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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die protestantische Kirche und die soziale Frage

nicht nur für überflüssig, sondern sogar für einen Beweis von Mißtrauen
gegen die christliche Obrigkeit, gegen den christlichen Staat und sein christliches
Regiment zu halten. Die christliche Obrigkeit wird deu christlichen Staat schon
christlich leiten, und die hohen Minister und die streng konservative Partei
werde" das christliche Staatsschiffleiu schon durch die Brandung lenken! Die
protestantischen Christen müssen nur etwas mehr Vertrauen haben! Erinnert
man sich denn nicht, wie einst der Reichskanzler Caprivi im Reichstag gegen
den Atheismus loszog, beinahe so tüchtig, wie der Kapuziner in Schillers
"Wallenstein," und Hort man denn nicht, wie jetzt Herr von Koller im Reichs¬
tag für die Erhaltung der Religion eintritt, und der Kultusminister und alle
andern Minister sich im Eifer für die Erhaltung der Religion überstürzen und
die Verhandlungen des Reichstags beinahe zu einer großen deutscheu Religions¬
synode stempeln, die die Religion -- nur schade, man war sich noch nicht einig,
welche! -- wieder zu Ehren bringen soll?

Ich weiß wirklich nicht, ob man diese falsche und verderbliche Einbildung
mehr mit Spott oder mit Zorn bekämpfen sollte. Unser Volk ist doch kein
christliches Volk; nur so weit ist es das, als es eben christlich ist, lebt
und denkt. Unser Staat ist gar kein christlicher Staat, er ist in Wirklichkeit
nie einer gewesen! Wohl hat er einmal einen christlichen Mantel getragen,
aber der ist längst abgethan, nachdem Religions- und Gewissensfreiheit zu
den Grundpfeilern der modernen Staaten geworden sind; unsre Obrigkeit ist
keine christliche Obrigkeit, es hieße sich zum Lügenpropheten machen, wenn
man behaupten wollte, daß sie sich durch christliche Grundsätze in ihren
Entscheidungen leiten ließe. Nein, das kann sie nicht, das darf sie nicht ein¬
mal, und sie soll es nicht. Christus thront nicht im Staate, sondern in der
Kirche, und im Staate sollen Gesetze und Gerechtigkeit regieren, die Christen
aber, soviel ihrer da sind, und so viel sie es wert sind, sollen sorgen und ar¬
beiten, daß dieses Gesetz und diese Gerechtigkeit nicht das Reich Christi hindern,
sondern möglichst mit aufbauen. Die religiöse Überzeugung darf in den mo¬
dernen Staaten weder Hindernis noch Fördernis sein wollen bei der Aus¬
übung der politischen Rechte. Nicht mit Rücksicht auf das religiöse Bekenntnis
treten die Abgeordneten in den Landtag, nach dem Gesetz hat jeder darin Zutritt,
der nach dem Gesetz gewühlt worden ist, kein Staatsbeamter ist "n irgend ein
Bekenntnis gebunden; nach dem deutschen Grundgesetz könnten die Minister
Juden oder Christen, lutherisch oder katholisch sein, ja es steht gesetzlich nichts
entgegen, daß sogar der Kultusminister gar kein Christ, gar kein Glied der
ihm unterstellten Kirche wäre. Man vermeidet zwar den Eklat, und im ge¬
gebnen Falle ist jeder, was er sein soll. Wie oft schon geheime oder auch
offenkundige Atheisten, jedenfalls der Kirche gegenüber Gleichgültige die aller¬
höchsten Ämter im Staate und selbst im Kultusministerium bekleidet haben,
daS nachzuweife" fordert niemand, und jeder weeß, warum.


Die protestantische Kirche und die soziale Frage

nicht nur für überflüssig, sondern sogar für einen Beweis von Mißtrauen
gegen die christliche Obrigkeit, gegen den christlichen Staat und sein christliches
Regiment zu halten. Die christliche Obrigkeit wird deu christlichen Staat schon
christlich leiten, und die hohen Minister und die streng konservative Partei
werde» das christliche Staatsschiffleiu schon durch die Brandung lenken! Die
protestantischen Christen müssen nur etwas mehr Vertrauen haben! Erinnert
man sich denn nicht, wie einst der Reichskanzler Caprivi im Reichstag gegen
den Atheismus loszog, beinahe so tüchtig, wie der Kapuziner in Schillers
„Wallenstein," und Hort man denn nicht, wie jetzt Herr von Koller im Reichs¬
tag für die Erhaltung der Religion eintritt, und der Kultusminister und alle
andern Minister sich im Eifer für die Erhaltung der Religion überstürzen und
die Verhandlungen des Reichstags beinahe zu einer großen deutscheu Religions¬
synode stempeln, die die Religion — nur schade, man war sich noch nicht einig,
welche! — wieder zu Ehren bringen soll?

Ich weiß wirklich nicht, ob man diese falsche und verderbliche Einbildung
mehr mit Spott oder mit Zorn bekämpfen sollte. Unser Volk ist doch kein
christliches Volk; nur so weit ist es das, als es eben christlich ist, lebt
und denkt. Unser Staat ist gar kein christlicher Staat, er ist in Wirklichkeit
nie einer gewesen! Wohl hat er einmal einen christlichen Mantel getragen,
aber der ist längst abgethan, nachdem Religions- und Gewissensfreiheit zu
den Grundpfeilern der modernen Staaten geworden sind; unsre Obrigkeit ist
keine christliche Obrigkeit, es hieße sich zum Lügenpropheten machen, wenn
man behaupten wollte, daß sie sich durch christliche Grundsätze in ihren
Entscheidungen leiten ließe. Nein, das kann sie nicht, das darf sie nicht ein¬
mal, und sie soll es nicht. Christus thront nicht im Staate, sondern in der
Kirche, und im Staate sollen Gesetze und Gerechtigkeit regieren, die Christen
aber, soviel ihrer da sind, und so viel sie es wert sind, sollen sorgen und ar¬
beiten, daß dieses Gesetz und diese Gerechtigkeit nicht das Reich Christi hindern,
sondern möglichst mit aufbauen. Die religiöse Überzeugung darf in den mo¬
dernen Staaten weder Hindernis noch Fördernis sein wollen bei der Aus¬
übung der politischen Rechte. Nicht mit Rücksicht auf das religiöse Bekenntnis
treten die Abgeordneten in den Landtag, nach dem Gesetz hat jeder darin Zutritt,
der nach dem Gesetz gewühlt worden ist, kein Staatsbeamter ist «n irgend ein
Bekenntnis gebunden; nach dem deutschen Grundgesetz könnten die Minister
Juden oder Christen, lutherisch oder katholisch sein, ja es steht gesetzlich nichts
entgegen, daß sogar der Kultusminister gar kein Christ, gar kein Glied der
ihm unterstellten Kirche wäre. Man vermeidet zwar den Eklat, und im ge¬
gebnen Falle ist jeder, was er sein soll. Wie oft schon geheime oder auch
offenkundige Atheisten, jedenfalls der Kirche gegenüber Gleichgültige die aller¬
höchsten Ämter im Staate und selbst im Kultusministerium bekleidet haben,
daS nachzuweife» fordert niemand, und jeder weeß, warum.


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[0518] Die protestantische Kirche und die soziale Frage nicht nur für überflüssig, sondern sogar für einen Beweis von Mißtrauen gegen die christliche Obrigkeit, gegen den christlichen Staat und sein christliches Regiment zu halten. Die christliche Obrigkeit wird deu christlichen Staat schon christlich leiten, und die hohen Minister und die streng konservative Partei werde» das christliche Staatsschiffleiu schon durch die Brandung lenken! Die protestantischen Christen müssen nur etwas mehr Vertrauen haben! Erinnert man sich denn nicht, wie einst der Reichskanzler Caprivi im Reichstag gegen den Atheismus loszog, beinahe so tüchtig, wie der Kapuziner in Schillers „Wallenstein," und Hort man denn nicht, wie jetzt Herr von Koller im Reichs¬ tag für die Erhaltung der Religion eintritt, und der Kultusminister und alle andern Minister sich im Eifer für die Erhaltung der Religion überstürzen und die Verhandlungen des Reichstags beinahe zu einer großen deutscheu Religions¬ synode stempeln, die die Religion — nur schade, man war sich noch nicht einig, welche! — wieder zu Ehren bringen soll? Ich weiß wirklich nicht, ob man diese falsche und verderbliche Einbildung mehr mit Spott oder mit Zorn bekämpfen sollte. Unser Volk ist doch kein christliches Volk; nur so weit ist es das, als es eben christlich ist, lebt und denkt. Unser Staat ist gar kein christlicher Staat, er ist in Wirklichkeit nie einer gewesen! Wohl hat er einmal einen christlichen Mantel getragen, aber der ist längst abgethan, nachdem Religions- und Gewissensfreiheit zu den Grundpfeilern der modernen Staaten geworden sind; unsre Obrigkeit ist keine christliche Obrigkeit, es hieße sich zum Lügenpropheten machen, wenn man behaupten wollte, daß sie sich durch christliche Grundsätze in ihren Entscheidungen leiten ließe. Nein, das kann sie nicht, das darf sie nicht ein¬ mal, und sie soll es nicht. Christus thront nicht im Staate, sondern in der Kirche, und im Staate sollen Gesetze und Gerechtigkeit regieren, die Christen aber, soviel ihrer da sind, und so viel sie es wert sind, sollen sorgen und ar¬ beiten, daß dieses Gesetz und diese Gerechtigkeit nicht das Reich Christi hindern, sondern möglichst mit aufbauen. Die religiöse Überzeugung darf in den mo¬ dernen Staaten weder Hindernis noch Fördernis sein wollen bei der Aus¬ übung der politischen Rechte. Nicht mit Rücksicht auf das religiöse Bekenntnis treten die Abgeordneten in den Landtag, nach dem Gesetz hat jeder darin Zutritt, der nach dem Gesetz gewühlt worden ist, kein Staatsbeamter ist «n irgend ein Bekenntnis gebunden; nach dem deutschen Grundgesetz könnten die Minister Juden oder Christen, lutherisch oder katholisch sein, ja es steht gesetzlich nichts entgegen, daß sogar der Kultusminister gar kein Christ, gar kein Glied der ihm unterstellten Kirche wäre. Man vermeidet zwar den Eklat, und im ge¬ gebnen Falle ist jeder, was er sein soll. Wie oft schon geheime oder auch offenkundige Atheisten, jedenfalls der Kirche gegenüber Gleichgültige die aller¬ höchsten Ämter im Staate und selbst im Kultusministerium bekleidet haben, daS nachzuweife» fordert niemand, und jeder weeß, warum.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/518>, abgerufen am 23.07.2024.