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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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doch keines von ihnen den Eindruck, als ob es aus einer Borliebe des Schrift¬
stellers für irgend etwas hervorginge, sondern alle geben sich als Notwendig¬
keiten, die gerade so erscheinen wollen, wie sie unter der Einwirkung bestimmter
Ursachen erscheinen. Kurz, alle diese Äußerungen sind Handlungen, unter der
Gewalt zwingender Motive lebendig aus den Seelen der verschiednen Menschen
hervorgetrieben. Es braucht nicht hinzugefügt zu werden, daß damit die dichte¬
rische Thätigkeit bezeichnet ist, von der der Hauptsache nach der vom Dichter
beabsichtigte Erfolg abhängt.

Der Hauptsache nach. Denn es ist unzweifelhaft, daß, wenn die so oder
so angelegten Charaktere ihrer Natur entsprechend auf die vorgehaltnen Motive
richtig reagiren, auch in Beziehung auf die Charakteristik das vom Schrift¬
steller geleistet worden ist, was von ihm verlangt werden kann. Also auch
nach dieser Richtung braucht der Roman Zollings keine Prüfung zu scheuen.
Die Personen, mit denen wir es thun haben, können ihrer Natur nach in drei
Gattungen geteilt werden, erstens in solche, deren Charakter historisch festliegt,
und die der Dichter uur unter eine neue, das heißt von ihm selbst hergestellte
Beleuchtung gebracht hat, zweitens in gemischte, das heißt solche, die uns eine
doppelte, eine historische und rein dichterische Seite sehen lassen, endlich in solche,
die nur Gebilde aus der Phantasie des Dichters sind. Von den ersten kommen
nur Fürst Bismarck und der damalige Führer des Zentrums, Windthorst, in
Betracht, der verabschiedete Kanzler im Augenblick seiner Abreise von Berlin,
der andre während einer Verhandlung im Reichstage. Jeder, der einigermaßen
mit den politischen Vorgängen der letzten dreißig Jahre vertraut ist und als
vaterlandsliebender Mann ihnen nicht feindlich gegenübersteht, hat sich zweifellos
von beiden Männern ganz bestimmte Vorstellungen gebildet. Möglich, daß
hie und da in der einen Vorstellung Bewunderung, Liebe, Verehrung etwas
überschwängliches haben, in der andern dem Mißtrauen zu viel Feindseligkeit
beigemischt ist. Nun vergleiche jeder die Augenblicksnnfnahme Zollings mit
dein von ihm selber entworfnen Gesamtbilde, und dann frage er sich, ob nicht
jene dazu angethan sei, in dieses größere Klarheit und Bestimmtheit zu bringen.
Was ich von den Charakteren der zweiten Gattung sagen soll? Der Dichter
giebt hier deu Leuten, die nicht mit Sicherheit zu lesen verstehen, ein artiges
Vexirspiel nach dem Rezept: Wo ist die Katz? zum beseelt. Indem er Personen
mit bestimmten Namen und Lebensstellungen seinen eignen dichterischen Inhalt
einfüllt, führt er die Neugier und Klatschsucht irre. Schon glaubt der gespannte
Leser eine bestimmte Persönlichkeit beim Rockschoß fest zu haben und hofft,
etwas Pikantes erzählt zu bekommen; da kommt eine ganz unerwartete Wen¬
dung, und siehe da, es war nichts, unter den Fingern ist ihm die Erscheinung
entglitten. An den Gestalten der dritten Art wird der Leser die meiste Freude
haben. Frische und wahre, nicht aus dem Leben gegriffen, wie es jetzt so oft
heißt, sondern in frei schaffender Phantasie auf die Beine gestellt, sind sie alle


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doch keines von ihnen den Eindruck, als ob es aus einer Borliebe des Schrift¬
stellers für irgend etwas hervorginge, sondern alle geben sich als Notwendig¬
keiten, die gerade so erscheinen wollen, wie sie unter der Einwirkung bestimmter
Ursachen erscheinen. Kurz, alle diese Äußerungen sind Handlungen, unter der
Gewalt zwingender Motive lebendig aus den Seelen der verschiednen Menschen
hervorgetrieben. Es braucht nicht hinzugefügt zu werden, daß damit die dichte¬
rische Thätigkeit bezeichnet ist, von der der Hauptsache nach der vom Dichter
beabsichtigte Erfolg abhängt.

Der Hauptsache nach. Denn es ist unzweifelhaft, daß, wenn die so oder
so angelegten Charaktere ihrer Natur entsprechend auf die vorgehaltnen Motive
richtig reagiren, auch in Beziehung auf die Charakteristik das vom Schrift¬
steller geleistet worden ist, was von ihm verlangt werden kann. Also auch
nach dieser Richtung braucht der Roman Zollings keine Prüfung zu scheuen.
Die Personen, mit denen wir es thun haben, können ihrer Natur nach in drei
Gattungen geteilt werden, erstens in solche, deren Charakter historisch festliegt,
und die der Dichter uur unter eine neue, das heißt von ihm selbst hergestellte
Beleuchtung gebracht hat, zweitens in gemischte, das heißt solche, die uns eine
doppelte, eine historische und rein dichterische Seite sehen lassen, endlich in solche,
die nur Gebilde aus der Phantasie des Dichters sind. Von den ersten kommen
nur Fürst Bismarck und der damalige Führer des Zentrums, Windthorst, in
Betracht, der verabschiedete Kanzler im Augenblick seiner Abreise von Berlin,
der andre während einer Verhandlung im Reichstage. Jeder, der einigermaßen
mit den politischen Vorgängen der letzten dreißig Jahre vertraut ist und als
vaterlandsliebender Mann ihnen nicht feindlich gegenübersteht, hat sich zweifellos
von beiden Männern ganz bestimmte Vorstellungen gebildet. Möglich, daß
hie und da in der einen Vorstellung Bewunderung, Liebe, Verehrung etwas
überschwängliches haben, in der andern dem Mißtrauen zu viel Feindseligkeit
beigemischt ist. Nun vergleiche jeder die Augenblicksnnfnahme Zollings mit
dein von ihm selber entworfnen Gesamtbilde, und dann frage er sich, ob nicht
jene dazu angethan sei, in dieses größere Klarheit und Bestimmtheit zu bringen.
Was ich von den Charakteren der zweiten Gattung sagen soll? Der Dichter
giebt hier deu Leuten, die nicht mit Sicherheit zu lesen verstehen, ein artiges
Vexirspiel nach dem Rezept: Wo ist die Katz? zum beseelt. Indem er Personen
mit bestimmten Namen und Lebensstellungen seinen eignen dichterischen Inhalt
einfüllt, führt er die Neugier und Klatschsucht irre. Schon glaubt der gespannte
Leser eine bestimmte Persönlichkeit beim Rockschoß fest zu haben und hofft,
etwas Pikantes erzählt zu bekommen; da kommt eine ganz unerwartete Wen¬
dung, und siehe da, es war nichts, unter den Fingern ist ihm die Erscheinung
entglitten. An den Gestalten der dritten Art wird der Leser die meiste Freude
haben. Frische und wahre, nicht aus dem Leben gegriffen, wie es jetzt so oft
heißt, sondern in frei schaffender Phantasie auf die Beine gestellt, sind sie alle


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[0046] Bismarcks Nachfolger doch keines von ihnen den Eindruck, als ob es aus einer Borliebe des Schrift¬ stellers für irgend etwas hervorginge, sondern alle geben sich als Notwendig¬ keiten, die gerade so erscheinen wollen, wie sie unter der Einwirkung bestimmter Ursachen erscheinen. Kurz, alle diese Äußerungen sind Handlungen, unter der Gewalt zwingender Motive lebendig aus den Seelen der verschiednen Menschen hervorgetrieben. Es braucht nicht hinzugefügt zu werden, daß damit die dichte¬ rische Thätigkeit bezeichnet ist, von der der Hauptsache nach der vom Dichter beabsichtigte Erfolg abhängt. Der Hauptsache nach. Denn es ist unzweifelhaft, daß, wenn die so oder so angelegten Charaktere ihrer Natur entsprechend auf die vorgehaltnen Motive richtig reagiren, auch in Beziehung auf die Charakteristik das vom Schrift¬ steller geleistet worden ist, was von ihm verlangt werden kann. Also auch nach dieser Richtung braucht der Roman Zollings keine Prüfung zu scheuen. Die Personen, mit denen wir es thun haben, können ihrer Natur nach in drei Gattungen geteilt werden, erstens in solche, deren Charakter historisch festliegt, und die der Dichter uur unter eine neue, das heißt von ihm selbst hergestellte Beleuchtung gebracht hat, zweitens in gemischte, das heißt solche, die uns eine doppelte, eine historische und rein dichterische Seite sehen lassen, endlich in solche, die nur Gebilde aus der Phantasie des Dichters sind. Von den ersten kommen nur Fürst Bismarck und der damalige Führer des Zentrums, Windthorst, in Betracht, der verabschiedete Kanzler im Augenblick seiner Abreise von Berlin, der andre während einer Verhandlung im Reichstage. Jeder, der einigermaßen mit den politischen Vorgängen der letzten dreißig Jahre vertraut ist und als vaterlandsliebender Mann ihnen nicht feindlich gegenübersteht, hat sich zweifellos von beiden Männern ganz bestimmte Vorstellungen gebildet. Möglich, daß hie und da in der einen Vorstellung Bewunderung, Liebe, Verehrung etwas überschwängliches haben, in der andern dem Mißtrauen zu viel Feindseligkeit beigemischt ist. Nun vergleiche jeder die Augenblicksnnfnahme Zollings mit dein von ihm selber entworfnen Gesamtbilde, und dann frage er sich, ob nicht jene dazu angethan sei, in dieses größere Klarheit und Bestimmtheit zu bringen. Was ich von den Charakteren der zweiten Gattung sagen soll? Der Dichter giebt hier deu Leuten, die nicht mit Sicherheit zu lesen verstehen, ein artiges Vexirspiel nach dem Rezept: Wo ist die Katz? zum beseelt. Indem er Personen mit bestimmten Namen und Lebensstellungen seinen eignen dichterischen Inhalt einfüllt, führt er die Neugier und Klatschsucht irre. Schon glaubt der gespannte Leser eine bestimmte Persönlichkeit beim Rockschoß fest zu haben und hofft, etwas Pikantes erzählt zu bekommen; da kommt eine ganz unerwartete Wen¬ dung, und siehe da, es war nichts, unter den Fingern ist ihm die Erscheinung entglitten. An den Gestalten der dritten Art wird der Leser die meiste Freude haben. Frische und wahre, nicht aus dem Leben gegriffen, wie es jetzt so oft heißt, sondern in frei schaffender Phantasie auf die Beine gestellt, sind sie alle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/46>, abgerufen am 03.07.2024.