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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Der Streit der Fakultäten

zwar noch eine Wegzehrung angeboten, aber zugleich die Ablehnung so leicht
gemacht, daß er unmöglich länger bleiben konnte. Die Stiftsdame war sicht¬
lich abgespannt, und ihre Nichte offenbar nicht geneigt, noch einmal an diesem
Tage eine gleichgiltige Unterhaltung über sich ergehen zu lassen, wo sie
innerlich so sehr beschäftigt war.

Als sie spät abends im Bette lag, konnte sie lange den Schlaf nicht
finden. Draußen regnete es, und der Wind rüttelte an den Fenstern. Sie
dachte an die arme Frau und ihren so plötzlich verwaisten Jungen, für den
jedermann und keiner sorgen würde, wenn die Mutter nicht wieder zu Kräften
gelangte. Sie lächelte in Gedanken über den Pastor, der schon die Gepflo¬
genheit angenommen zu haben schien, das Mitleid andrer Leute mobil zu
machen und sich mit der Anregung zufrieden zu geben. Aber sie dachte seiner
mit Wohlwollen, wenn er ihr auch anders erschien als am ersten Tage ihrer
Bekanntschaft, wo er sie beinahe interessirt hatte.

Ob sie wohl einen solchen Mann würde heiraten können? fragte sie sich.
O ja, aber er müßte doch ganz anders sein. Sie wünschte sich ihn bestimmter;
sein Beruf erschien ihr in gewissem Sinne erhaben und erhebend, aber er war
doch nichts für sie. Doktor Utermöhlen? Ein ganzer Mann, der müßte
zugleich Pastor sein, meinte sie. Dann wäre er nicht so ganz nur auf das
Faßbare gerichtet, und dem Geistlichen käme seine ursprüngliche Wärme zu
Gute, seine einfache, anspruchslose Weise, sich zu geben, und sein Verständnis
für das Volk. Glänzende Eigenschaften hatte er nicht, aber er flößte Ver¬
trauen ein. Daran fehlte es dem Dr. Töteberg gänzlich. Der hatte
größern Eindruck auf sie gemacht, als sie sich gestehen wollte, und sie war
noch immer geneigt, seine oberflächliche Art zu bemänteln. Seine Unterhaltung
hatte ihr Fernsichten eröffnet, die sie reizten und geneigt machten, ihn zu
überschätzen, wie man unwillkürlich auf einen alten Kastellan, der einem eine
alte Burg zeigt oder die Thüren eines prächtigen Schlosses erschließt, etwas
von der romantischen Stimmung überträgt, die der Anblick weckt. Das junge
Mädchen wußte uicht, daß Dr. Töteberg eben nur ein Kastellan' war, aller¬
dings einer, der seine Sache verstand, aber nicht der Burg- oder Schloßherr
selbst. Die Welt der schönen Bildung, in der der junge Mann zu leben
schien, und die so gar nichts Pedantisches hatte, das sonst den Gelehrten an¬
haften sollte, zog sie mächtig um, desto stärker, je weniger sie sie kannte. Sie
hatte keine Ahnung davon, daß in dieser gelehrten Welt so viele Kastellane
ihr Wesen treiben, die die Allüren der Herrschaft so trefflich nachzuahmen
und das andächtige Publikum so artig zu unterhalten verstehen. Als
junger Gelehrter hätte also Dr. Töteberg schon Glück haben können, wenn
er nur nicht in Dingen, die sie zu beurteilen verstand, so gründlich aus der
Rolle gefallen wäre. Seine Art, ernsthafte Dinge leicht zu nehmen und durch¬
blicken zu lassen, daß es doch nur auf die Mache, die Jnszenirung ankomme,


Der Streit der Fakultäten

zwar noch eine Wegzehrung angeboten, aber zugleich die Ablehnung so leicht
gemacht, daß er unmöglich länger bleiben konnte. Die Stiftsdame war sicht¬
lich abgespannt, und ihre Nichte offenbar nicht geneigt, noch einmal an diesem
Tage eine gleichgiltige Unterhaltung über sich ergehen zu lassen, wo sie
innerlich so sehr beschäftigt war.

Als sie spät abends im Bette lag, konnte sie lange den Schlaf nicht
finden. Draußen regnete es, und der Wind rüttelte an den Fenstern. Sie
dachte an die arme Frau und ihren so plötzlich verwaisten Jungen, für den
jedermann und keiner sorgen würde, wenn die Mutter nicht wieder zu Kräften
gelangte. Sie lächelte in Gedanken über den Pastor, der schon die Gepflo¬
genheit angenommen zu haben schien, das Mitleid andrer Leute mobil zu
machen und sich mit der Anregung zufrieden zu geben. Aber sie dachte seiner
mit Wohlwollen, wenn er ihr auch anders erschien als am ersten Tage ihrer
Bekanntschaft, wo er sie beinahe interessirt hatte.

Ob sie wohl einen solchen Mann würde heiraten können? fragte sie sich.
O ja, aber er müßte doch ganz anders sein. Sie wünschte sich ihn bestimmter;
sein Beruf erschien ihr in gewissem Sinne erhaben und erhebend, aber er war
doch nichts für sie. Doktor Utermöhlen? Ein ganzer Mann, der müßte
zugleich Pastor sein, meinte sie. Dann wäre er nicht so ganz nur auf das
Faßbare gerichtet, und dem Geistlichen käme seine ursprüngliche Wärme zu
Gute, seine einfache, anspruchslose Weise, sich zu geben, und sein Verständnis
für das Volk. Glänzende Eigenschaften hatte er nicht, aber er flößte Ver¬
trauen ein. Daran fehlte es dem Dr. Töteberg gänzlich. Der hatte
größern Eindruck auf sie gemacht, als sie sich gestehen wollte, und sie war
noch immer geneigt, seine oberflächliche Art zu bemänteln. Seine Unterhaltung
hatte ihr Fernsichten eröffnet, die sie reizten und geneigt machten, ihn zu
überschätzen, wie man unwillkürlich auf einen alten Kastellan, der einem eine
alte Burg zeigt oder die Thüren eines prächtigen Schlosses erschließt, etwas
von der romantischen Stimmung überträgt, die der Anblick weckt. Das junge
Mädchen wußte uicht, daß Dr. Töteberg eben nur ein Kastellan' war, aller¬
dings einer, der seine Sache verstand, aber nicht der Burg- oder Schloßherr
selbst. Die Welt der schönen Bildung, in der der junge Mann zu leben
schien, und die so gar nichts Pedantisches hatte, das sonst den Gelehrten an¬
haften sollte, zog sie mächtig um, desto stärker, je weniger sie sie kannte. Sie
hatte keine Ahnung davon, daß in dieser gelehrten Welt so viele Kastellane
ihr Wesen treiben, die die Allüren der Herrschaft so trefflich nachzuahmen
und das andächtige Publikum so artig zu unterhalten verstehen. Als
junger Gelehrter hätte also Dr. Töteberg schon Glück haben können, wenn
er nur nicht in Dingen, die sie zu beurteilen verstand, so gründlich aus der
Rolle gefallen wäre. Seine Art, ernsthafte Dinge leicht zu nehmen und durch¬
blicken zu lassen, daß es doch nur auf die Mache, die Jnszenirung ankomme,


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[0546] Der Streit der Fakultäten zwar noch eine Wegzehrung angeboten, aber zugleich die Ablehnung so leicht gemacht, daß er unmöglich länger bleiben konnte. Die Stiftsdame war sicht¬ lich abgespannt, und ihre Nichte offenbar nicht geneigt, noch einmal an diesem Tage eine gleichgiltige Unterhaltung über sich ergehen zu lassen, wo sie innerlich so sehr beschäftigt war. Als sie spät abends im Bette lag, konnte sie lange den Schlaf nicht finden. Draußen regnete es, und der Wind rüttelte an den Fenstern. Sie dachte an die arme Frau und ihren so plötzlich verwaisten Jungen, für den jedermann und keiner sorgen würde, wenn die Mutter nicht wieder zu Kräften gelangte. Sie lächelte in Gedanken über den Pastor, der schon die Gepflo¬ genheit angenommen zu haben schien, das Mitleid andrer Leute mobil zu machen und sich mit der Anregung zufrieden zu geben. Aber sie dachte seiner mit Wohlwollen, wenn er ihr auch anders erschien als am ersten Tage ihrer Bekanntschaft, wo er sie beinahe interessirt hatte. Ob sie wohl einen solchen Mann würde heiraten können? fragte sie sich. O ja, aber er müßte doch ganz anders sein. Sie wünschte sich ihn bestimmter; sein Beruf erschien ihr in gewissem Sinne erhaben und erhebend, aber er war doch nichts für sie. Doktor Utermöhlen? Ein ganzer Mann, der müßte zugleich Pastor sein, meinte sie. Dann wäre er nicht so ganz nur auf das Faßbare gerichtet, und dem Geistlichen käme seine ursprüngliche Wärme zu Gute, seine einfache, anspruchslose Weise, sich zu geben, und sein Verständnis für das Volk. Glänzende Eigenschaften hatte er nicht, aber er flößte Ver¬ trauen ein. Daran fehlte es dem Dr. Töteberg gänzlich. Der hatte größern Eindruck auf sie gemacht, als sie sich gestehen wollte, und sie war noch immer geneigt, seine oberflächliche Art zu bemänteln. Seine Unterhaltung hatte ihr Fernsichten eröffnet, die sie reizten und geneigt machten, ihn zu überschätzen, wie man unwillkürlich auf einen alten Kastellan, der einem eine alte Burg zeigt oder die Thüren eines prächtigen Schlosses erschließt, etwas von der romantischen Stimmung überträgt, die der Anblick weckt. Das junge Mädchen wußte uicht, daß Dr. Töteberg eben nur ein Kastellan' war, aller¬ dings einer, der seine Sache verstand, aber nicht der Burg- oder Schloßherr selbst. Die Welt der schönen Bildung, in der der junge Mann zu leben schien, und die so gar nichts Pedantisches hatte, das sonst den Gelehrten an¬ haften sollte, zog sie mächtig um, desto stärker, je weniger sie sie kannte. Sie hatte keine Ahnung davon, daß in dieser gelehrten Welt so viele Kastellane ihr Wesen treiben, die die Allüren der Herrschaft so trefflich nachzuahmen und das andächtige Publikum so artig zu unterhalten verstehen. Als junger Gelehrter hätte also Dr. Töteberg schon Glück haben können, wenn er nur nicht in Dingen, die sie zu beurteilen verstand, so gründlich aus der Rolle gefallen wäre. Seine Art, ernsthafte Dinge leicht zu nehmen und durch¬ blicken zu lassen, daß es doch nur auf die Mache, die Jnszenirung ankomme,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/546>, abgerufen am 25.06.2024.