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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Aeitenstrome

bedrückt wurde, lebten sie doch wo möglich noch nnstudentischer als ich. Wir
machten Sonntags und manchmal in der Woche einen Spaziergang mit ein¬
ander oder saßen bei K., der uns ein paar Stunden auf dem Klavier vor¬
spielte; hie und da besuchten wir auch ein Konzert. Ich glaube nicht, daß
einer von ihnen auch nur ein einzigesmal an einer Kneiperei teilgenommen
hat, während ich in jedem Jahre ein Stiftungsfest mitfeierte, das des Lese-
Vereins. Der Lesevcrein katholischer Studenten, der fast nur aus Theologen
bestand, hatte ein Zimmer in der Krippe, wie die Anstalt der königlichen Frei¬
tische hieß. Dort las man täglich seine Zeitung, und an einem Tage der
Woche war Vortrags- und Debattirabend. Kurze Zeit vor meinem Eintritt
war ein heftiger Streit ausgebrochen, indem eine Partei den Verein in eine
färben tragende Verbindung umwandeln wollte. Damals waren die Kouleur-
brüder unterlegen; später haben sie gesiegt und die Winfridia draus gemacht.
In dem Frühlingsregen des nationalen Aufschwungs, der die alte Burscheu¬
herrlichkeit verjüngte, sind dann noch eine Menge katholische Studenten¬
verbindungen hervorgesproßt.

Bei einem dieser Stiftungsfeste habe ich mir den einen der beiden Räusche
meines Lebens angetrunken. Mit Spinoza bin ich der Ansicht, daß die Reue
eine ziemlich überflüssige und meistens schädliche Empfindung sei; hat man etwas
begangen, worin ein schlechter Charakterzug zuni Vorschein kommt, so schämt
man sich, hat man eine Dummheit gemacht, so ärgert mau sich ein wenig; in
jedem Falle zieht man die Lehre daraus, daß mau in Zukunft besser aufpassen
und sich in Acht nehmen müsse; Neue ist dabei zu weiter nichts nutz. Jenen
Rausch aber bereue ich nicht nur nicht, sondern freue mich heute noch darüber,
weil er den Kommilitonen Vergnügen bereitet und unserm Repetenten geärgert
hat. Ich ärgere nämlich gern Leute, denen es gesund ist. Dieser Repetent
hatte ein Aloysiusgesicht und bemühte sich, ein Aloysius zu sein; er sprach
nicht anders als mit gefalteten Händen, verzückten Augen und geneigtem Haupte
und seufzte unaufhörlich über die Sünden der Menschen und die Leiden der
heiligen Kirche. Dieses Menschenkind also fing uns, M. und mich, an der
Hausthür ab, als wir vom Stiftungsfest Arm in Arm nach Hause kamen.
Zwischen ihm und mir entspann sich nun. wie mir am folgenden Morgen er¬
zählt wurde, etwa folgendes Gespräch, wobei des Repetenten weinerliche Stimme
immer weinerlicher wurde: "Sie haben ja Ihren Urlaub überschritten." _
"Das ist Sache des Komitees." -- "Sie haben ja das Abendgebet versäumt." --
"Das ist Sache des Komitees." -- "Sie sind ja wohl gar berauscht?" -- "Das
hat das Komitee zu verantworten." -- "Das werde ich dem Herrn Prälaten
melden." - "Das ist Sache des Komitees."

Obwohl ich mit den Konviktoristen nicht sehr intim war, konnte ich mich
doch nicht gut ausschließen, wenn Revolution gemacht wurde, und eine solche
brach aus, kurz nachdem Förster Bischof geworden war. Dieser hatte, wie


Wandlungen des Ich im Aeitenstrome

bedrückt wurde, lebten sie doch wo möglich noch nnstudentischer als ich. Wir
machten Sonntags und manchmal in der Woche einen Spaziergang mit ein¬
ander oder saßen bei K., der uns ein paar Stunden auf dem Klavier vor¬
spielte; hie und da besuchten wir auch ein Konzert. Ich glaube nicht, daß
einer von ihnen auch nur ein einzigesmal an einer Kneiperei teilgenommen
hat, während ich in jedem Jahre ein Stiftungsfest mitfeierte, das des Lese-
Vereins. Der Lesevcrein katholischer Studenten, der fast nur aus Theologen
bestand, hatte ein Zimmer in der Krippe, wie die Anstalt der königlichen Frei¬
tische hieß. Dort las man täglich seine Zeitung, und an einem Tage der
Woche war Vortrags- und Debattirabend. Kurze Zeit vor meinem Eintritt
war ein heftiger Streit ausgebrochen, indem eine Partei den Verein in eine
färben tragende Verbindung umwandeln wollte. Damals waren die Kouleur-
brüder unterlegen; später haben sie gesiegt und die Winfridia draus gemacht.
In dem Frühlingsregen des nationalen Aufschwungs, der die alte Burscheu¬
herrlichkeit verjüngte, sind dann noch eine Menge katholische Studenten¬
verbindungen hervorgesproßt.

Bei einem dieser Stiftungsfeste habe ich mir den einen der beiden Räusche
meines Lebens angetrunken. Mit Spinoza bin ich der Ansicht, daß die Reue
eine ziemlich überflüssige und meistens schädliche Empfindung sei; hat man etwas
begangen, worin ein schlechter Charakterzug zuni Vorschein kommt, so schämt
man sich, hat man eine Dummheit gemacht, so ärgert mau sich ein wenig; in
jedem Falle zieht man die Lehre daraus, daß mau in Zukunft besser aufpassen
und sich in Acht nehmen müsse; Neue ist dabei zu weiter nichts nutz. Jenen
Rausch aber bereue ich nicht nur nicht, sondern freue mich heute noch darüber,
weil er den Kommilitonen Vergnügen bereitet und unserm Repetenten geärgert
hat. Ich ärgere nämlich gern Leute, denen es gesund ist. Dieser Repetent
hatte ein Aloysiusgesicht und bemühte sich, ein Aloysius zu sein; er sprach
nicht anders als mit gefalteten Händen, verzückten Augen und geneigtem Haupte
und seufzte unaufhörlich über die Sünden der Menschen und die Leiden der
heiligen Kirche. Dieses Menschenkind also fing uns, M. und mich, an der
Hausthür ab, als wir vom Stiftungsfest Arm in Arm nach Hause kamen.
Zwischen ihm und mir entspann sich nun. wie mir am folgenden Morgen er¬
zählt wurde, etwa folgendes Gespräch, wobei des Repetenten weinerliche Stimme
immer weinerlicher wurde: „Sie haben ja Ihren Urlaub überschritten." _
„Das ist Sache des Komitees." — „Sie haben ja das Abendgebet versäumt." —
„Das ist Sache des Komitees." — „Sie sind ja wohl gar berauscht?" — „Das
hat das Komitee zu verantworten." — „Das werde ich dem Herrn Prälaten
melden." - »Das ist Sache des Komitees."

Obwohl ich mit den Konviktoristen nicht sehr intim war, konnte ich mich
doch nicht gut ausschließen, wenn Revolution gemacht wurde, und eine solche
brach aus, kurz nachdem Förster Bischof geworden war. Dieser hatte, wie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/535>, abgerufen am 03.07.2024.