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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Ans einer kleinen Lake

Steuerzahler aber, von der untersten bis zur allerschwindelndsten höchsten Stufe,
sind durchgehend überzeugt, daß sie zuviel bezahlen. Die einen bekommen zu
wenig Gehalt, die andern können bei den jetzigen Produktenpreisen nicht be¬
stehen, andre werden von der Konkurrenz und der geringen Kauflust zu Grunde
gerichtet, noch andre müssen durch Hartherzigkeit der Herren verkümmern, wieder
andre werden bureaukratisch zu Tode gemnßregelt -- genug hat keiner. Und
von wem man es glauben sollte, dem machen Familie, "Repräsentation" und
andres so viel Not, daß er kaum weiß, ob er nicht nächstens betteln muß.
Not, nichts als Not ringsum! Und wann wirds besser werden?

Beinahe wie eine Kleinigkeit sieht dagegen die ästhetische Verrottung aus --
aber wie fürchterlich ist auch die schon! Und zwar beiderseits, bei den Künstlern
wie beim Publikum. "Es ist in leere Nüchternheit die ganze Welt versunken,"
klagte Geibel schon vor einer Reihe von Jahren; was würde er erst sagen,
wenn er die Impressionisten, Naturalisten, Realisten und Veristen auf ihrer
jetzigen Hohe erlebt hätte! Das Moderne, das einzig Wahre ist das Abscheu¬
liche; je unnatürlicher einem ein Bild aussieht, desto gewisser ist es "genau
der Natur abgelauscht"; je gräßlicher Personen, Handlungen und Katastrophen
in einem Schauspiel, desto mehr, heißt es, entsprechen sie dem wirklichen Leben --
behüte mich nur der Himmel davor, jemals mit diesem wirklichen Leben in
Berührung zu kommen! Die Künstler aber, die "schön" malen und "befrie¬
digend" dichten, die können eben nicht sehen oder wollen nicht sehen; die reden
uns die Gestalten ihrer Phantasie als Wirklichkeit auf, machen künstlich zurecht,
was es in Wirklichkeit gar nicht giebt, und so betrügen sie die Welt und er¬
halten sie in Blindheit. Verrottete und verdorbne Gesellschaft, wen man auch
ansehen mag! Und das Publikum, also wir selber, darf gewiß kein Rühmens
von sich machen. Was es am liebsten sieht, das sind im Theater entweder
möglichst alberne Späße, ganz unwahrscheinliche Possensituationen mit recht
viel neuen Witzen oder recht frivole Musterbeispiele für eine Theorie, die alles
in Schutz nimmt, nur nicht das, was für heilig gilt; oder endlich die krassesten
Schilderungen verschuldeter oder unverschuldeter Verkommenheit -- in der bil¬
denden Kunst das "sensationelle, Aktuelle, Pikante" oder wenigstens das recht
Auffallende und Prnnkende. Wahrer Geschmack, wer hat den noch außer --
einigen Kritikern? Jünger wahrer Kunst finden keinen Verleger, keinen Käufer,
keinen Direktor, müssen hungern, solange sie es vertragen können, bis sie ent¬
weder auch sich eines Schlechtem besinnen oder -- sterben; dann können sie
wenigstens gewiß sein, daß bei der Ausstellung oder Ausgabe ihrer Werke
uach ihrem Tode ihre Bedeutung "voll und ganz" gewürdigt wird. Und somit
können die Künstler nichts taugen, weil das Publikum nichts taugt; und das
Publikum kommt immer mehr herunter, weil es nichts Gutes mehr zu sehen
bekommt. Verrottet und verroht ist alles -- das ist das Ergebnis vom
Ganzen.


Grenzvoteil I I89ö 61
Ans einer kleinen Lake

Steuerzahler aber, von der untersten bis zur allerschwindelndsten höchsten Stufe,
sind durchgehend überzeugt, daß sie zuviel bezahlen. Die einen bekommen zu
wenig Gehalt, die andern können bei den jetzigen Produktenpreisen nicht be¬
stehen, andre werden von der Konkurrenz und der geringen Kauflust zu Grunde
gerichtet, noch andre müssen durch Hartherzigkeit der Herren verkümmern, wieder
andre werden bureaukratisch zu Tode gemnßregelt — genug hat keiner. Und
von wem man es glauben sollte, dem machen Familie, „Repräsentation" und
andres so viel Not, daß er kaum weiß, ob er nicht nächstens betteln muß.
Not, nichts als Not ringsum! Und wann wirds besser werden?

Beinahe wie eine Kleinigkeit sieht dagegen die ästhetische Verrottung aus —
aber wie fürchterlich ist auch die schon! Und zwar beiderseits, bei den Künstlern
wie beim Publikum. „Es ist in leere Nüchternheit die ganze Welt versunken,"
klagte Geibel schon vor einer Reihe von Jahren; was würde er erst sagen,
wenn er die Impressionisten, Naturalisten, Realisten und Veristen auf ihrer
jetzigen Hohe erlebt hätte! Das Moderne, das einzig Wahre ist das Abscheu¬
liche; je unnatürlicher einem ein Bild aussieht, desto gewisser ist es „genau
der Natur abgelauscht"; je gräßlicher Personen, Handlungen und Katastrophen
in einem Schauspiel, desto mehr, heißt es, entsprechen sie dem wirklichen Leben —
behüte mich nur der Himmel davor, jemals mit diesem wirklichen Leben in
Berührung zu kommen! Die Künstler aber, die „schön" malen und „befrie¬
digend" dichten, die können eben nicht sehen oder wollen nicht sehen; die reden
uns die Gestalten ihrer Phantasie als Wirklichkeit auf, machen künstlich zurecht,
was es in Wirklichkeit gar nicht giebt, und so betrügen sie die Welt und er¬
halten sie in Blindheit. Verrottete und verdorbne Gesellschaft, wen man auch
ansehen mag! Und das Publikum, also wir selber, darf gewiß kein Rühmens
von sich machen. Was es am liebsten sieht, das sind im Theater entweder
möglichst alberne Späße, ganz unwahrscheinliche Possensituationen mit recht
viel neuen Witzen oder recht frivole Musterbeispiele für eine Theorie, die alles
in Schutz nimmt, nur nicht das, was für heilig gilt; oder endlich die krassesten
Schilderungen verschuldeter oder unverschuldeter Verkommenheit — in der bil¬
denden Kunst das „sensationelle, Aktuelle, Pikante" oder wenigstens das recht
Auffallende und Prnnkende. Wahrer Geschmack, wer hat den noch außer —
einigen Kritikern? Jünger wahrer Kunst finden keinen Verleger, keinen Käufer,
keinen Direktor, müssen hungern, solange sie es vertragen können, bis sie ent¬
weder auch sich eines Schlechtem besinnen oder — sterben; dann können sie
wenigstens gewiß sein, daß bei der Ausstellung oder Ausgabe ihrer Werke
uach ihrem Tode ihre Bedeutung „voll und ganz" gewürdigt wird. Und somit
können die Künstler nichts taugen, weil das Publikum nichts taugt; und das
Publikum kommt immer mehr herunter, weil es nichts Gutes mehr zu sehen
bekommt. Verrottet und verroht ist alles — das ist das Ergebnis vom
Ganzen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/491>, abgerufen am 28.09.2024.