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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Ztölzels juristische Lehrmethode

beim Referendar das schriftliche und mündliche Neferircn und Votiren. Ohne
theoretische Vorbildung bleibt beiden die Analyse juristischer Fülle größtenteils
unverständlich." Ob das letzte Urteil zutrifft, darüber mag sich jeder durch
Lesen des Stölzelschen Buches selber seine Ansicht bilden; ich denke, die Mehr¬
zahl der Leser wird gerade auf Grund dieser Vorträge für bewiesen ansehen,
daß man durch eine geeignete Methode die Beurteilung praktischer Nechtsfälle
auch dem des Rechts noch völlig Unkundigen zum Verständnis bringen kann.
Gegenüber der weitern Ausführung dieser Kritik möchte ich die Behauptung
wagen -- und ich bin darin der Zustimmung eines großen Teils der Juristen
gewiß: nichts ist weniger geeignet zur Einführung in die Jurisprudenz und
zur Gewinnung des juristischen Urteils -- was doch im Gegensatz zur Kenntnis
der Dogmatik und der Geschichte des Rechts die Hauptsache bleibt --, als die
hergebrachte systematische Vorlesung und die üblichen theoretischen Lehrbücher,
so vortrefflich auch beide für den Gerciftern sein mögen. Ein Kind wird in
die Welt der Dinge nicht eingeführt, indem man ihm erzählt: es giebt ein
Tierreich und ein Pflanzenreich und ein Mineralreich -- und indem man ihm
die zu den einzelnen Reichen gehörenden Gegenstände beschreibt; sondern man
zeigt ihm ein Pferd und eine Kuh und einen Hund und lehrt ihn an der
Natur und an Abbildungen diese Tiere erkennen und unterscheiden. Auch
der Jünger der Jurisprudenz tritt in eine neue Welt ein. Einmal sind
ihm die Lebensverhältnisse, auf die sich die zu lehrenden Rechtsvorschriften be¬
ziehen, großenteils unbekannt. Wer kennt als Sohn eines Beamten das Ge¬
triebe des Handels? Oder wer weiß als Großstädter, zu welchen Nechts-
konflikten die Verhältnisse des platten Landes führen können? Oder wer bringt
als Bewohner der Ebne genügende Vorstellungen für das Bergrecht mit? So¬
dann aber muß sich der angehende Jurist gewöhnen, die ihm bekannten Vor¬
gänge von andrer Seite und mit ganz andern Augen anzusehen. Bisher "kaufte"
er sich ein Pferdebahnbillet, nun erfährt er, daß es sich dabei nicht um Kauf,
sondern um den Vertrag über eine Arbeitsleistung handelt. Er sprach von
einer "Leib"bibliothek und hört nun, daß hier die Bücher nicht verliehen,
sondern "vermietet" werden. Er ließ sich ein "Sparkassenbuch" schenken und
lernt nun begreifen, daß hierbei nicht sowohl das Vues, sondern die Forde¬
rung an die Sparkasse den Gegenstand der Schenkung bildet. Durch den her¬
gebrachten systematischen Vortrag und durch Definitionen wird man den Unter¬
schied der Kontraktsarten -- etwa von Kauf und Miete -- schwerlich erfassen.
Wer das Schwierige dieses Unterschieds kennt, wird mir Recht geben, daß das
nur geschehen kaun durch Vorführung von zwanzig oder mehr konkreten Nechts-
süllen, die mit kleinen Schattirungen von der einen zur andern Kontraktsart
überleiten.

In wie hervorragendem Maße diese Lehrweise geeignet ist, das juristische
Unterscheidungsvermögen zu bilden, zeigt sich an einem andern Werke der juri-


Ztölzels juristische Lehrmethode

beim Referendar das schriftliche und mündliche Neferircn und Votiren. Ohne
theoretische Vorbildung bleibt beiden die Analyse juristischer Fülle größtenteils
unverständlich." Ob das letzte Urteil zutrifft, darüber mag sich jeder durch
Lesen des Stölzelschen Buches selber seine Ansicht bilden; ich denke, die Mehr¬
zahl der Leser wird gerade auf Grund dieser Vorträge für bewiesen ansehen,
daß man durch eine geeignete Methode die Beurteilung praktischer Nechtsfälle
auch dem des Rechts noch völlig Unkundigen zum Verständnis bringen kann.
Gegenüber der weitern Ausführung dieser Kritik möchte ich die Behauptung
wagen — und ich bin darin der Zustimmung eines großen Teils der Juristen
gewiß: nichts ist weniger geeignet zur Einführung in die Jurisprudenz und
zur Gewinnung des juristischen Urteils — was doch im Gegensatz zur Kenntnis
der Dogmatik und der Geschichte des Rechts die Hauptsache bleibt —, als die
hergebrachte systematische Vorlesung und die üblichen theoretischen Lehrbücher,
so vortrefflich auch beide für den Gerciftern sein mögen. Ein Kind wird in
die Welt der Dinge nicht eingeführt, indem man ihm erzählt: es giebt ein
Tierreich und ein Pflanzenreich und ein Mineralreich — und indem man ihm
die zu den einzelnen Reichen gehörenden Gegenstände beschreibt; sondern man
zeigt ihm ein Pferd und eine Kuh und einen Hund und lehrt ihn an der
Natur und an Abbildungen diese Tiere erkennen und unterscheiden. Auch
der Jünger der Jurisprudenz tritt in eine neue Welt ein. Einmal sind
ihm die Lebensverhältnisse, auf die sich die zu lehrenden Rechtsvorschriften be¬
ziehen, großenteils unbekannt. Wer kennt als Sohn eines Beamten das Ge¬
triebe des Handels? Oder wer weiß als Großstädter, zu welchen Nechts-
konflikten die Verhältnisse des platten Landes führen können? Oder wer bringt
als Bewohner der Ebne genügende Vorstellungen für das Bergrecht mit? So¬
dann aber muß sich der angehende Jurist gewöhnen, die ihm bekannten Vor¬
gänge von andrer Seite und mit ganz andern Augen anzusehen. Bisher „kaufte"
er sich ein Pferdebahnbillet, nun erfährt er, daß es sich dabei nicht um Kauf,
sondern um den Vertrag über eine Arbeitsleistung handelt. Er sprach von
einer „Leib"bibliothek und hört nun, daß hier die Bücher nicht verliehen,
sondern „vermietet" werden. Er ließ sich ein „Sparkassenbuch" schenken und
lernt nun begreifen, daß hierbei nicht sowohl das Vues, sondern die Forde¬
rung an die Sparkasse den Gegenstand der Schenkung bildet. Durch den her¬
gebrachten systematischen Vortrag und durch Definitionen wird man den Unter¬
schied der Kontraktsarten — etwa von Kauf und Miete — schwerlich erfassen.
Wer das Schwierige dieses Unterschieds kennt, wird mir Recht geben, daß das
nur geschehen kaun durch Vorführung von zwanzig oder mehr konkreten Nechts-
süllen, die mit kleinen Schattirungen von der einen zur andern Kontraktsart
überleiten.

In wie hervorragendem Maße diese Lehrweise geeignet ist, das juristische
Unterscheidungsvermögen zu bilden, zeigt sich an einem andern Werke der juri-


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[0464] Ztölzels juristische Lehrmethode beim Referendar das schriftliche und mündliche Neferircn und Votiren. Ohne theoretische Vorbildung bleibt beiden die Analyse juristischer Fülle größtenteils unverständlich." Ob das letzte Urteil zutrifft, darüber mag sich jeder durch Lesen des Stölzelschen Buches selber seine Ansicht bilden; ich denke, die Mehr¬ zahl der Leser wird gerade auf Grund dieser Vorträge für bewiesen ansehen, daß man durch eine geeignete Methode die Beurteilung praktischer Nechtsfälle auch dem des Rechts noch völlig Unkundigen zum Verständnis bringen kann. Gegenüber der weitern Ausführung dieser Kritik möchte ich die Behauptung wagen — und ich bin darin der Zustimmung eines großen Teils der Juristen gewiß: nichts ist weniger geeignet zur Einführung in die Jurisprudenz und zur Gewinnung des juristischen Urteils — was doch im Gegensatz zur Kenntnis der Dogmatik und der Geschichte des Rechts die Hauptsache bleibt —, als die hergebrachte systematische Vorlesung und die üblichen theoretischen Lehrbücher, so vortrefflich auch beide für den Gerciftern sein mögen. Ein Kind wird in die Welt der Dinge nicht eingeführt, indem man ihm erzählt: es giebt ein Tierreich und ein Pflanzenreich und ein Mineralreich — und indem man ihm die zu den einzelnen Reichen gehörenden Gegenstände beschreibt; sondern man zeigt ihm ein Pferd und eine Kuh und einen Hund und lehrt ihn an der Natur und an Abbildungen diese Tiere erkennen und unterscheiden. Auch der Jünger der Jurisprudenz tritt in eine neue Welt ein. Einmal sind ihm die Lebensverhältnisse, auf die sich die zu lehrenden Rechtsvorschriften be¬ ziehen, großenteils unbekannt. Wer kennt als Sohn eines Beamten das Ge¬ triebe des Handels? Oder wer weiß als Großstädter, zu welchen Nechts- konflikten die Verhältnisse des platten Landes führen können? Oder wer bringt als Bewohner der Ebne genügende Vorstellungen für das Bergrecht mit? So¬ dann aber muß sich der angehende Jurist gewöhnen, die ihm bekannten Vor¬ gänge von andrer Seite und mit ganz andern Augen anzusehen. Bisher „kaufte" er sich ein Pferdebahnbillet, nun erfährt er, daß es sich dabei nicht um Kauf, sondern um den Vertrag über eine Arbeitsleistung handelt. Er sprach von einer „Leib"bibliothek und hört nun, daß hier die Bücher nicht verliehen, sondern „vermietet" werden. Er ließ sich ein „Sparkassenbuch" schenken und lernt nun begreifen, daß hierbei nicht sowohl das Vues, sondern die Forde¬ rung an die Sparkasse den Gegenstand der Schenkung bildet. Durch den her¬ gebrachten systematischen Vortrag und durch Definitionen wird man den Unter¬ schied der Kontraktsarten — etwa von Kauf und Miete — schwerlich erfassen. Wer das Schwierige dieses Unterschieds kennt, wird mir Recht geben, daß das nur geschehen kaun durch Vorführung von zwanzig oder mehr konkreten Nechts- süllen, die mit kleinen Schattirungen von der einen zur andern Kontraktsart überleiten. In wie hervorragendem Maße diese Lehrweise geeignet ist, das juristische Unterscheidungsvermögen zu bilden, zeigt sich an einem andern Werke der juri-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/464>, abgerufen am 23.07.2024.