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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

auswärtigen der Zeitstimmung seiner Landsleute gefällig erweisen wollte, die
in der durch den Tod des Zaren hervvrgerufnen Unsicherheit den Trost einer
politischen Zerstreuung brauchte. Der Minister, der kurz vorher die nervösen
Zeitungsschreiber und die ehrgeizigen Forschungsreisenden als die gefährlichsten
Störer der Ruhe der Staaten hingestellt hatte, baute seinen Dessertberg von
politischen Banalitäten um die Phrase auf, daß England und Nußland auf
dem Wege zu einem viel bessern Einverständnis seien als je vorher. Er be¬
wies mit dieser Rede jedenfalls, daß er mit dem politischen Instinkt des Lon¬
doner Spießbürgers Fühlung halte. Dieser erkannte sofort den großen Vorteil,
sich nach Jahren der Nussenfurcht einmal in dem weichern Gedanken der
Nussenfreuudschaft zu wiegen. Warum sollte Frankreich die angenehme Auf¬
regung der Liebe zu einem mächtigen Volk allein haben? England und Nu߬
land sind ja einander viel gleicher, sind die Großen in Europa, die, wenn sie
nur wollen, die Kleinen zwischen einander zu politischer Nichtigkeit zerquetschen
können. England wird sich allerdings Rußland nicht an den Hals werfen
wie Frankreich, es hat das nicht nötig, es steht mit Nußland auf derselben
Höhe einer alle sogenannten Großmächte überschattenden Raumgröße. 10 Mil¬
lionen (englische) Quadratmeilen und 20 Millionen Qundratwerst -- das gleicht
sich wie 11 und 13, besonders aber darin, daß alles andre in Europa daneben
zum politisch Unbedeutenden herabsinkt. Eine riesige Kolonie von Eintags¬
gedanken schoß sofort um den Niesenpilz der Roseberrhschen Äußerung empor.
Indien gesichert, das lästige, mit Geld und Waffen nicht zu sättigende Afghanistan
fürder gleichgiltig, Japan bedroht, China gerettet und in Europa das unbequeme
Deutschland zur Seite geschoben, vielleicht vereinzelt. Vor allem aber Frank¬
reich mit seiner immer unbehaglicher anwachsenden Flotte, die 1894 mit 3172
Geschützen und 51000 Mann (dazu 7 Pauzerschlachtschiffen und 10 Kreuzern
mit 318 Geschützen im Ban) der englischen wenig mehr nachstand, und dem
unbegreiflichen Übermut seiner kolonialen Anwandlungen könnte dann für einige
Zeit bescheiden gemacht werden. Das hieße zugleich die größte Gefahr einer
russisch-französischen Allianz beschwören. Diese Allianz ist ja für Deutschland
viel weniger ^bedrohlich als! für England, das im Mittelmeer beiden Mächten
mehr und dauerhaftere Streitpunkte darbietet als Deutschland dem einen von
ihnen an den Vogesen. In England weiß man das besser als in Deutschland,
redet aber nicht gern davon. Es ist praktischer, Deutschland gruseln zu
machen. Roseberry erreichte es, daß sich die ganze englische Presse einige
Tage mehr mit den Wolkenhaft entstehenden und sich wieder auflösenden Hypo¬
thesen der äußern Politik als mit den scharfkantigen Wirklichkeiten der innern
beschäftigte. Für einen englischen Staatsmann kommt es ja gar nicht darauf
an, ob er die ganze Welt durch einander bringt, wenn er nur seine Leute zu¬
frieden stellt.

Zu Palmerstous Zeiten machte dieses plötzliche Erwachen Englands für


Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

auswärtigen der Zeitstimmung seiner Landsleute gefällig erweisen wollte, die
in der durch den Tod des Zaren hervvrgerufnen Unsicherheit den Trost einer
politischen Zerstreuung brauchte. Der Minister, der kurz vorher die nervösen
Zeitungsschreiber und die ehrgeizigen Forschungsreisenden als die gefährlichsten
Störer der Ruhe der Staaten hingestellt hatte, baute seinen Dessertberg von
politischen Banalitäten um die Phrase auf, daß England und Nußland auf
dem Wege zu einem viel bessern Einverständnis seien als je vorher. Er be¬
wies mit dieser Rede jedenfalls, daß er mit dem politischen Instinkt des Lon¬
doner Spießbürgers Fühlung halte. Dieser erkannte sofort den großen Vorteil,
sich nach Jahren der Nussenfurcht einmal in dem weichern Gedanken der
Nussenfreuudschaft zu wiegen. Warum sollte Frankreich die angenehme Auf¬
regung der Liebe zu einem mächtigen Volk allein haben? England und Nu߬
land sind ja einander viel gleicher, sind die Großen in Europa, die, wenn sie
nur wollen, die Kleinen zwischen einander zu politischer Nichtigkeit zerquetschen
können. England wird sich allerdings Rußland nicht an den Hals werfen
wie Frankreich, es hat das nicht nötig, es steht mit Nußland auf derselben
Höhe einer alle sogenannten Großmächte überschattenden Raumgröße. 10 Mil¬
lionen (englische) Quadratmeilen und 20 Millionen Qundratwerst — das gleicht
sich wie 11 und 13, besonders aber darin, daß alles andre in Europa daneben
zum politisch Unbedeutenden herabsinkt. Eine riesige Kolonie von Eintags¬
gedanken schoß sofort um den Niesenpilz der Roseberrhschen Äußerung empor.
Indien gesichert, das lästige, mit Geld und Waffen nicht zu sättigende Afghanistan
fürder gleichgiltig, Japan bedroht, China gerettet und in Europa das unbequeme
Deutschland zur Seite geschoben, vielleicht vereinzelt. Vor allem aber Frank¬
reich mit seiner immer unbehaglicher anwachsenden Flotte, die 1894 mit 3172
Geschützen und 51000 Mann (dazu 7 Pauzerschlachtschiffen und 10 Kreuzern
mit 318 Geschützen im Ban) der englischen wenig mehr nachstand, und dem
unbegreiflichen Übermut seiner kolonialen Anwandlungen könnte dann für einige
Zeit bescheiden gemacht werden. Das hieße zugleich die größte Gefahr einer
russisch-französischen Allianz beschwören. Diese Allianz ist ja für Deutschland
viel weniger ^bedrohlich als! für England, das im Mittelmeer beiden Mächten
mehr und dauerhaftere Streitpunkte darbietet als Deutschland dem einen von
ihnen an den Vogesen. In England weiß man das besser als in Deutschland,
redet aber nicht gern davon. Es ist praktischer, Deutschland gruseln zu
machen. Roseberry erreichte es, daß sich die ganze englische Presse einige
Tage mehr mit den Wolkenhaft entstehenden und sich wieder auflösenden Hypo¬
thesen der äußern Politik als mit den scharfkantigen Wirklichkeiten der innern
beschäftigte. Für einen englischen Staatsmann kommt es ja gar nicht darauf
an, ob er die ganze Welt durch einander bringt, wenn er nur seine Leute zu¬
frieden stellt.

Zu Palmerstous Zeiten machte dieses plötzliche Erwachen Englands für


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/58>, abgerufen am 22.07.2024.