk einerseits und dem Wandergewerbe andrerseits
bei vielen auch ein politischer Gedanke mit, nämlich der, daß wenn der Staat
einen gesunden Mittelstand erhalten wolle, er in seinem eignen Interesse be¬
rechtigt und verpflichtet sei, das im Dienste des Großkapitals stehende Lohn-
hausirertnm zu beschränken und das ansässige Gewerbe, das weit mehr an


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[0622] Das Wandergewerbe werbeordnungsnovelle vom 1. Juli 1883 ausgedrückten Bestrebungen, der zügellosen Freiheit des Hausirhandels, des Stadthausirens, des Detailreisens, der Kolportage, der Wanderlager und Wanderauktionen die im Interesse eines anständigen Geschäftsgebahrens und der öffentlichen Sicherheit notwendigen Schranken zu setzen. In erster Linie handelt es sich bei den Maßnahmen der Regierungen um sicherheitspolizeiliche Rücksichten, wie sie schon in der Begründung zur Gewerbeordnung von 1869 geltend gemacht worden sind. Dort wurde über den Hausirhandel gesagt: „Der Gewerbebetrieb im Umherziehen bildet leicht den Vorwand für Bettelei und Unsittlichkeit; er kann wegen der Schwie¬ rigkeit der Kontrolle leicht zur Beförderung des Betriebes mit gestohlnen und gefälschten Sachen mißbraucht werden. Das mit dieser Form des Gewerbe¬ betriebes verbundne Betreten der Häuser wird leicht zum Auskundschafter von Gelegenheit zum Diebstahl benutzt, und die Leichtigkeit, den Nachforschungen des betrognen Käufers zu entgehen, kaun zur Erleichterung des Betruges mi߬ braucht werden." In den Konkurrenzkampf zwischen dem ansässigen Gewerbe und den Hcmsirern will die Gesetzgebung nicht entscheidend eingreifen. Das stehende Handelsgewerbe ist ja allerdings, namentlich in den kleinern und mittlern Betrieben, durch die neuere Entwicklung, die der Zwischenhandel mit dem Aufblühen der Konsumvereine, Magazine und Versandtgeschäfte und besonders auch durch die Entfaltung des Wandergewerbes genommen hat, schwer bedroht; die Konkurrenz dieser Geschäfte unter einander ist sehr stark — hat doch von 1875 bis 1882 die Zahl der Geschäfte mit Manufaktur- und Schund¬ waren um 6,63 Prozent, mit Kurz- und Galanteriewaren um 9,36 Prozent, mit Cigarren und Tabak um 30,41 Prozent, mit Kolonial- und Eßwaren um 33,37 Prozent zugenommen (Bevölkerungszuwachs 6,88 Prozent). Die sozial¬ politische Gesetzgebung hat diesen Betrieben manche Lasten auferlegt, die Gesetzgebung über die Sonntagsruhe hat den stehenden Geschäften in den kleinern Städten doch wohl einigen materiellen Schaden gebracht: die Arbeiter und kleinen Leute, die ihren Bedarf an Waren am Sonntag zu decken pflegten und in den fünf Verkaufsstunden jetzt nicht immer ihre Einkäufe zu erledigen wiffen, werden vom Hausirer, der ihnen mit einiger Zähigkeit zur Arbeits¬ stätte oder zur Wohnung folgt, mit allem versehen, was sie haben wollen. Freilich heißt es, daß sie oft mit schlechten und teuern Erzeugnissen einer auf den Hausirhandel begründeten „Schund"industrie hineingelegt und im Hand¬ umdrehen auch mit unnötigen Gegenständen beglückt werden. Außerdem spielt bei der Abschätzung der Werte im Interessenkonflikt zwischen dein stehenden Handelsgewerbe und Handwerk einerseits und dem Wandergewerbe andrerseits bei vielen auch ein politischer Gedanke mit, nämlich der, daß wenn der Staat einen gesunden Mittelstand erhalten wolle, er in seinem eignen Interesse be¬ rechtigt und verpflichtet sei, das im Dienste des Großkapitals stehende Lohn- hausirertnm zu beschränken und das ansässige Gewerbe, das weit mehr an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/622>, abgerufen am 22.07.2024.