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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Stölzels juristische Lehrmethode

heischen Litteratur, das auch -- wie die genannte Kritik -- von einem Mitgliede
des Reichsgerichts herrührt, um Rehbeins Entscheidungen des Obertribunals.
Die abgedruckten Entscheidungen selber mit ihren langen, zum Teil veralteten
dogmatischen Ausführungen, aus denen mau sich die springenden Punkte mit
Mühe heraussuchen muß, haben für den Studenten wohl nur einen zweifelhaften
Wert. Was aber unter dem Text vom Verfasser selbst geboten wird: die Zu¬
sammenstellung und Gegenüberstellung der mannichfachen den Rechtsbegriff oder
Rechtssatz veranschaulichenden praktischen Streitfälle in übersichtlicher Kürze,
das ist ein juristisches Bildungsmittel, das von keinem der üblichen Lehrbücher
erreicht wird.

Juristischer Anschauungsunterricht an Objekten des modernen Rechts-
lebens -- das wäre also das erste, was dem jungen Studenten darzubieten
wäre. Keine sogenannte Systematik, es sei denn der Plan, zuerst die dem
Denken des Neulings zunächst liegenden, dann die schwerer zu begreifenden
Rechtsverhältnisse vorzuführen. Im Gegensatz dazu Hort heutzutage der Student
(im ersten Semester) eine systematisch-dogmatische Vorlesung über Institutionen
des römischen Rechts, d. h. über die Nechtseinrichtungen, wie sie im römischen
Volk vor und unmittelbar nach Christi Geburt geherrscht haben!

Ich denke mir dann weiter, daß man in ähnlicher Weise, wie es Stölzel
thut, den Studenten an den konkret vorzuführenden Erscheinungen des Rechts¬
lebens dieselben Geistesoperationen durchmachen lassen sollte, die der Gesetz¬
geber durchmachen muß, um zur Aufstellung seiner Sätze zu gelangen. Der
Gesetzgeber wird sich much nicht zuerst mit einem System und mit festgelegten
Begriffen umgeben, um daraus seine Sätze abzuleiten, sondern er wird sich
-- wenn er richtig vorgehen will -- die realen Erscheinungen des Lebens¬
gebietes, das er regeln soll, in möglichst großer Menge vorstellen müssen, um
sich dann zu fragen: welche Sätze muß ich aufstellen, damit wenigstens für
die Mehrzahl dieser Fülle ein praktisch befriedigendes Ergebnis herauskommt?

Das Recht nicht als etwas feststehend Gegebnes vorzutragen, sondern so
viel als möglich die Hörer selber die Nechtssütze finden zu lassen -- das scheint
mir aber auch pädagogisch von außerordentlichem Werte zu sein. Erstens wird
dadurch von Anfang an die schöpferische Denkthätigkeit des jungen Studenten
angeregt, während sie sich jetzt lange Zeit hindurch bloß rezeptiv verhalten
und dadurch in ihrer Kraft und Frische erlahmen. Sodann aber wirkt diese
Methode auf die jungen Hörer in ebenso günstiger Weise ein, wie die andre,
sie an Fehlern lernen zu lassen. Sie werden von vornherein vor einer Über¬
schätzung der logischen Seite des Rechts behütet und darauf hingewiesen, ihren
Sinn auf eine zweckmüßige, dem menschlichen Gemeinleben nützliche Ausübung
des juristischen Berufs zu richten. Ist es doch auch ein tiefes Bedürfnis ge¬
rade der jugendlichen Geister, die Dinge bis auf ihre letzten Gründe zu ver¬
folgen. Ich weiß, daß in meiner Universitätszeit hauptsächlich zwei ungelöste


Stölzels juristische Lehrmethode

heischen Litteratur, das auch — wie die genannte Kritik — von einem Mitgliede
des Reichsgerichts herrührt, um Rehbeins Entscheidungen des Obertribunals.
Die abgedruckten Entscheidungen selber mit ihren langen, zum Teil veralteten
dogmatischen Ausführungen, aus denen mau sich die springenden Punkte mit
Mühe heraussuchen muß, haben für den Studenten wohl nur einen zweifelhaften
Wert. Was aber unter dem Text vom Verfasser selbst geboten wird: die Zu¬
sammenstellung und Gegenüberstellung der mannichfachen den Rechtsbegriff oder
Rechtssatz veranschaulichenden praktischen Streitfälle in übersichtlicher Kürze,
das ist ein juristisches Bildungsmittel, das von keinem der üblichen Lehrbücher
erreicht wird.

Juristischer Anschauungsunterricht an Objekten des modernen Rechts-
lebens — das wäre also das erste, was dem jungen Studenten darzubieten
wäre. Keine sogenannte Systematik, es sei denn der Plan, zuerst die dem
Denken des Neulings zunächst liegenden, dann die schwerer zu begreifenden
Rechtsverhältnisse vorzuführen. Im Gegensatz dazu Hort heutzutage der Student
(im ersten Semester) eine systematisch-dogmatische Vorlesung über Institutionen
des römischen Rechts, d. h. über die Nechtseinrichtungen, wie sie im römischen
Volk vor und unmittelbar nach Christi Geburt geherrscht haben!

Ich denke mir dann weiter, daß man in ähnlicher Weise, wie es Stölzel
thut, den Studenten an den konkret vorzuführenden Erscheinungen des Rechts¬
lebens dieselben Geistesoperationen durchmachen lassen sollte, die der Gesetz¬
geber durchmachen muß, um zur Aufstellung seiner Sätze zu gelangen. Der
Gesetzgeber wird sich much nicht zuerst mit einem System und mit festgelegten
Begriffen umgeben, um daraus seine Sätze abzuleiten, sondern er wird sich
— wenn er richtig vorgehen will — die realen Erscheinungen des Lebens¬
gebietes, das er regeln soll, in möglichst großer Menge vorstellen müssen, um
sich dann zu fragen: welche Sätze muß ich aufstellen, damit wenigstens für
die Mehrzahl dieser Fülle ein praktisch befriedigendes Ergebnis herauskommt?

Das Recht nicht als etwas feststehend Gegebnes vorzutragen, sondern so
viel als möglich die Hörer selber die Nechtssütze finden zu lassen — das scheint
mir aber auch pädagogisch von außerordentlichem Werte zu sein. Erstens wird
dadurch von Anfang an die schöpferische Denkthätigkeit des jungen Studenten
angeregt, während sie sich jetzt lange Zeit hindurch bloß rezeptiv verhalten
und dadurch in ihrer Kraft und Frische erlahmen. Sodann aber wirkt diese
Methode auf die jungen Hörer in ebenso günstiger Weise ein, wie die andre,
sie an Fehlern lernen zu lassen. Sie werden von vornherein vor einer Über¬
schätzung der logischen Seite des Rechts behütet und darauf hingewiesen, ihren
Sinn auf eine zweckmüßige, dem menschlichen Gemeinleben nützliche Ausübung
des juristischen Berufs zu richten. Ist es doch auch ein tiefes Bedürfnis ge¬
rade der jugendlichen Geister, die Dinge bis auf ihre letzten Gründe zu ver¬
folgen. Ich weiß, daß in meiner Universitätszeit hauptsächlich zwei ungelöste


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[0465] Stölzels juristische Lehrmethode heischen Litteratur, das auch — wie die genannte Kritik — von einem Mitgliede des Reichsgerichts herrührt, um Rehbeins Entscheidungen des Obertribunals. Die abgedruckten Entscheidungen selber mit ihren langen, zum Teil veralteten dogmatischen Ausführungen, aus denen mau sich die springenden Punkte mit Mühe heraussuchen muß, haben für den Studenten wohl nur einen zweifelhaften Wert. Was aber unter dem Text vom Verfasser selbst geboten wird: die Zu¬ sammenstellung und Gegenüberstellung der mannichfachen den Rechtsbegriff oder Rechtssatz veranschaulichenden praktischen Streitfälle in übersichtlicher Kürze, das ist ein juristisches Bildungsmittel, das von keinem der üblichen Lehrbücher erreicht wird. Juristischer Anschauungsunterricht an Objekten des modernen Rechts- lebens — das wäre also das erste, was dem jungen Studenten darzubieten wäre. Keine sogenannte Systematik, es sei denn der Plan, zuerst die dem Denken des Neulings zunächst liegenden, dann die schwerer zu begreifenden Rechtsverhältnisse vorzuführen. Im Gegensatz dazu Hort heutzutage der Student (im ersten Semester) eine systematisch-dogmatische Vorlesung über Institutionen des römischen Rechts, d. h. über die Nechtseinrichtungen, wie sie im römischen Volk vor und unmittelbar nach Christi Geburt geherrscht haben! Ich denke mir dann weiter, daß man in ähnlicher Weise, wie es Stölzel thut, den Studenten an den konkret vorzuführenden Erscheinungen des Rechts¬ lebens dieselben Geistesoperationen durchmachen lassen sollte, die der Gesetz¬ geber durchmachen muß, um zur Aufstellung seiner Sätze zu gelangen. Der Gesetzgeber wird sich much nicht zuerst mit einem System und mit festgelegten Begriffen umgeben, um daraus seine Sätze abzuleiten, sondern er wird sich — wenn er richtig vorgehen will — die realen Erscheinungen des Lebens¬ gebietes, das er regeln soll, in möglichst großer Menge vorstellen müssen, um sich dann zu fragen: welche Sätze muß ich aufstellen, damit wenigstens für die Mehrzahl dieser Fülle ein praktisch befriedigendes Ergebnis herauskommt? Das Recht nicht als etwas feststehend Gegebnes vorzutragen, sondern so viel als möglich die Hörer selber die Nechtssütze finden zu lassen — das scheint mir aber auch pädagogisch von außerordentlichem Werte zu sein. Erstens wird dadurch von Anfang an die schöpferische Denkthätigkeit des jungen Studenten angeregt, während sie sich jetzt lange Zeit hindurch bloß rezeptiv verhalten und dadurch in ihrer Kraft und Frische erlahmen. Sodann aber wirkt diese Methode auf die jungen Hörer in ebenso günstiger Weise ein, wie die andre, sie an Fehlern lernen zu lassen. Sie werden von vornherein vor einer Über¬ schätzung der logischen Seite des Rechts behütet und darauf hingewiesen, ihren Sinn auf eine zweckmüßige, dem menschlichen Gemeinleben nützliche Ausübung des juristischen Berufs zu richten. Ist es doch auch ein tiefes Bedürfnis ge¬ rade der jugendlichen Geister, die Dinge bis auf ihre letzten Gründe zu ver¬ folgen. Ich weiß, daß in meiner Universitätszeit hauptsächlich zwei ungelöste

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/465>, abgerufen am 23.07.2024.