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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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behrte. Er that es zunächst von jener politischen Auffassung des Staatslebens
aus, die sich immer und überall mit der sozialen kreuzen wird. Von dem
Verhältnis beider hängt die innere Entwicklung jedes Volkes ab. Wenn die
soziale Auffassung die wirtschaftliche Sicherung aller Klassen, zumal der
schwächern, als Ziel hinstellt, also das Wohl des Einzelnen, und darüber
häusig vergißt, daß der Staat vor allem Macht ist und nicht eine große Ver¬
sicherungsanstalt, stellt der harte Politiker die Erwerbung und Behauptung
der Macht in den Vordergrund und verfolgt dies Ziel zuweilen selbst auf
Kosten des Wohles großer Bevölkerungsgruppen, die zunächst von dem Genuß
dieser Macht ausgeschlossen sind. Ein geistreicher Shakespearesorscher hat
kürzlich einmal diesen Gegensatz in dem Verhältnis Coriolnns zur römischen Plebs
treffend nachgewiesen. Der stolze Patrizier, voll eines ungeheuern, aber durchaus
berechtigten Selbstgefühls, will die Macht Roms um jeden, auch den höchsten
Preis steigern und fragt nicht darnach, ob der unselbständige, feige, schmutzige
Pöbel, als den der Dichter die römische Plebs, freilich sehr ungeschichtlich,
zeichnet, darunter leidet und hungert; und deren Wortführern wieder sind die
Siege und Eroberungen gleichgültig, die dem Volk scheinbar nichts bringen
als Kriegsnot und Teuerung. Im ganzen wird man sage" können, daß in
allen aristokratischen Zeiten die politische Auffassung des Staates überwiegt,
in demokratischen die soziale. Im Altertum und im Mittelalter herrscht demnach
fast immer die erste; der Staat wird regiert lediglich im Interesse der herr¬
schenden Stände, im Altertum einer kleinen aristokratischen Kaste oder einer
bürgerlichen Massenaristokratie über Halbfreien oder Unfreien, im Mittelalter
zum ausschließlichen Vorteil des Klerus und des Adels, und beide Zeiträume
sind erfüllt vou endlosen Kämpfen um Macht und Besitz. Erst das auf¬
kommende Bürgertum bringt gegen Ende des Mittelalters ein soziales Interesse
zur Geltung. Aber als es dies für sich selbst befriedigt hat, gesellt es sich
den Herrschenden bei. Daher tragen auch die ersten Jahrhunderte der Neuzeit
noch ein aristokratisches Gepräge und den Charakter der Gleichgiltigkeit gegen
die sozialen Aufgaben des Staats. Erst mit der zunehmenden Demokratisirung
in der neuesten Zeit, mit dem Aufsteigen der breiten Volksschichten zu stürkerm
Selbstbewußtsein begann eine soziale Auffassung des Staats sich anzubahnen
und endlich zu überwiegen. Damit aber stieg eine andre Gefahr empor, die
Gleichgiltigkeit gegen die politische Macht. Es ist die Aufgabe jeder Regierung,
und heute mehr als je, zwischen beiden Richtungen das Gleichgewicht her¬
zustellen, das Übergewicht der einen oder der andern zu verhindern. Aber nur
eine starke Regierung kann diese schwierigste aller Aufgaben lösen, eine wirk¬
liche Monarchie, die unabhängig ist von der unseligen Mehrheitsherrschaft,
von der Rücksicht auf den Beifall des großen Haufens.

Da ist es nun die weltgeschichtliche Bedeutung des Fürsten Bismarck, daß
er als Minister eines echten Monarchen, der ein König war vom Scheitel bis


behrte. Er that es zunächst von jener politischen Auffassung des Staatslebens
aus, die sich immer und überall mit der sozialen kreuzen wird. Von dem
Verhältnis beider hängt die innere Entwicklung jedes Volkes ab. Wenn die
soziale Auffassung die wirtschaftliche Sicherung aller Klassen, zumal der
schwächern, als Ziel hinstellt, also das Wohl des Einzelnen, und darüber
häusig vergißt, daß der Staat vor allem Macht ist und nicht eine große Ver¬
sicherungsanstalt, stellt der harte Politiker die Erwerbung und Behauptung
der Macht in den Vordergrund und verfolgt dies Ziel zuweilen selbst auf
Kosten des Wohles großer Bevölkerungsgruppen, die zunächst von dem Genuß
dieser Macht ausgeschlossen sind. Ein geistreicher Shakespearesorscher hat
kürzlich einmal diesen Gegensatz in dem Verhältnis Coriolnns zur römischen Plebs
treffend nachgewiesen. Der stolze Patrizier, voll eines ungeheuern, aber durchaus
berechtigten Selbstgefühls, will die Macht Roms um jeden, auch den höchsten
Preis steigern und fragt nicht darnach, ob der unselbständige, feige, schmutzige
Pöbel, als den der Dichter die römische Plebs, freilich sehr ungeschichtlich,
zeichnet, darunter leidet und hungert; und deren Wortführern wieder sind die
Siege und Eroberungen gleichgültig, die dem Volk scheinbar nichts bringen
als Kriegsnot und Teuerung. Im ganzen wird man sage» können, daß in
allen aristokratischen Zeiten die politische Auffassung des Staates überwiegt,
in demokratischen die soziale. Im Altertum und im Mittelalter herrscht demnach
fast immer die erste; der Staat wird regiert lediglich im Interesse der herr¬
schenden Stände, im Altertum einer kleinen aristokratischen Kaste oder einer
bürgerlichen Massenaristokratie über Halbfreien oder Unfreien, im Mittelalter
zum ausschließlichen Vorteil des Klerus und des Adels, und beide Zeiträume
sind erfüllt vou endlosen Kämpfen um Macht und Besitz. Erst das auf¬
kommende Bürgertum bringt gegen Ende des Mittelalters ein soziales Interesse
zur Geltung. Aber als es dies für sich selbst befriedigt hat, gesellt es sich
den Herrschenden bei. Daher tragen auch die ersten Jahrhunderte der Neuzeit
noch ein aristokratisches Gepräge und den Charakter der Gleichgiltigkeit gegen
die sozialen Aufgaben des Staats. Erst mit der zunehmenden Demokratisirung
in der neuesten Zeit, mit dem Aufsteigen der breiten Volksschichten zu stürkerm
Selbstbewußtsein begann eine soziale Auffassung des Staats sich anzubahnen
und endlich zu überwiegen. Damit aber stieg eine andre Gefahr empor, die
Gleichgiltigkeit gegen die politische Macht. Es ist die Aufgabe jeder Regierung,
und heute mehr als je, zwischen beiden Richtungen das Gleichgewicht her¬
zustellen, das Übergewicht der einen oder der andern zu verhindern. Aber nur
eine starke Regierung kann diese schwierigste aller Aufgaben lösen, eine wirk¬
liche Monarchie, die unabhängig ist von der unseligen Mehrheitsherrschaft,
von der Rücksicht auf den Beifall des großen Haufens.

Da ist es nun die weltgeschichtliche Bedeutung des Fürsten Bismarck, daß
er als Minister eines echten Monarchen, der ein König war vom Scheitel bis


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/618>, abgerufen am 25.08.2024.