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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die Weihnachtsfeier in der Rechenheiiner Töchterschule

Nach zehn Minuten ging nun die "Winterfeier" in Szene. Ganz klug
bin ich nicht aus der Geschichte geworden. Außer dem Chor kam die Frau
Holle drin vor, ein "armes Kind" mit sehr bleichen Wangen -- das Mehl
klebte dick darauf --, endlich Knecht Ruprecht und ein Engel. In meiner
Nähe wurden Bemerkungen über den "Eierkuchen" an den Backen des "armen
Kindes" laut.

Als es acht Uhr war, begann die "Kaffeepause." Im Saale war es
zum Ersticken. Das anfangs verschämte Rauchen war unverschämt geworden.
Ich verließ meine Familie und setzte mich hinauf zu einem Glase Bier. Es
kamen noch verschiedne Herren, der Abgeordnete Knörig, der Lokalschulinspektor
und der Instar loci. Es entwickelte sich ein Gespräch über die im Saale statt¬
findende Feier, und ich vernahm mit Befriedigung, daß sich die Herren wenig
schmeichelhaft darüber aussprachen. Später hörte ich, daß seit Entstehung der
Schule, seit zehn Jahren, alljährlich dieselbe Entrüstung herrsche, aber daß
trotzdem alles beim alten bleibe.

Es war wieder eine gute Stunde verronnen. Einige Herren hatten sich
zum Bierlachs niedergesetzt. Da war mirs, als hörte ich entferntes Klatschen.
In der Hoffnung, daß die vieraktige Operette "Aschenbrödel" zu Ende sei,
ging ich wieder in den Saal. Leider hatte ich mich geirrt und mußte den
letzten Akt noch mit ansehen. Einem niedlichen Mädchen war die Hosen¬
rolle des Prinzen übertragen. Sie sang nach der Weise "Es blickt so still
der Mond mich ein" ein trauriges Lied, worin es sein Schicksal wegen des
nicht passenden Schuss beklagte. Aus einem kleinen Fenster sah ein wunder¬
bares Wesen, das, wie ich hörte, ein Engel sein sollte und dem Prinzen Ver¬
haltungsmaßregeln gab. Dann erschien die "böse Stiefmutter," diese bedauer¬
lichste Figur unsrer Kindermärchen, so bedauerlich, daß ich deshalb selbst die
Grimmschen Märchen nicht mag. Endlich kam die große Schuhprobe, die sehr
beifällig aufgenommen wurde. Es fehlte auch nicht an Zwischenrufen, die bei
einer Weihnachtsfeier natürlich fehr wirksam sind. Namentlich als der Prinz
die verschiednen Füße der Schwestern gründlich untersuchte, und die Heirats¬
lustigen ihm dabei willig entgegenkamen, war der Beifall stürmisch.

Es ging stark auf zehn Uhr, und es trat wieder eine Pause ein. Die
Kellner liefen in dem heißen Saal mit Bier herum. Das Publikum besah
sich die hinten ausgestellten, "in der Schule angefertigten" Handarbeiten, auf
die die Mütter, als die eigentlichen Verfertigerinnen, besonders stolz waren.
Mitten im Saal wurde mühselig ein freier Platz hergestellt, und der "deutsche
Neigen" begann. Er wurde recht gut ausgeführt, ein bischen reichlich nach
militärischem Zuschnitt, aber er gefiel mir doch besser als die ganze vorherige
Geschichte.

Endlich wars aus. Reichlich fünf und eine halbe Stunde hatte die "Weih¬
nachtsfeier" gedauert. Der Saal war mit erstickendem Tabaksqualm gefüllt.


Die Weihnachtsfeier in der Rechenheiiner Töchterschule

Nach zehn Minuten ging nun die „Winterfeier" in Szene. Ganz klug
bin ich nicht aus der Geschichte geworden. Außer dem Chor kam die Frau
Holle drin vor, ein „armes Kind" mit sehr bleichen Wangen — das Mehl
klebte dick darauf —, endlich Knecht Ruprecht und ein Engel. In meiner
Nähe wurden Bemerkungen über den „Eierkuchen" an den Backen des „armen
Kindes" laut.

Als es acht Uhr war, begann die „Kaffeepause." Im Saale war es
zum Ersticken. Das anfangs verschämte Rauchen war unverschämt geworden.
Ich verließ meine Familie und setzte mich hinauf zu einem Glase Bier. Es
kamen noch verschiedne Herren, der Abgeordnete Knörig, der Lokalschulinspektor
und der Instar loci. Es entwickelte sich ein Gespräch über die im Saale statt¬
findende Feier, und ich vernahm mit Befriedigung, daß sich die Herren wenig
schmeichelhaft darüber aussprachen. Später hörte ich, daß seit Entstehung der
Schule, seit zehn Jahren, alljährlich dieselbe Entrüstung herrsche, aber daß
trotzdem alles beim alten bleibe.

Es war wieder eine gute Stunde verronnen. Einige Herren hatten sich
zum Bierlachs niedergesetzt. Da war mirs, als hörte ich entferntes Klatschen.
In der Hoffnung, daß die vieraktige Operette „Aschenbrödel" zu Ende sei,
ging ich wieder in den Saal. Leider hatte ich mich geirrt und mußte den
letzten Akt noch mit ansehen. Einem niedlichen Mädchen war die Hosen¬
rolle des Prinzen übertragen. Sie sang nach der Weise „Es blickt so still
der Mond mich ein" ein trauriges Lied, worin es sein Schicksal wegen des
nicht passenden Schuss beklagte. Aus einem kleinen Fenster sah ein wunder¬
bares Wesen, das, wie ich hörte, ein Engel sein sollte und dem Prinzen Ver¬
haltungsmaßregeln gab. Dann erschien die „böse Stiefmutter," diese bedauer¬
lichste Figur unsrer Kindermärchen, so bedauerlich, daß ich deshalb selbst die
Grimmschen Märchen nicht mag. Endlich kam die große Schuhprobe, die sehr
beifällig aufgenommen wurde. Es fehlte auch nicht an Zwischenrufen, die bei
einer Weihnachtsfeier natürlich fehr wirksam sind. Namentlich als der Prinz
die verschiednen Füße der Schwestern gründlich untersuchte, und die Heirats¬
lustigen ihm dabei willig entgegenkamen, war der Beifall stürmisch.

Es ging stark auf zehn Uhr, und es trat wieder eine Pause ein. Die
Kellner liefen in dem heißen Saal mit Bier herum. Das Publikum besah
sich die hinten ausgestellten, „in der Schule angefertigten" Handarbeiten, auf
die die Mütter, als die eigentlichen Verfertigerinnen, besonders stolz waren.
Mitten im Saal wurde mühselig ein freier Platz hergestellt, und der „deutsche
Neigen" begann. Er wurde recht gut ausgeführt, ein bischen reichlich nach
militärischem Zuschnitt, aber er gefiel mir doch besser als die ganze vorherige
Geschichte.

Endlich wars aus. Reichlich fünf und eine halbe Stunde hatte die „Weih¬
nachtsfeier" gedauert. Der Saal war mit erstickendem Tabaksqualm gefüllt.


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[0052] Die Weihnachtsfeier in der Rechenheiiner Töchterschule Nach zehn Minuten ging nun die „Winterfeier" in Szene. Ganz klug bin ich nicht aus der Geschichte geworden. Außer dem Chor kam die Frau Holle drin vor, ein „armes Kind" mit sehr bleichen Wangen — das Mehl klebte dick darauf —, endlich Knecht Ruprecht und ein Engel. In meiner Nähe wurden Bemerkungen über den „Eierkuchen" an den Backen des „armen Kindes" laut. Als es acht Uhr war, begann die „Kaffeepause." Im Saale war es zum Ersticken. Das anfangs verschämte Rauchen war unverschämt geworden. Ich verließ meine Familie und setzte mich hinauf zu einem Glase Bier. Es kamen noch verschiedne Herren, der Abgeordnete Knörig, der Lokalschulinspektor und der Instar loci. Es entwickelte sich ein Gespräch über die im Saale statt¬ findende Feier, und ich vernahm mit Befriedigung, daß sich die Herren wenig schmeichelhaft darüber aussprachen. Später hörte ich, daß seit Entstehung der Schule, seit zehn Jahren, alljährlich dieselbe Entrüstung herrsche, aber daß trotzdem alles beim alten bleibe. Es war wieder eine gute Stunde verronnen. Einige Herren hatten sich zum Bierlachs niedergesetzt. Da war mirs, als hörte ich entferntes Klatschen. In der Hoffnung, daß die vieraktige Operette „Aschenbrödel" zu Ende sei, ging ich wieder in den Saal. Leider hatte ich mich geirrt und mußte den letzten Akt noch mit ansehen. Einem niedlichen Mädchen war die Hosen¬ rolle des Prinzen übertragen. Sie sang nach der Weise „Es blickt so still der Mond mich ein" ein trauriges Lied, worin es sein Schicksal wegen des nicht passenden Schuss beklagte. Aus einem kleinen Fenster sah ein wunder¬ bares Wesen, das, wie ich hörte, ein Engel sein sollte und dem Prinzen Ver¬ haltungsmaßregeln gab. Dann erschien die „böse Stiefmutter," diese bedauer¬ lichste Figur unsrer Kindermärchen, so bedauerlich, daß ich deshalb selbst die Grimmschen Märchen nicht mag. Endlich kam die große Schuhprobe, die sehr beifällig aufgenommen wurde. Es fehlte auch nicht an Zwischenrufen, die bei einer Weihnachtsfeier natürlich fehr wirksam sind. Namentlich als der Prinz die verschiednen Füße der Schwestern gründlich untersuchte, und die Heirats¬ lustigen ihm dabei willig entgegenkamen, war der Beifall stürmisch. Es ging stark auf zehn Uhr, und es trat wieder eine Pause ein. Die Kellner liefen in dem heißen Saal mit Bier herum. Das Publikum besah sich die hinten ausgestellten, „in der Schule angefertigten" Handarbeiten, auf die die Mütter, als die eigentlichen Verfertigerinnen, besonders stolz waren. Mitten im Saal wurde mühselig ein freier Platz hergestellt, und der „deutsche Neigen" begann. Er wurde recht gut ausgeführt, ein bischen reichlich nach militärischem Zuschnitt, aber er gefiel mir doch besser als die ganze vorherige Geschichte. Endlich wars aus. Reichlich fünf und eine halbe Stunde hatte die „Weih¬ nachtsfeier" gedauert. Der Saal war mit erstickendem Tabaksqualm gefüllt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/52>, abgerufen am 22.07.2024.