Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zum achtzigsten Geburtstage des Fürsten Bismarck

fühlen, nicht? Nein. Bei den städtischen Massen, die mehr und mehr der so¬
zialdemokratischen Führung verfallen, ohne immer oder vielleicht auch nur vor¬
wiegend wirklich Sozialdemokraten zu sein, tiberwiegt der soziale Gedanke
bei weitem den nationalen, und mindestens die große Mehrheit der Zen¬
trumswähler wird allzusehr beherrscht von dem Gedanken der Zugehörigkeit zu
ihrer internationalen Kirche, deren schlimmsten Feind in dem Kanzler als angeb¬
lichen Urheber des Kulturkampfes zu sehen sie seit langer Zeit planmäßig ge¬
wöhnt worden sind, als daß sie schlechtweg national empfinden konnten, ob¬
wohl eben jetzt zahlreiche katholische Stadtgemeinden beweisen, daß gut katho¬
lisch und gut deutsch sein sich verträgt. Wir bestreiten natürlich diesen unsern
Volksgenossen uicht das Recht, Deutsche zu sein, aber wir müssen ihnen,
solange sie ihren internationalen oder einseitig sozialen Standpunkt fest¬
halten, aufs bestimmteste das Recht bestreiten, die Geschicke der Nation zu
entscheiden, denn sie wollen beide keinen nationalen Staat, wie wir ihn
wollen müssen, wenn wir nicht zu Grunde gehen wollen. Es mag traurig
sein, daß in Deutschland diese Elemente so stark sind, aber es hängt das
teils mit unserm verworrnen Entwicklungsgange, teils mit unsrer ganzen
Volksart zusammen und muß zunächst als ein unabwendbares Verhängnis
hingenommen werden. Aber unter allen Umständen muß verhindert werden,
daß sie die Herrschaft gewinnen. Sind doch in der That die Staaten in den
seltensten Fällen gelenkt worden durch die Mehrheit, die immer mehr ihren
Instinkten und ihren nächsten Bedürfnissen, als klaren Vorstellungen und Er¬
wägungen folgt, in den meisten Füllen durch eine denkende, gebildete Minder¬
heit, die nur niemals vergessen darf, daß sie auch für die Mehrheit zu denken
und zu sorgen hat, und daß der Staat nicht allein für sie da ist. Der Reichs¬
tag nun ist dank dem allgemeinen Stimmrecht vielleicht das Spiegelbild der
Anschauungen und Stimmungen, die in breiten Volksschichten vorherrschen, aber
seine Mehrheit wird noch weniger durch sie als durch die jammervollen "partei¬
taktischen" Rücksichten beherrscht, die alle hohen Gesichtspunkte verdrängen und
keinen Schwung mehr in den Gemütern aufkommen lassen. Daher schlägt das
Herz der deutschen Nation nicht im deutschen Reichstage, und wenn er es jetzt
nicht über sich gebracht hat, alten Groll und Hader zu vergessen in dankbarer
Erinnerung an den einen, dem er selber sein Dasein verdankt, so füllt der
Schimpf dieses Vorgangs nur auf ihn selbst zurück und trifft nicht den, dem
er eine selbstverständliche Ehrenbezeugung verweigert hat.

Doch genug von diesem kläglichen Schauspiel einer sogenannten Volks¬
vertretung, die sich immer weiter von dem Ideal entfernt hat, die Blüte unsrer
Volksgenossen zu vereinigen, und die jetzt den tiefsten Stand ihres Ansehens
erreicht hat. Am 1. April wird es vergessen sein angesichts der überwältigenden
Kundgebungen einer Liebe und Verehrung, wie sie kein Deutscher in solcher
Weise jemals erfahren hat, angesichts der Hunderttausende, die sich allerorten,


Zum achtzigsten Geburtstage des Fürsten Bismarck

fühlen, nicht? Nein. Bei den städtischen Massen, die mehr und mehr der so¬
zialdemokratischen Führung verfallen, ohne immer oder vielleicht auch nur vor¬
wiegend wirklich Sozialdemokraten zu sein, tiberwiegt der soziale Gedanke
bei weitem den nationalen, und mindestens die große Mehrheit der Zen¬
trumswähler wird allzusehr beherrscht von dem Gedanken der Zugehörigkeit zu
ihrer internationalen Kirche, deren schlimmsten Feind in dem Kanzler als angeb¬
lichen Urheber des Kulturkampfes zu sehen sie seit langer Zeit planmäßig ge¬
wöhnt worden sind, als daß sie schlechtweg national empfinden konnten, ob¬
wohl eben jetzt zahlreiche katholische Stadtgemeinden beweisen, daß gut katho¬
lisch und gut deutsch sein sich verträgt. Wir bestreiten natürlich diesen unsern
Volksgenossen uicht das Recht, Deutsche zu sein, aber wir müssen ihnen,
solange sie ihren internationalen oder einseitig sozialen Standpunkt fest¬
halten, aufs bestimmteste das Recht bestreiten, die Geschicke der Nation zu
entscheiden, denn sie wollen beide keinen nationalen Staat, wie wir ihn
wollen müssen, wenn wir nicht zu Grunde gehen wollen. Es mag traurig
sein, daß in Deutschland diese Elemente so stark sind, aber es hängt das
teils mit unserm verworrnen Entwicklungsgange, teils mit unsrer ganzen
Volksart zusammen und muß zunächst als ein unabwendbares Verhängnis
hingenommen werden. Aber unter allen Umständen muß verhindert werden,
daß sie die Herrschaft gewinnen. Sind doch in der That die Staaten in den
seltensten Fällen gelenkt worden durch die Mehrheit, die immer mehr ihren
Instinkten und ihren nächsten Bedürfnissen, als klaren Vorstellungen und Er¬
wägungen folgt, in den meisten Füllen durch eine denkende, gebildete Minder¬
heit, die nur niemals vergessen darf, daß sie auch für die Mehrheit zu denken
und zu sorgen hat, und daß der Staat nicht allein für sie da ist. Der Reichs¬
tag nun ist dank dem allgemeinen Stimmrecht vielleicht das Spiegelbild der
Anschauungen und Stimmungen, die in breiten Volksschichten vorherrschen, aber
seine Mehrheit wird noch weniger durch sie als durch die jammervollen „partei¬
taktischen" Rücksichten beherrscht, die alle hohen Gesichtspunkte verdrängen und
keinen Schwung mehr in den Gemütern aufkommen lassen. Daher schlägt das
Herz der deutschen Nation nicht im deutschen Reichstage, und wenn er es jetzt
nicht über sich gebracht hat, alten Groll und Hader zu vergessen in dankbarer
Erinnerung an den einen, dem er selber sein Dasein verdankt, so füllt der
Schimpf dieses Vorgangs nur auf ihn selbst zurück und trifft nicht den, dem
er eine selbstverständliche Ehrenbezeugung verweigert hat.

Doch genug von diesem kläglichen Schauspiel einer sogenannten Volks¬
vertretung, die sich immer weiter von dem Ideal entfernt hat, die Blüte unsrer
Volksgenossen zu vereinigen, und die jetzt den tiefsten Stand ihres Ansehens
erreicht hat. Am 1. April wird es vergessen sein angesichts der überwältigenden
Kundgebungen einer Liebe und Verehrung, wie sie kein Deutscher in solcher
Weise jemals erfahren hat, angesichts der Hunderttausende, die sich allerorten,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0616" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219620"/>
          <fw type="header" place="top"> Zum achtzigsten Geburtstage des Fürsten Bismarck</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1925" prev="#ID_1924"> fühlen, nicht? Nein. Bei den städtischen Massen, die mehr und mehr der so¬<lb/>
zialdemokratischen Führung verfallen, ohne immer oder vielleicht auch nur vor¬<lb/>
wiegend wirklich Sozialdemokraten zu sein, tiberwiegt der soziale Gedanke<lb/>
bei weitem den nationalen, und mindestens die große Mehrheit der Zen¬<lb/>
trumswähler wird allzusehr beherrscht von dem Gedanken der Zugehörigkeit zu<lb/>
ihrer internationalen Kirche, deren schlimmsten Feind in dem Kanzler als angeb¬<lb/>
lichen Urheber des Kulturkampfes zu sehen sie seit langer Zeit planmäßig ge¬<lb/>
wöhnt worden sind, als daß sie schlechtweg national empfinden konnten, ob¬<lb/>
wohl eben jetzt zahlreiche katholische Stadtgemeinden beweisen, daß gut katho¬<lb/>
lisch und gut deutsch sein sich verträgt. Wir bestreiten natürlich diesen unsern<lb/>
Volksgenossen uicht das Recht, Deutsche zu sein, aber wir müssen ihnen,<lb/>
solange sie ihren internationalen oder einseitig sozialen Standpunkt fest¬<lb/>
halten, aufs bestimmteste das Recht bestreiten, die Geschicke der Nation zu<lb/>
entscheiden, denn sie wollen beide keinen nationalen Staat, wie wir ihn<lb/>
wollen müssen, wenn wir nicht zu Grunde gehen wollen. Es mag traurig<lb/>
sein, daß in Deutschland diese Elemente so stark sind, aber es hängt das<lb/>
teils mit unserm verworrnen Entwicklungsgange, teils mit unsrer ganzen<lb/>
Volksart zusammen und muß zunächst als ein unabwendbares Verhängnis<lb/>
hingenommen werden. Aber unter allen Umständen muß verhindert werden,<lb/>
daß sie die Herrschaft gewinnen. Sind doch in der That die Staaten in den<lb/>
seltensten Fällen gelenkt worden durch die Mehrheit, die immer mehr ihren<lb/>
Instinkten und ihren nächsten Bedürfnissen, als klaren Vorstellungen und Er¬<lb/>
wägungen folgt, in den meisten Füllen durch eine denkende, gebildete Minder¬<lb/>
heit, die nur niemals vergessen darf, daß sie auch für die Mehrheit zu denken<lb/>
und zu sorgen hat, und daß der Staat nicht allein für sie da ist. Der Reichs¬<lb/>
tag nun ist dank dem allgemeinen Stimmrecht vielleicht das Spiegelbild der<lb/>
Anschauungen und Stimmungen, die in breiten Volksschichten vorherrschen, aber<lb/>
seine Mehrheit wird noch weniger durch sie als durch die jammervollen &#x201E;partei¬<lb/>
taktischen" Rücksichten beherrscht, die alle hohen Gesichtspunkte verdrängen und<lb/>
keinen Schwung mehr in den Gemütern aufkommen lassen. Daher schlägt das<lb/>
Herz der deutschen Nation nicht im deutschen Reichstage, und wenn er es jetzt<lb/>
nicht über sich gebracht hat, alten Groll und Hader zu vergessen in dankbarer<lb/>
Erinnerung an den einen, dem er selber sein Dasein verdankt, so füllt der<lb/>
Schimpf dieses Vorgangs nur auf ihn selbst zurück und trifft nicht den, dem<lb/>
er eine selbstverständliche Ehrenbezeugung verweigert hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1926" next="#ID_1927"> Doch genug von diesem kläglichen Schauspiel einer sogenannten Volks¬<lb/>
vertretung, die sich immer weiter von dem Ideal entfernt hat, die Blüte unsrer<lb/>
Volksgenossen zu vereinigen, und die jetzt den tiefsten Stand ihres Ansehens<lb/>
erreicht hat. Am 1. April wird es vergessen sein angesichts der überwältigenden<lb/>
Kundgebungen einer Liebe und Verehrung, wie sie kein Deutscher in solcher<lb/>
Weise jemals erfahren hat, angesichts der Hunderttausende, die sich allerorten,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0616] Zum achtzigsten Geburtstage des Fürsten Bismarck fühlen, nicht? Nein. Bei den städtischen Massen, die mehr und mehr der so¬ zialdemokratischen Führung verfallen, ohne immer oder vielleicht auch nur vor¬ wiegend wirklich Sozialdemokraten zu sein, tiberwiegt der soziale Gedanke bei weitem den nationalen, und mindestens die große Mehrheit der Zen¬ trumswähler wird allzusehr beherrscht von dem Gedanken der Zugehörigkeit zu ihrer internationalen Kirche, deren schlimmsten Feind in dem Kanzler als angeb¬ lichen Urheber des Kulturkampfes zu sehen sie seit langer Zeit planmäßig ge¬ wöhnt worden sind, als daß sie schlechtweg national empfinden konnten, ob¬ wohl eben jetzt zahlreiche katholische Stadtgemeinden beweisen, daß gut katho¬ lisch und gut deutsch sein sich verträgt. Wir bestreiten natürlich diesen unsern Volksgenossen uicht das Recht, Deutsche zu sein, aber wir müssen ihnen, solange sie ihren internationalen oder einseitig sozialen Standpunkt fest¬ halten, aufs bestimmteste das Recht bestreiten, die Geschicke der Nation zu entscheiden, denn sie wollen beide keinen nationalen Staat, wie wir ihn wollen müssen, wenn wir nicht zu Grunde gehen wollen. Es mag traurig sein, daß in Deutschland diese Elemente so stark sind, aber es hängt das teils mit unserm verworrnen Entwicklungsgange, teils mit unsrer ganzen Volksart zusammen und muß zunächst als ein unabwendbares Verhängnis hingenommen werden. Aber unter allen Umständen muß verhindert werden, daß sie die Herrschaft gewinnen. Sind doch in der That die Staaten in den seltensten Fällen gelenkt worden durch die Mehrheit, die immer mehr ihren Instinkten und ihren nächsten Bedürfnissen, als klaren Vorstellungen und Er¬ wägungen folgt, in den meisten Füllen durch eine denkende, gebildete Minder¬ heit, die nur niemals vergessen darf, daß sie auch für die Mehrheit zu denken und zu sorgen hat, und daß der Staat nicht allein für sie da ist. Der Reichs¬ tag nun ist dank dem allgemeinen Stimmrecht vielleicht das Spiegelbild der Anschauungen und Stimmungen, die in breiten Volksschichten vorherrschen, aber seine Mehrheit wird noch weniger durch sie als durch die jammervollen „partei¬ taktischen" Rücksichten beherrscht, die alle hohen Gesichtspunkte verdrängen und keinen Schwung mehr in den Gemütern aufkommen lassen. Daher schlägt das Herz der deutschen Nation nicht im deutschen Reichstage, und wenn er es jetzt nicht über sich gebracht hat, alten Groll und Hader zu vergessen in dankbarer Erinnerung an den einen, dem er selber sein Dasein verdankt, so füllt der Schimpf dieses Vorgangs nur auf ihn selbst zurück und trifft nicht den, dem er eine selbstverständliche Ehrenbezeugung verweigert hat. Doch genug von diesem kläglichen Schauspiel einer sogenannten Volks¬ vertretung, die sich immer weiter von dem Ideal entfernt hat, die Blüte unsrer Volksgenossen zu vereinigen, und die jetzt den tiefsten Stand ihres Ansehens erreicht hat. Am 1. April wird es vergessen sein angesichts der überwältigenden Kundgebungen einer Liebe und Verehrung, wie sie kein Deutscher in solcher Weise jemals erfahren hat, angesichts der Hunderttausende, die sich allerorten,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/616
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/616>, abgerufen am 22.07.2024.