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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die protestantische Kirche und die soziale Frage

svrger sogar eine doppelte Pflicht, für sich und ihre ihnen anvertrauten Ge¬
meinden.

Will also die protestantische Kirche ihre Aufgabe, bei der Lösung der so¬
zialen Frage mitzuarbeiten, wirklich zur Ausführung bringen, so muß sie in
ihren einzelnen Gliedern mit Notwendigkeit in diese politische Thätigkeit ein¬
treten und alle Hebel zur Bildung einer christlich-sozialen Volkspartei in Be¬
wegung setzen, die durch ihre Vertreter im Reichstage dahin wirkt, daß die
Gesetze vernünftig und gerecht gemacht werden, und nachweist, daß die be¬
stehenden Gesetze und Ordnungen in vielen Fällen ungerecht und unvernünftig
sind. Die katholische Kirche hat diese Aufgabe längst erkannt und hat durch
ihre politisch-soziale Thätigkeit großes geleistet, und ich stehe nicht an, zu be-
kennen, daß es eine Schmach für den Protestantismus ist, daß es im deutschen
Reiche bis jetzt dieser Partei allein überlasten geblieben ist, für das Christen¬
tum als die Grundlage auch aller Staatsweisheit einzutreten.

Daß wir mit diesen Gedanken der sozialpolitischen Thätigkeit der Pro¬
testanten auf dem rechten Wege sind, das beweist schon der Widerwille, ja die
Empörung aller, die an der Erhaltung der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung
Interesse haben. Solange sich die evangelischen Arbeitervereine ausschließlich
um die Hebung des evangelischen Bewußtseins bemühten und darin ihre
Hauptarbeit suchten und fanden, solange fanden sie auch überall bei deu großen
Jndustricherren Schutz und Pflege; in Rheinland-Westfalen flössen von dieser
Seite her die bedeutendsten Unterstützungen, und die Herren sahen sich selbst
als die Hcmptmitglieder und Förderer der Arbeitervereine an, weil sie, wenn
auch bei den Arbeiten und Versammlungen unsichtbar, doch jährlich regelmäßig
ihre Beiträge zahlten. Das Bild verwandelte sich aber plötzlich in das gerade
Gegenteil, sobald hie und da einzelne Männer und namentlich Geistliche (ich
erinnere an Naumnnu, Göhre) anfingen, der sozialen Frage durch fleißiges Stu¬
dium auf den Grund zu kommen, und mit praktischen Forderungen hervortraten.

Alle diese Männer, ich könnte eine ganze Zahl nennen, sind öffentlich dis-
kreditirt, gemaßregelt und zum Teil selbst öffentlich von der Reichstagstribüne
herab beschimpft worden. Es ist mir keinen Augenblick zweifelhaft, daß man die
evangelischen Arbeitervereine, sobald sie von ihrem falschen Wege ablenken und
sich wirklich zu christlich-sozialen Arbeitervereinen entwickeln werden, Hetzen,
verfolgen und zu schwächen suchen wird, als die schlimmsten und gefährlichsten
Sozialdemokraten, gerade von der Seite her, die in dieser Bewegung anfangs,
solange sie nur sogenannte Veschwichtiguugsvereine waren, eine Stütze suchte.
Das Umsturzgesetz wird sich, wenn es wirklich angenommen werden sollte, wenn
nicht in erster, so doch sicherlich in zweiter Linie und dann mit verdoppelter
Kraft gegen die christlich-sozialen Prediger und die von ihnen geleiteten
Arbeitervereine wenden.

Man ist immer bereit, jede selbständige christlich-sozialpolitische Thätigkeit


Die protestantische Kirche und die soziale Frage

svrger sogar eine doppelte Pflicht, für sich und ihre ihnen anvertrauten Ge¬
meinden.

Will also die protestantische Kirche ihre Aufgabe, bei der Lösung der so¬
zialen Frage mitzuarbeiten, wirklich zur Ausführung bringen, so muß sie in
ihren einzelnen Gliedern mit Notwendigkeit in diese politische Thätigkeit ein¬
treten und alle Hebel zur Bildung einer christlich-sozialen Volkspartei in Be¬
wegung setzen, die durch ihre Vertreter im Reichstage dahin wirkt, daß die
Gesetze vernünftig und gerecht gemacht werden, und nachweist, daß die be¬
stehenden Gesetze und Ordnungen in vielen Fällen ungerecht und unvernünftig
sind. Die katholische Kirche hat diese Aufgabe längst erkannt und hat durch
ihre politisch-soziale Thätigkeit großes geleistet, und ich stehe nicht an, zu be-
kennen, daß es eine Schmach für den Protestantismus ist, daß es im deutschen
Reiche bis jetzt dieser Partei allein überlasten geblieben ist, für das Christen¬
tum als die Grundlage auch aller Staatsweisheit einzutreten.

Daß wir mit diesen Gedanken der sozialpolitischen Thätigkeit der Pro¬
testanten auf dem rechten Wege sind, das beweist schon der Widerwille, ja die
Empörung aller, die an der Erhaltung der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung
Interesse haben. Solange sich die evangelischen Arbeitervereine ausschließlich
um die Hebung des evangelischen Bewußtseins bemühten und darin ihre
Hauptarbeit suchten und fanden, solange fanden sie auch überall bei deu großen
Jndustricherren Schutz und Pflege; in Rheinland-Westfalen flössen von dieser
Seite her die bedeutendsten Unterstützungen, und die Herren sahen sich selbst
als die Hcmptmitglieder und Förderer der Arbeitervereine an, weil sie, wenn
auch bei den Arbeiten und Versammlungen unsichtbar, doch jährlich regelmäßig
ihre Beiträge zahlten. Das Bild verwandelte sich aber plötzlich in das gerade
Gegenteil, sobald hie und da einzelne Männer und namentlich Geistliche (ich
erinnere an Naumnnu, Göhre) anfingen, der sozialen Frage durch fleißiges Stu¬
dium auf den Grund zu kommen, und mit praktischen Forderungen hervortraten.

Alle diese Männer, ich könnte eine ganze Zahl nennen, sind öffentlich dis-
kreditirt, gemaßregelt und zum Teil selbst öffentlich von der Reichstagstribüne
herab beschimpft worden. Es ist mir keinen Augenblick zweifelhaft, daß man die
evangelischen Arbeitervereine, sobald sie von ihrem falschen Wege ablenken und
sich wirklich zu christlich-sozialen Arbeitervereinen entwickeln werden, Hetzen,
verfolgen und zu schwächen suchen wird, als die schlimmsten und gefährlichsten
Sozialdemokraten, gerade von der Seite her, die in dieser Bewegung anfangs,
solange sie nur sogenannte Veschwichtiguugsvereine waren, eine Stütze suchte.
Das Umsturzgesetz wird sich, wenn es wirklich angenommen werden sollte, wenn
nicht in erster, so doch sicherlich in zweiter Linie und dann mit verdoppelter
Kraft gegen die christlich-sozialen Prediger und die von ihnen geleiteten
Arbeitervereine wenden.

Man ist immer bereit, jede selbständige christlich-sozialpolitische Thätigkeit


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[0517] Die protestantische Kirche und die soziale Frage svrger sogar eine doppelte Pflicht, für sich und ihre ihnen anvertrauten Ge¬ meinden. Will also die protestantische Kirche ihre Aufgabe, bei der Lösung der so¬ zialen Frage mitzuarbeiten, wirklich zur Ausführung bringen, so muß sie in ihren einzelnen Gliedern mit Notwendigkeit in diese politische Thätigkeit ein¬ treten und alle Hebel zur Bildung einer christlich-sozialen Volkspartei in Be¬ wegung setzen, die durch ihre Vertreter im Reichstage dahin wirkt, daß die Gesetze vernünftig und gerecht gemacht werden, und nachweist, daß die be¬ stehenden Gesetze und Ordnungen in vielen Fällen ungerecht und unvernünftig sind. Die katholische Kirche hat diese Aufgabe längst erkannt und hat durch ihre politisch-soziale Thätigkeit großes geleistet, und ich stehe nicht an, zu be- kennen, daß es eine Schmach für den Protestantismus ist, daß es im deutschen Reiche bis jetzt dieser Partei allein überlasten geblieben ist, für das Christen¬ tum als die Grundlage auch aller Staatsweisheit einzutreten. Daß wir mit diesen Gedanken der sozialpolitischen Thätigkeit der Pro¬ testanten auf dem rechten Wege sind, das beweist schon der Widerwille, ja die Empörung aller, die an der Erhaltung der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung Interesse haben. Solange sich die evangelischen Arbeitervereine ausschließlich um die Hebung des evangelischen Bewußtseins bemühten und darin ihre Hauptarbeit suchten und fanden, solange fanden sie auch überall bei deu großen Jndustricherren Schutz und Pflege; in Rheinland-Westfalen flössen von dieser Seite her die bedeutendsten Unterstützungen, und die Herren sahen sich selbst als die Hcmptmitglieder und Förderer der Arbeitervereine an, weil sie, wenn auch bei den Arbeiten und Versammlungen unsichtbar, doch jährlich regelmäßig ihre Beiträge zahlten. Das Bild verwandelte sich aber plötzlich in das gerade Gegenteil, sobald hie und da einzelne Männer und namentlich Geistliche (ich erinnere an Naumnnu, Göhre) anfingen, der sozialen Frage durch fleißiges Stu¬ dium auf den Grund zu kommen, und mit praktischen Forderungen hervortraten. Alle diese Männer, ich könnte eine ganze Zahl nennen, sind öffentlich dis- kreditirt, gemaßregelt und zum Teil selbst öffentlich von der Reichstagstribüne herab beschimpft worden. Es ist mir keinen Augenblick zweifelhaft, daß man die evangelischen Arbeitervereine, sobald sie von ihrem falschen Wege ablenken und sich wirklich zu christlich-sozialen Arbeitervereinen entwickeln werden, Hetzen, verfolgen und zu schwächen suchen wird, als die schlimmsten und gefährlichsten Sozialdemokraten, gerade von der Seite her, die in dieser Bewegung anfangs, solange sie nur sogenannte Veschwichtiguugsvereine waren, eine Stütze suchte. Das Umsturzgesetz wird sich, wenn es wirklich angenommen werden sollte, wenn nicht in erster, so doch sicherlich in zweiter Linie und dann mit verdoppelter Kraft gegen die christlich-sozialen Prediger und die von ihnen geleiteten Arbeitervereine wenden. Man ist immer bereit, jede selbständige christlich-sozialpolitische Thätigkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/517>, abgerufen am 23.07.2024.