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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

Angelegenheit in Ordnung zu bringen, ehe Rußland seine sibirische Bahn fertig
hätte; für Jahre kaun Nußland in der Amurprovinz noch keine Truppenmacht
vereinigen, die wesentlich über die 22 schwachen Bataillone und 3 Kosaken¬
abteilungen der sogenannten ostsibirischen Abteilung hinaufginge. Außerdem
braucht Japan für seinen Meuschenüberfluß höchst notwendig Land und durfte
die mit dem Bahnbau rascher fortschreitende Kolonisation Rußlands nicht an
sich herankommen lassen. Daß die Japaner gegen den Willen des mächtigen
Rußlands ihre Absicht so ganz durchgeführt haben, zeigt, daß sie eben so
kühn zu planen wie zu fechten wissen. Ob Rußland nun noch seinen eisfreien
Hafen an der koreanischen Küste erhalten wird, der ihm mit der sibirischen
Bahn sicher war, wird abzuwarten sein. England wird dann Quelpart oder
einen andern Stützpunkt im Japanischen Meere beanspruchen. Aber wenn auch
beide Wünsche in Erfüllung gingen, was noch sehr zweifelhaft ist, eine neue
paeifische Seemacht steht England gerade da gegenüber, wo es bisher, auf
fein Hongkong gestützt, fast schrankenlos waltete: im westlichen Stillen Ozean
bis zur russischen Grenze. Jede neue Seemacht ist diesem England, dessen
Flotte vor 80 Jahren die einzige kriegstüchtige der Erde war, ein Dorn
im Auge! Und wie ganz anders ist einem starken Japan gegenüber die
bisher beherrschend freie Stellung der Russen in Wladiwostok! Doch Japan,
meint man, wäre noch unterzukriegen; aber hinter Japan stehen die Ver¬
einigten Staaten, die jede europäische Macht an Einfluß in Tokio übertreffen
und als paeifische Macht längst eine Interessengemeinschaft mit Japan und
China proklamirt haben, die sich selbst in den Köpfen von Diplomaten zu
einer Art von pacifischer Monroedottrin ausbilden konnte. Man vergleiche
die in Europa zu ihrer Zeit viel zu wenig beachteten Äußerungen des Ge¬
neral U. S. Grant auf seiner ostasiatischen Reise und die Berichte des
Russell Aonng, der Ende der achtziger Jahre Gesandter der Vereinigten
Staaten in Peking war; die einen sind in dem dicken Buch über Graues
Weltreise begraben, die andern findet man in der Uortd ^iruzrioan Lsvisv
von 1890. Daß beiden Mächten, deren Größe auf der Niederhaltung von
Millionen von Asiaten beruht, das Aufkommen einer selbständigen asiatischen
Macht unbequem ist, liegt auf der Hand; aber eine so tiefliegende Thatsache
schafft noch keine praktische Gemeinsamkeit der Interessen. Wenn das wäre,
dann müßte sich ja auch die Sympathie, die wir als mittlerer Staat mit
Japans Kampf gegen einen plumpen Niesen empfinden, zu der Interessen-
gemeinschaft verdichten, deren Gefühl der Graf Aoki so gern in der deutschen
Presse wachgerufen hätte. Zum Teil ist es ihm auch gelungen. Sie könnte
später einmal zu Tage treten, heute liegen auch ihre Wurzeln noch zu tief.

Was soll der Lärm? fragt sich der kontinentale Leser, hauptsächlich der
deutsche, der gute Deutsche, der schon seit mehr als hundert Jahren, der aufmerk¬
samste Beobachter aller Regungen dieser interessanten Volksseele ist. Seine eignen


Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

Angelegenheit in Ordnung zu bringen, ehe Rußland seine sibirische Bahn fertig
hätte; für Jahre kaun Nußland in der Amurprovinz noch keine Truppenmacht
vereinigen, die wesentlich über die 22 schwachen Bataillone und 3 Kosaken¬
abteilungen der sogenannten ostsibirischen Abteilung hinaufginge. Außerdem
braucht Japan für seinen Meuschenüberfluß höchst notwendig Land und durfte
die mit dem Bahnbau rascher fortschreitende Kolonisation Rußlands nicht an
sich herankommen lassen. Daß die Japaner gegen den Willen des mächtigen
Rußlands ihre Absicht so ganz durchgeführt haben, zeigt, daß sie eben so
kühn zu planen wie zu fechten wissen. Ob Rußland nun noch seinen eisfreien
Hafen an der koreanischen Küste erhalten wird, der ihm mit der sibirischen
Bahn sicher war, wird abzuwarten sein. England wird dann Quelpart oder
einen andern Stützpunkt im Japanischen Meere beanspruchen. Aber wenn auch
beide Wünsche in Erfüllung gingen, was noch sehr zweifelhaft ist, eine neue
paeifische Seemacht steht England gerade da gegenüber, wo es bisher, auf
fein Hongkong gestützt, fast schrankenlos waltete: im westlichen Stillen Ozean
bis zur russischen Grenze. Jede neue Seemacht ist diesem England, dessen
Flotte vor 80 Jahren die einzige kriegstüchtige der Erde war, ein Dorn
im Auge! Und wie ganz anders ist einem starken Japan gegenüber die
bisher beherrschend freie Stellung der Russen in Wladiwostok! Doch Japan,
meint man, wäre noch unterzukriegen; aber hinter Japan stehen die Ver¬
einigten Staaten, die jede europäische Macht an Einfluß in Tokio übertreffen
und als paeifische Macht längst eine Interessengemeinschaft mit Japan und
China proklamirt haben, die sich selbst in den Köpfen von Diplomaten zu
einer Art von pacifischer Monroedottrin ausbilden konnte. Man vergleiche
die in Europa zu ihrer Zeit viel zu wenig beachteten Äußerungen des Ge¬
neral U. S. Grant auf seiner ostasiatischen Reise und die Berichte des
Russell Aonng, der Ende der achtziger Jahre Gesandter der Vereinigten
Staaten in Peking war; die einen sind in dem dicken Buch über Graues
Weltreise begraben, die andern findet man in der Uortd ^iruzrioan Lsvisv
von 1890. Daß beiden Mächten, deren Größe auf der Niederhaltung von
Millionen von Asiaten beruht, das Aufkommen einer selbständigen asiatischen
Macht unbequem ist, liegt auf der Hand; aber eine so tiefliegende Thatsache
schafft noch keine praktische Gemeinsamkeit der Interessen. Wenn das wäre,
dann müßte sich ja auch die Sympathie, die wir als mittlerer Staat mit
Japans Kampf gegen einen plumpen Niesen empfinden, zu der Interessen-
gemeinschaft verdichten, deren Gefühl der Graf Aoki so gern in der deutschen
Presse wachgerufen hätte. Zum Teil ist es ihm auch gelungen. Sie könnte
später einmal zu Tage treten, heute liegen auch ihre Wurzeln noch zu tief.

Was soll der Lärm? fragt sich der kontinentale Leser, hauptsächlich der
deutsche, der gute Deutsche, der schon seit mehr als hundert Jahren, der aufmerk¬
samste Beobachter aller Regungen dieser interessanten Volksseele ist. Seine eignen


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[0060] Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik Angelegenheit in Ordnung zu bringen, ehe Rußland seine sibirische Bahn fertig hätte; für Jahre kaun Nußland in der Amurprovinz noch keine Truppenmacht vereinigen, die wesentlich über die 22 schwachen Bataillone und 3 Kosaken¬ abteilungen der sogenannten ostsibirischen Abteilung hinaufginge. Außerdem braucht Japan für seinen Meuschenüberfluß höchst notwendig Land und durfte die mit dem Bahnbau rascher fortschreitende Kolonisation Rußlands nicht an sich herankommen lassen. Daß die Japaner gegen den Willen des mächtigen Rußlands ihre Absicht so ganz durchgeführt haben, zeigt, daß sie eben so kühn zu planen wie zu fechten wissen. Ob Rußland nun noch seinen eisfreien Hafen an der koreanischen Küste erhalten wird, der ihm mit der sibirischen Bahn sicher war, wird abzuwarten sein. England wird dann Quelpart oder einen andern Stützpunkt im Japanischen Meere beanspruchen. Aber wenn auch beide Wünsche in Erfüllung gingen, was noch sehr zweifelhaft ist, eine neue paeifische Seemacht steht England gerade da gegenüber, wo es bisher, auf fein Hongkong gestützt, fast schrankenlos waltete: im westlichen Stillen Ozean bis zur russischen Grenze. Jede neue Seemacht ist diesem England, dessen Flotte vor 80 Jahren die einzige kriegstüchtige der Erde war, ein Dorn im Auge! Und wie ganz anders ist einem starken Japan gegenüber die bisher beherrschend freie Stellung der Russen in Wladiwostok! Doch Japan, meint man, wäre noch unterzukriegen; aber hinter Japan stehen die Ver¬ einigten Staaten, die jede europäische Macht an Einfluß in Tokio übertreffen und als paeifische Macht längst eine Interessengemeinschaft mit Japan und China proklamirt haben, die sich selbst in den Köpfen von Diplomaten zu einer Art von pacifischer Monroedottrin ausbilden konnte. Man vergleiche die in Europa zu ihrer Zeit viel zu wenig beachteten Äußerungen des Ge¬ neral U. S. Grant auf seiner ostasiatischen Reise und die Berichte des Russell Aonng, der Ende der achtziger Jahre Gesandter der Vereinigten Staaten in Peking war; die einen sind in dem dicken Buch über Graues Weltreise begraben, die andern findet man in der Uortd ^iruzrioan Lsvisv von 1890. Daß beiden Mächten, deren Größe auf der Niederhaltung von Millionen von Asiaten beruht, das Aufkommen einer selbständigen asiatischen Macht unbequem ist, liegt auf der Hand; aber eine so tiefliegende Thatsache schafft noch keine praktische Gemeinsamkeit der Interessen. Wenn das wäre, dann müßte sich ja auch die Sympathie, die wir als mittlerer Staat mit Japans Kampf gegen einen plumpen Niesen empfinden, zu der Interessen- gemeinschaft verdichten, deren Gefühl der Graf Aoki so gern in der deutschen Presse wachgerufen hätte. Zum Teil ist es ihm auch gelungen. Sie könnte später einmal zu Tage treten, heute liegen auch ihre Wurzeln noch zu tief. Was soll der Lärm? fragt sich der kontinentale Leser, hauptsächlich der deutsche, der gute Deutsche, der schon seit mehr als hundert Jahren, der aufmerk¬ samste Beobachter aller Regungen dieser interessanten Volksseele ist. Seine eignen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/60>, abgerufen am 23.07.2024.