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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

talent, und ihm verdanken die Katholiken Berlins ihr musterhaftes Vereins¬
leben, das Lehrlinge und Studenten, Gesellen und Meister, Kaufleute und
Adliche umfaßt; ohne diese Befestigung des katholischen Flugsands, den die
wirtschaftlichen Stürme im Protestantischen Berlin zusammengewebt haben,
würde wohl die Gründung einer katholischen Zeitung in der Reichshauptstadt
nicht möglich gewesen sein. Abgesehen von der eifrigen Thätigkeit, war Müller
in allein übrigen das gerade Gegenteil von Wink: ohne alle Bitterkeit und
Gehässigkeit, der Polemik abgeneigt, bloß positivem Schaffen zugewandt, voll
aufopfernder Nächstenliebe.

Unter solchen Einflüssen lebend, wäre ich vor der Verwicklung in stu¬
dentisches Treiben sicher gewesen, auch wenn es mir nicht an Geld gefehlt, die
Erinnerung an die traurige Lage meiner Eltern und Geschwister mich nicht
bedrückt hätte, und meine Wohnung nicht das Theologenkonvikt gewesen wäre,
dessen Pforte sich abends um sieben Uhr schloß. Das schönste an diesem Kvnvikt
war ein großer Garten. Die Kameradschaft behagte mir wenig. Es waren ja
ganz gescheite, brave und umgängliche Leute darunter, aber durch einige ganz
unmögliche Charaktere, wie ich bis dahin noch gar keine kennen gelernt hatte,
wurde der Ton verdorben. Nur an einen meiner Stubengenossen, M., schloß
ich mich näher an, einen sehr merkwürdigen Menschen. Er war noch sehr
jung, sah noch junger aus, als er war, hatte auch ein ganz kindliches Gemüt,
war aber schon ein förmlicher Gelehrter. Er kannte die griechischen und
lateinischen Klassiker gründlich, sprach ein klassisches Latein (hatte überhaupt
eine unglaubliche Sunda, sprach auch das Deutsche nur in sauber ausgefeilten
Perioden und alle Sprachen am schönsten, wenn er angeheitert war) und hatte
unter der Anleitung eines ihm wohlwollenden Lehrers die Herbartische Philo¬
sophie studirt; auch in Geschichte und deutscher Litteratur war er gut be¬
schlagen. Er stammte ans Magdeburg und war, wie ich, Konvertit; als Grübler,
Bücherwurm und strenger Logiker und durch den Umgang mit einem katholischen
Geistlichen war er auf diesen Abweg gerate". Als er seinen Entschluß bekannt
machte, setzte es seine Stiefmutter durch, daß ihn der Vater aus dem Hause
jagte, und er mußte sich den Rest der Gymnasialzeit hindurch seinen Unter¬
halt mit Stundengeben verdienen, was ihm um so schwerer fiel, als er unter¬
leibsleidend war. Sein Direktor sagte ihm denn auch: "Hören Sie mal, Sie
sind uuterleibsleideud, und daraus kann ich mir Ihren Entschluß erklären; vor
einigen Jahren ist auch schon einmal ein Schüler unsers Gymnasiums katholisch
geworden, und bei dem kam es dann heraus, daß er den Bandwurm hatte.
Gewiß haben Sie auch den Bandwurm." Sein Leiden hat ihn bis ins spätere
Alter verfolgt und gehindert, das zu leisten, was man von ihm erwarten durfte.

Meine Erholungszeit brachte ich zum Teil mit diesem zu, zum größern
Teil aber mit meinen Glatzer Freunden, die ich sämtlich in Breslau wieder¬
fand. Obwohl sie nicht alle Theologen waren nud keiner von Familiennvt


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

talent, und ihm verdanken die Katholiken Berlins ihr musterhaftes Vereins¬
leben, das Lehrlinge und Studenten, Gesellen und Meister, Kaufleute und
Adliche umfaßt; ohne diese Befestigung des katholischen Flugsands, den die
wirtschaftlichen Stürme im Protestantischen Berlin zusammengewebt haben,
würde wohl die Gründung einer katholischen Zeitung in der Reichshauptstadt
nicht möglich gewesen sein. Abgesehen von der eifrigen Thätigkeit, war Müller
in allein übrigen das gerade Gegenteil von Wink: ohne alle Bitterkeit und
Gehässigkeit, der Polemik abgeneigt, bloß positivem Schaffen zugewandt, voll
aufopfernder Nächstenliebe.

Unter solchen Einflüssen lebend, wäre ich vor der Verwicklung in stu¬
dentisches Treiben sicher gewesen, auch wenn es mir nicht an Geld gefehlt, die
Erinnerung an die traurige Lage meiner Eltern und Geschwister mich nicht
bedrückt hätte, und meine Wohnung nicht das Theologenkonvikt gewesen wäre,
dessen Pforte sich abends um sieben Uhr schloß. Das schönste an diesem Kvnvikt
war ein großer Garten. Die Kameradschaft behagte mir wenig. Es waren ja
ganz gescheite, brave und umgängliche Leute darunter, aber durch einige ganz
unmögliche Charaktere, wie ich bis dahin noch gar keine kennen gelernt hatte,
wurde der Ton verdorben. Nur an einen meiner Stubengenossen, M., schloß
ich mich näher an, einen sehr merkwürdigen Menschen. Er war noch sehr
jung, sah noch junger aus, als er war, hatte auch ein ganz kindliches Gemüt,
war aber schon ein förmlicher Gelehrter. Er kannte die griechischen und
lateinischen Klassiker gründlich, sprach ein klassisches Latein (hatte überhaupt
eine unglaubliche Sunda, sprach auch das Deutsche nur in sauber ausgefeilten
Perioden und alle Sprachen am schönsten, wenn er angeheitert war) und hatte
unter der Anleitung eines ihm wohlwollenden Lehrers die Herbartische Philo¬
sophie studirt; auch in Geschichte und deutscher Litteratur war er gut be¬
schlagen. Er stammte ans Magdeburg und war, wie ich, Konvertit; als Grübler,
Bücherwurm und strenger Logiker und durch den Umgang mit einem katholischen
Geistlichen war er auf diesen Abweg gerate». Als er seinen Entschluß bekannt
machte, setzte es seine Stiefmutter durch, daß ihn der Vater aus dem Hause
jagte, und er mußte sich den Rest der Gymnasialzeit hindurch seinen Unter¬
halt mit Stundengeben verdienen, was ihm um so schwerer fiel, als er unter¬
leibsleidend war. Sein Direktor sagte ihm denn auch: „Hören Sie mal, Sie
sind uuterleibsleideud, und daraus kann ich mir Ihren Entschluß erklären; vor
einigen Jahren ist auch schon einmal ein Schüler unsers Gymnasiums katholisch
geworden, und bei dem kam es dann heraus, daß er den Bandwurm hatte.
Gewiß haben Sie auch den Bandwurm." Sein Leiden hat ihn bis ins spätere
Alter verfolgt und gehindert, das zu leisten, was man von ihm erwarten durfte.

Meine Erholungszeit brachte ich zum Teil mit diesem zu, zum größern
Teil aber mit meinen Glatzer Freunden, die ich sämtlich in Breslau wieder¬
fand. Obwohl sie nicht alle Theologen waren nud keiner von Familiennvt


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[0534] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome talent, und ihm verdanken die Katholiken Berlins ihr musterhaftes Vereins¬ leben, das Lehrlinge und Studenten, Gesellen und Meister, Kaufleute und Adliche umfaßt; ohne diese Befestigung des katholischen Flugsands, den die wirtschaftlichen Stürme im Protestantischen Berlin zusammengewebt haben, würde wohl die Gründung einer katholischen Zeitung in der Reichshauptstadt nicht möglich gewesen sein. Abgesehen von der eifrigen Thätigkeit, war Müller in allein übrigen das gerade Gegenteil von Wink: ohne alle Bitterkeit und Gehässigkeit, der Polemik abgeneigt, bloß positivem Schaffen zugewandt, voll aufopfernder Nächstenliebe. Unter solchen Einflüssen lebend, wäre ich vor der Verwicklung in stu¬ dentisches Treiben sicher gewesen, auch wenn es mir nicht an Geld gefehlt, die Erinnerung an die traurige Lage meiner Eltern und Geschwister mich nicht bedrückt hätte, und meine Wohnung nicht das Theologenkonvikt gewesen wäre, dessen Pforte sich abends um sieben Uhr schloß. Das schönste an diesem Kvnvikt war ein großer Garten. Die Kameradschaft behagte mir wenig. Es waren ja ganz gescheite, brave und umgängliche Leute darunter, aber durch einige ganz unmögliche Charaktere, wie ich bis dahin noch gar keine kennen gelernt hatte, wurde der Ton verdorben. Nur an einen meiner Stubengenossen, M., schloß ich mich näher an, einen sehr merkwürdigen Menschen. Er war noch sehr jung, sah noch junger aus, als er war, hatte auch ein ganz kindliches Gemüt, war aber schon ein förmlicher Gelehrter. Er kannte die griechischen und lateinischen Klassiker gründlich, sprach ein klassisches Latein (hatte überhaupt eine unglaubliche Sunda, sprach auch das Deutsche nur in sauber ausgefeilten Perioden und alle Sprachen am schönsten, wenn er angeheitert war) und hatte unter der Anleitung eines ihm wohlwollenden Lehrers die Herbartische Philo¬ sophie studirt; auch in Geschichte und deutscher Litteratur war er gut be¬ schlagen. Er stammte ans Magdeburg und war, wie ich, Konvertit; als Grübler, Bücherwurm und strenger Logiker und durch den Umgang mit einem katholischen Geistlichen war er auf diesen Abweg gerate». Als er seinen Entschluß bekannt machte, setzte es seine Stiefmutter durch, daß ihn der Vater aus dem Hause jagte, und er mußte sich den Rest der Gymnasialzeit hindurch seinen Unter¬ halt mit Stundengeben verdienen, was ihm um so schwerer fiel, als er unter¬ leibsleidend war. Sein Direktor sagte ihm denn auch: „Hören Sie mal, Sie sind uuterleibsleideud, und daraus kann ich mir Ihren Entschluß erklären; vor einigen Jahren ist auch schon einmal ein Schüler unsers Gymnasiums katholisch geworden, und bei dem kam es dann heraus, daß er den Bandwurm hatte. Gewiß haben Sie auch den Bandwurm." Sein Leiden hat ihn bis ins spätere Alter verfolgt und gehindert, das zu leisten, was man von ihm erwarten durfte. Meine Erholungszeit brachte ich zum Teil mit diesem zu, zum größern Teil aber mit meinen Glatzer Freunden, die ich sämtlich in Breslau wieder¬ fand. Obwohl sie nicht alle Theologen waren nud keiner von Familiennvt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/534>, abgerufen am 23.07.2024.