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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Victor Alan Huber

erschöpft: Freiheit des Verkehrs nach außen und Gebundenheit des Gewerbes
nach innen." (Die ostelbischen Großgrundbesitzer waren bekanntlich damals im
Gegensatz zu den Großindustriellen fanatische Freihändler.) Es handle sich
nicht bloß, äußert er in einem andern Zusammenhange, um das zunftmäßige
Handwerk, sondern die Frage sei, was mit den Menschenmassen geschehen solle,
die im Zunftverbande keinen Platz fänden. "Wenn man vermeintlich konservative
Erörterungen, z. B. über die Freizügigkeit, hört oder liest, so scheint es oft,
als wenn die Herren wirklich meinten, es sei alles gethan, wenn man die Leute
verhindere, anderswo zu verlumpen, als wo sie gerade sind oder "hin¬
gehören"." Nur wenige Aristokraten, sagt er, bildeten eine rühmliche Aus¬
nahme von der allgemeinen Teilnahmlosigkeit ihres Standes; aber auch diese
wenigen hätten nur geringes Verständnis für die großen Aufgaben der Zeit
und erschöpften ihre Kräfte in individuellen Liebeswerken: Almosen, milde Stif¬
tungen u. dergl.

Was das Proletariat anlangt, so tadelt er einerseits die wegwerfende
Bezeichnung der ganzen Lohnarbeiterschaft als eines Proletariats, und andrer¬
seits will er nichts von der "Rettung" der Armen wissen, wie die Frommen
ihre Liebesthätigkeit hochmütig nennen, obwohl er der wärmste Freund und
der eifrigste Förderer der innern Mission in Wieherns Sinn und Geiste ge¬
wesen ist. Der "Rettung" im christlichen Sinne bedürften die Reichen min¬
destens so sehr wie die Armen, bei diesen aber handle es sich darum, ihnen
dazu zu helfen, daß sie sich selbst helfen können, eben durch Genossenschaften,
deren Thätigkeit ohne Nächstenliebe, Mäßigkeit, Sparsamkeit, geordnetes Fa¬
milienleben gar nicht möglich sei und an und sür sich selbst schon alle christ¬
lichen Tugenden fördere. Sollten sich aber die Arbeiter in Genossenschaften
selbst helfen, so müßten sie natürlich das Koalitionsrecht haben, was sich
ohnehin von selbst verstehe, da der Arbeiter uicht mehr persönlich frei sein
würde, wenn es ihm nicht gestattet wäre, über seine Arbeit frei zu verfügen.
Alle Maßregeln, die dieses Recht, nachdem es einmal gewährt sei, illusorisch
machen, seien verwerflich. Es würde "sittlich ein durchaus unverantwortlicher
und praktisch unerträglicher -- ja geradezu furchtbarer Zustand sein, worin
das wichtigste, fast das einzige Recht, das Lebcnsrecht und die Lebensbedingung
von Millionen zu einer bloßen Illusion würde. Wer einen solchen Zustand
vertreten zu müssen oder zu können glaubt, der täusche sich wenigstens nicht
darüber, daß er notwendig, thatsächlich zur Leibeigenschaft, gleichviel unter
welcher Form und unter welchem Namen führen muß" (richtiger gesagt: Leib¬
eigenschaft ist). Dürften die Arbeiter ihr Recht den Brotherren gegenüber nicht
selbst geltend machen, so müßten sie fordern, daß es der Staat thue, und
lasse sich dieser darauf ein, so übernehme er damit eine ungeheure Verant¬
wortung.

Seiner ganzen Anlage nach konnte Huber nur ein entschiedner Gegner


Victor Alan Huber

erschöpft: Freiheit des Verkehrs nach außen und Gebundenheit des Gewerbes
nach innen." (Die ostelbischen Großgrundbesitzer waren bekanntlich damals im
Gegensatz zu den Großindustriellen fanatische Freihändler.) Es handle sich
nicht bloß, äußert er in einem andern Zusammenhange, um das zunftmäßige
Handwerk, sondern die Frage sei, was mit den Menschenmassen geschehen solle,
die im Zunftverbande keinen Platz fänden. „Wenn man vermeintlich konservative
Erörterungen, z. B. über die Freizügigkeit, hört oder liest, so scheint es oft,
als wenn die Herren wirklich meinten, es sei alles gethan, wenn man die Leute
verhindere, anderswo zu verlumpen, als wo sie gerade sind oder »hin¬
gehören«." Nur wenige Aristokraten, sagt er, bildeten eine rühmliche Aus¬
nahme von der allgemeinen Teilnahmlosigkeit ihres Standes; aber auch diese
wenigen hätten nur geringes Verständnis für die großen Aufgaben der Zeit
und erschöpften ihre Kräfte in individuellen Liebeswerken: Almosen, milde Stif¬
tungen u. dergl.

Was das Proletariat anlangt, so tadelt er einerseits die wegwerfende
Bezeichnung der ganzen Lohnarbeiterschaft als eines Proletariats, und andrer¬
seits will er nichts von der „Rettung" der Armen wissen, wie die Frommen
ihre Liebesthätigkeit hochmütig nennen, obwohl er der wärmste Freund und
der eifrigste Förderer der innern Mission in Wieherns Sinn und Geiste ge¬
wesen ist. Der „Rettung" im christlichen Sinne bedürften die Reichen min¬
destens so sehr wie die Armen, bei diesen aber handle es sich darum, ihnen
dazu zu helfen, daß sie sich selbst helfen können, eben durch Genossenschaften,
deren Thätigkeit ohne Nächstenliebe, Mäßigkeit, Sparsamkeit, geordnetes Fa¬
milienleben gar nicht möglich sei und an und sür sich selbst schon alle christ¬
lichen Tugenden fördere. Sollten sich aber die Arbeiter in Genossenschaften
selbst helfen, so müßten sie natürlich das Koalitionsrecht haben, was sich
ohnehin von selbst verstehe, da der Arbeiter uicht mehr persönlich frei sein
würde, wenn es ihm nicht gestattet wäre, über seine Arbeit frei zu verfügen.
Alle Maßregeln, die dieses Recht, nachdem es einmal gewährt sei, illusorisch
machen, seien verwerflich. Es würde „sittlich ein durchaus unverantwortlicher
und praktisch unerträglicher — ja geradezu furchtbarer Zustand sein, worin
das wichtigste, fast das einzige Recht, das Lebcnsrecht und die Lebensbedingung
von Millionen zu einer bloßen Illusion würde. Wer einen solchen Zustand
vertreten zu müssen oder zu können glaubt, der täusche sich wenigstens nicht
darüber, daß er notwendig, thatsächlich zur Leibeigenschaft, gleichviel unter
welcher Form und unter welchem Namen führen muß" (richtiger gesagt: Leib¬
eigenschaft ist). Dürften die Arbeiter ihr Recht den Brotherren gegenüber nicht
selbst geltend machen, so müßten sie fordern, daß es der Staat thue, und
lasse sich dieser darauf ein, so übernehme er damit eine ungeheure Verant¬
wortung.

Seiner ganzen Anlage nach konnte Huber nur ein entschiedner Gegner


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[0472] Victor Alan Huber erschöpft: Freiheit des Verkehrs nach außen und Gebundenheit des Gewerbes nach innen." (Die ostelbischen Großgrundbesitzer waren bekanntlich damals im Gegensatz zu den Großindustriellen fanatische Freihändler.) Es handle sich nicht bloß, äußert er in einem andern Zusammenhange, um das zunftmäßige Handwerk, sondern die Frage sei, was mit den Menschenmassen geschehen solle, die im Zunftverbande keinen Platz fänden. „Wenn man vermeintlich konservative Erörterungen, z. B. über die Freizügigkeit, hört oder liest, so scheint es oft, als wenn die Herren wirklich meinten, es sei alles gethan, wenn man die Leute verhindere, anderswo zu verlumpen, als wo sie gerade sind oder »hin¬ gehören«." Nur wenige Aristokraten, sagt er, bildeten eine rühmliche Aus¬ nahme von der allgemeinen Teilnahmlosigkeit ihres Standes; aber auch diese wenigen hätten nur geringes Verständnis für die großen Aufgaben der Zeit und erschöpften ihre Kräfte in individuellen Liebeswerken: Almosen, milde Stif¬ tungen u. dergl. Was das Proletariat anlangt, so tadelt er einerseits die wegwerfende Bezeichnung der ganzen Lohnarbeiterschaft als eines Proletariats, und andrer¬ seits will er nichts von der „Rettung" der Armen wissen, wie die Frommen ihre Liebesthätigkeit hochmütig nennen, obwohl er der wärmste Freund und der eifrigste Förderer der innern Mission in Wieherns Sinn und Geiste ge¬ wesen ist. Der „Rettung" im christlichen Sinne bedürften die Reichen min¬ destens so sehr wie die Armen, bei diesen aber handle es sich darum, ihnen dazu zu helfen, daß sie sich selbst helfen können, eben durch Genossenschaften, deren Thätigkeit ohne Nächstenliebe, Mäßigkeit, Sparsamkeit, geordnetes Fa¬ milienleben gar nicht möglich sei und an und sür sich selbst schon alle christ¬ lichen Tugenden fördere. Sollten sich aber die Arbeiter in Genossenschaften selbst helfen, so müßten sie natürlich das Koalitionsrecht haben, was sich ohnehin von selbst verstehe, da der Arbeiter uicht mehr persönlich frei sein würde, wenn es ihm nicht gestattet wäre, über seine Arbeit frei zu verfügen. Alle Maßregeln, die dieses Recht, nachdem es einmal gewährt sei, illusorisch machen, seien verwerflich. Es würde „sittlich ein durchaus unverantwortlicher und praktisch unerträglicher — ja geradezu furchtbarer Zustand sein, worin das wichtigste, fast das einzige Recht, das Lebcnsrecht und die Lebensbedingung von Millionen zu einer bloßen Illusion würde. Wer einen solchen Zustand vertreten zu müssen oder zu können glaubt, der täusche sich wenigstens nicht darüber, daß er notwendig, thatsächlich zur Leibeigenschaft, gleichviel unter welcher Form und unter welchem Namen führen muß" (richtiger gesagt: Leib¬ eigenschaft ist). Dürften die Arbeiter ihr Recht den Brotherren gegenüber nicht selbst geltend machen, so müßten sie fordern, daß es der Staat thue, und lasse sich dieser darauf ein, so übernehme er damit eine ungeheure Verant¬ wortung. Seiner ganzen Anlage nach konnte Huber nur ein entschiedner Gegner

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/472>, abgerufen am 26.06.2024.