Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Aus einer kleinen Lake

aber sie ist leider noch weit größer. Die Industriellen zum Beispiel: ja die
lassen Tausende und Abertausende in maschinenmäßiger Arbeit geistig und
körperlich verkommen, bis nicht viel mehr als Skelette von ihnen übrig sind;
sie selbst aber, sie thun nichts, als höchstens täglich eine Stunde lang zu den
Vorschlägen der Geschäftsführer Ja zu sagen; die übrige Zeit prasselt sie den
armen Leuten ins Angesicht, schlucken allen Vorteil guter Konjunkturen und
gönnen denen, die doch in Wirklichkeit alles schaffen, nur einen Hundelohn;
daneben zahlen sie nicht mehr Steuern als ein armer Schuhmacher, und wenn
das Geschäft einmal schlecht geht, dann muß ihnen der Staat durch Er¬
höhung der Zölle oder durch großartige Aufträge aus der Patsche helfen. Ihr
Dank aber ist, daß sie dem eignen Staat doppelt so hohe Preise anrechnen
als dem Auslande. Darf das so bleiben, deutsches Volk? Und die Land¬
wirte, sind die besser? Die einen Schlemmen und schlagen vor lauter "Standes¬
gemäßheit" die allergrößten Vätererbe tot, schieben dann die Schuld auf die
schlechten Zeiten und die Handelsverträge; die Arbeiter aber verlangen täglich
mehr, wandern aus, wenn ihnen der Herr nicht alles zu Gefallen thut, und
wollen gleiches Recht mit den Herren haben. Kann das so weitergehen? Und
die sogenannten Gebildeten in den Städten? Ja, klug reden können sie, und
alles wollen sie besser wissen; aber entweder sind sie ganz in ihrem Beruf
versimpelt und verstehen infolge dessen von allem andern nicht die Bohne;
oder sie haben ihren Beruf verfehlt, und dann werden die allergefährlichsten
Menschen aus ihnen: Volksredner, Abgeordnete, Zeitungs- und Broschüren¬
schreiber und dergleichen. Über alles reden zu können, wenn man auch kaum
das versteht, wofür man sich bezahlen läßt: das ist das Ideal der "Gebil¬
deten" vom lin as siöols! Und Arbeiter und Handwerker, die sind von Un¬
zufriedenheit voll, wie die Franzosen von Eitelkeit; wenn man ihnen noch so
viel "soziale Reformen" giebt, die lassen, nicht vom Murren und Drohen.
Ein Stand steht immer hochmütig auf alle andern herab, hält sich für die
Hauptstütze des Staats und leistet doch eigentlich von Morgen bis Abend
gar nichts. Hier zu viel Kastengeist, dort zu viel Freiheit -- wo soll das
hinaus! Die Welt wird nicht eher besser werden, als bis -- ach ja, Re¬
zepte dafür giebt es genug; aber teils wird die Wahl gerade der Menge
wegen gar zu schwer, teils, wenn einmal eins wirklich angewandt worden ist,
so hat es auch nicht geholfen -- was natürlich nur an der Verkommenheit
der Menschheit liegt. Ein Gedanke nur ist allen sozialen Denkern und Re¬
formern gemeinsam: von Grund aus anders muß es werden, denn so, wie
es ist, ist es unerträglich! Ach wenn die Morgenröten nur nicht immer so
blutig rot wären! Aber soll es denn Nacht bleiben?

Anders muß es schon darum werden, weil auch wirtschaftlich kein Mensch
mehr sein Auskommen hat. Oder wer klagt nicht, daß es ihm an Geld fehle?
Der Staat kann nichts schaffen, weil nicht genug Gelder bewilligt werden; die


Aus einer kleinen Lake

aber sie ist leider noch weit größer. Die Industriellen zum Beispiel: ja die
lassen Tausende und Abertausende in maschinenmäßiger Arbeit geistig und
körperlich verkommen, bis nicht viel mehr als Skelette von ihnen übrig sind;
sie selbst aber, sie thun nichts, als höchstens täglich eine Stunde lang zu den
Vorschlägen der Geschäftsführer Ja zu sagen; die übrige Zeit prasselt sie den
armen Leuten ins Angesicht, schlucken allen Vorteil guter Konjunkturen und
gönnen denen, die doch in Wirklichkeit alles schaffen, nur einen Hundelohn;
daneben zahlen sie nicht mehr Steuern als ein armer Schuhmacher, und wenn
das Geschäft einmal schlecht geht, dann muß ihnen der Staat durch Er¬
höhung der Zölle oder durch großartige Aufträge aus der Patsche helfen. Ihr
Dank aber ist, daß sie dem eignen Staat doppelt so hohe Preise anrechnen
als dem Auslande. Darf das so bleiben, deutsches Volk? Und die Land¬
wirte, sind die besser? Die einen Schlemmen und schlagen vor lauter „Standes¬
gemäßheit" die allergrößten Vätererbe tot, schieben dann die Schuld auf die
schlechten Zeiten und die Handelsverträge; die Arbeiter aber verlangen täglich
mehr, wandern aus, wenn ihnen der Herr nicht alles zu Gefallen thut, und
wollen gleiches Recht mit den Herren haben. Kann das so weitergehen? Und
die sogenannten Gebildeten in den Städten? Ja, klug reden können sie, und
alles wollen sie besser wissen; aber entweder sind sie ganz in ihrem Beruf
versimpelt und verstehen infolge dessen von allem andern nicht die Bohne;
oder sie haben ihren Beruf verfehlt, und dann werden die allergefährlichsten
Menschen aus ihnen: Volksredner, Abgeordnete, Zeitungs- und Broschüren¬
schreiber und dergleichen. Über alles reden zu können, wenn man auch kaum
das versteht, wofür man sich bezahlen läßt: das ist das Ideal der „Gebil¬
deten" vom lin as siöols! Und Arbeiter und Handwerker, die sind von Un¬
zufriedenheit voll, wie die Franzosen von Eitelkeit; wenn man ihnen noch so
viel „soziale Reformen" giebt, die lassen, nicht vom Murren und Drohen.
Ein Stand steht immer hochmütig auf alle andern herab, hält sich für die
Hauptstütze des Staats und leistet doch eigentlich von Morgen bis Abend
gar nichts. Hier zu viel Kastengeist, dort zu viel Freiheit — wo soll das
hinaus! Die Welt wird nicht eher besser werden, als bis — ach ja, Re¬
zepte dafür giebt es genug; aber teils wird die Wahl gerade der Menge
wegen gar zu schwer, teils, wenn einmal eins wirklich angewandt worden ist,
so hat es auch nicht geholfen — was natürlich nur an der Verkommenheit
der Menschheit liegt. Ein Gedanke nur ist allen sozialen Denkern und Re¬
formern gemeinsam: von Grund aus anders muß es werden, denn so, wie
es ist, ist es unerträglich! Ach wenn die Morgenröten nur nicht immer so
blutig rot wären! Aber soll es denn Nacht bleiben?

Anders muß es schon darum werden, weil auch wirtschaftlich kein Mensch
mehr sein Auskommen hat. Oder wer klagt nicht, daß es ihm an Geld fehle?
Der Staat kann nichts schaffen, weil nicht genug Gelder bewilligt werden; die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0490" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219492"/>
          <fw type="header" place="top"> Aus einer kleinen Lake</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1440" prev="#ID_1439"> aber sie ist leider noch weit größer. Die Industriellen zum Beispiel: ja die<lb/>
lassen Tausende und Abertausende in maschinenmäßiger Arbeit geistig und<lb/>
körperlich verkommen, bis nicht viel mehr als Skelette von ihnen übrig sind;<lb/>
sie selbst aber, sie thun nichts, als höchstens täglich eine Stunde lang zu den<lb/>
Vorschlägen der Geschäftsführer Ja zu sagen; die übrige Zeit prasselt sie den<lb/>
armen Leuten ins Angesicht, schlucken allen Vorteil guter Konjunkturen und<lb/>
gönnen denen, die doch in Wirklichkeit alles schaffen, nur einen Hundelohn;<lb/>
daneben zahlen sie nicht mehr Steuern als ein armer Schuhmacher, und wenn<lb/>
das Geschäft einmal schlecht geht, dann muß ihnen der Staat durch Er¬<lb/>
höhung der Zölle oder durch großartige Aufträge aus der Patsche helfen. Ihr<lb/>
Dank aber ist, daß sie dem eignen Staat doppelt so hohe Preise anrechnen<lb/>
als dem Auslande. Darf das so bleiben, deutsches Volk? Und die Land¬<lb/>
wirte, sind die besser? Die einen Schlemmen und schlagen vor lauter &#x201E;Standes¬<lb/>
gemäßheit" die allergrößten Vätererbe tot, schieben dann die Schuld auf die<lb/>
schlechten Zeiten und die Handelsverträge; die Arbeiter aber verlangen täglich<lb/>
mehr, wandern aus, wenn ihnen der Herr nicht alles zu Gefallen thut, und<lb/>
wollen gleiches Recht mit den Herren haben. Kann das so weitergehen? Und<lb/>
die sogenannten Gebildeten in den Städten? Ja, klug reden können sie, und<lb/>
alles wollen sie besser wissen; aber entweder sind sie ganz in ihrem Beruf<lb/>
versimpelt und verstehen infolge dessen von allem andern nicht die Bohne;<lb/>
oder sie haben ihren Beruf verfehlt, und dann werden die allergefährlichsten<lb/>
Menschen aus ihnen: Volksredner, Abgeordnete, Zeitungs- und Broschüren¬<lb/>
schreiber und dergleichen. Über alles reden zu können, wenn man auch kaum<lb/>
das versteht, wofür man sich bezahlen läßt: das ist das Ideal der &#x201E;Gebil¬<lb/>
deten" vom lin as siöols! Und Arbeiter und Handwerker, die sind von Un¬<lb/>
zufriedenheit voll, wie die Franzosen von Eitelkeit; wenn man ihnen noch so<lb/>
viel &#x201E;soziale Reformen" giebt, die lassen, nicht vom Murren und Drohen.<lb/>
Ein Stand steht immer hochmütig auf alle andern herab, hält sich für die<lb/>
Hauptstütze des Staats und leistet doch eigentlich von Morgen bis Abend<lb/>
gar nichts. Hier zu viel Kastengeist, dort zu viel Freiheit &#x2014; wo soll das<lb/>
hinaus! Die Welt wird nicht eher besser werden, als bis &#x2014; ach ja, Re¬<lb/>
zepte dafür giebt es genug; aber teils wird die Wahl gerade der Menge<lb/>
wegen gar zu schwer, teils, wenn einmal eins wirklich angewandt worden ist,<lb/>
so hat es auch nicht geholfen &#x2014; was natürlich nur an der Verkommenheit<lb/>
der Menschheit liegt. Ein Gedanke nur ist allen sozialen Denkern und Re¬<lb/>
formern gemeinsam: von Grund aus anders muß es werden, denn so, wie<lb/>
es ist, ist es unerträglich! Ach wenn die Morgenröten nur nicht immer so<lb/>
blutig rot wären! Aber soll es denn Nacht bleiben?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1441" next="#ID_1442"> Anders muß es schon darum werden, weil auch wirtschaftlich kein Mensch<lb/>
mehr sein Auskommen hat. Oder wer klagt nicht, daß es ihm an Geld fehle?<lb/>
Der Staat kann nichts schaffen, weil nicht genug Gelder bewilligt werden; die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0490] Aus einer kleinen Lake aber sie ist leider noch weit größer. Die Industriellen zum Beispiel: ja die lassen Tausende und Abertausende in maschinenmäßiger Arbeit geistig und körperlich verkommen, bis nicht viel mehr als Skelette von ihnen übrig sind; sie selbst aber, sie thun nichts, als höchstens täglich eine Stunde lang zu den Vorschlägen der Geschäftsführer Ja zu sagen; die übrige Zeit prasselt sie den armen Leuten ins Angesicht, schlucken allen Vorteil guter Konjunkturen und gönnen denen, die doch in Wirklichkeit alles schaffen, nur einen Hundelohn; daneben zahlen sie nicht mehr Steuern als ein armer Schuhmacher, und wenn das Geschäft einmal schlecht geht, dann muß ihnen der Staat durch Er¬ höhung der Zölle oder durch großartige Aufträge aus der Patsche helfen. Ihr Dank aber ist, daß sie dem eignen Staat doppelt so hohe Preise anrechnen als dem Auslande. Darf das so bleiben, deutsches Volk? Und die Land¬ wirte, sind die besser? Die einen Schlemmen und schlagen vor lauter „Standes¬ gemäßheit" die allergrößten Vätererbe tot, schieben dann die Schuld auf die schlechten Zeiten und die Handelsverträge; die Arbeiter aber verlangen täglich mehr, wandern aus, wenn ihnen der Herr nicht alles zu Gefallen thut, und wollen gleiches Recht mit den Herren haben. Kann das so weitergehen? Und die sogenannten Gebildeten in den Städten? Ja, klug reden können sie, und alles wollen sie besser wissen; aber entweder sind sie ganz in ihrem Beruf versimpelt und verstehen infolge dessen von allem andern nicht die Bohne; oder sie haben ihren Beruf verfehlt, und dann werden die allergefährlichsten Menschen aus ihnen: Volksredner, Abgeordnete, Zeitungs- und Broschüren¬ schreiber und dergleichen. Über alles reden zu können, wenn man auch kaum das versteht, wofür man sich bezahlen läßt: das ist das Ideal der „Gebil¬ deten" vom lin as siöols! Und Arbeiter und Handwerker, die sind von Un¬ zufriedenheit voll, wie die Franzosen von Eitelkeit; wenn man ihnen noch so viel „soziale Reformen" giebt, die lassen, nicht vom Murren und Drohen. Ein Stand steht immer hochmütig auf alle andern herab, hält sich für die Hauptstütze des Staats und leistet doch eigentlich von Morgen bis Abend gar nichts. Hier zu viel Kastengeist, dort zu viel Freiheit — wo soll das hinaus! Die Welt wird nicht eher besser werden, als bis — ach ja, Re¬ zepte dafür giebt es genug; aber teils wird die Wahl gerade der Menge wegen gar zu schwer, teils, wenn einmal eins wirklich angewandt worden ist, so hat es auch nicht geholfen — was natürlich nur an der Verkommenheit der Menschheit liegt. Ein Gedanke nur ist allen sozialen Denkern und Re¬ formern gemeinsam: von Grund aus anders muß es werden, denn so, wie es ist, ist es unerträglich! Ach wenn die Morgenröten nur nicht immer so blutig rot wären! Aber soll es denn Nacht bleiben? Anders muß es schon darum werden, weil auch wirtschaftlich kein Mensch mehr sein Auskommen hat. Oder wer klagt nicht, daß es ihm an Geld fehle? Der Staat kann nichts schaffen, weil nicht genug Gelder bewilligt werden; die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/490
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/490>, abgerufen am 26.06.2024.