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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Bismarcks Nachfolger

UM so lebendigem Odem einzublasen. Äußerste Thatsächlichkeit ist die For¬
derung, die nicht minder an den Epiker der gegenwärtigen wie den der ent¬
ferntesten Dinge gestellt werden muß.

Für Zolling lag, wenn er seinen Stoff aus einem so heftig bewegten Ge¬
biete der Gegenwart wählte , wie es die Politik des zweiten Kanzlers
bildet, die Gefahr nahe, daß er die ihm über dem Streit der Meinungen an¬
gewiesene Stellung- aufgab, und daß er in verkehrter, dem Künstler und Dichter
am wenigsten geziemender Parteinahme sich an seineu Stoff verlor. Dann
wäre sein Roman in epischer Form nichts andres gewesen als eine Fortsetzung
der gegen Caprivi und den Parlamentarismus gerichteten politischen Aufsätze,
von denen man in der von Zolling herausgegebnen Gegenwart eine große
Anzahl finden kann. In der That ist auch eine gewisse Kritik von dieser Be¬
hauptung ausgegangen, sie nennt das Werk des Dichters ohne weiteres ein
Pamphlet auf den Reichstag. Nun, was Kritik anlangt, so hat man sich in
Deutschland schon seit langem an erstaunliche Dinge gewöhnen müssen, und
so hat denn auch diese Bezeichnung nichts auffälliges. Nur mag dazu die
Bemerkung gemacht sein, daß in dem ganzen Roman kaum eine Stelle zu einem
so abfülligen Urteil Veranlassung giebt. Man verwechselt die Meinungs¬
äußerungen der in der Erzühluug vorkommenden Personen mit den Über¬
zeugungen des Dichters. Gerade das ist aber auch an diesem Roman wieder
der Hauptvorzug, daß des Verfassers Ansichten über Personen und Dinge
völlig zurücktreten. Urteile giebt der Roman allerdings genug, und auch sehr
scharfe sowohl über den ganzen Reichstag und sein Verhalten, als auch über
die Fraktionen und deren einzelne Mitglieder; aber das sind keine Urteile des
Dichters, die er mehr oder weniger geschickt an dieser Stelle ablagert oder
mechanisch den von ihm geschaffnen Figuren anheftet, sondern es sind Lebens¬
äußerungen der Menschen im Roman, die in ihrem Handeln den lebendigen
Inhalt der Erzählung ausmünden.

In diesem letzten Punkte liegt der Kern der Sache. Es soll keineswegs
gesagt werden, daß der Dichter selber keine politische Anschauung haben dürfe;
man kann sogar mit Sicherheit annehmen, daß Zolling in diesem seinem neuesten
Buche sein ganzes politisches Denken und Fühlen auf den Helden übertragen
hat. Aber wenn man es nicht sonst wüßte, aus dem Werke selbst würde man
den Beweis dafür nicht bringen können. "Politisch Lied, ein garstig Lied."
Goethe hat damit nicht sagen wollen, daß überhaupt Politik keinen Vorwurf
für die Dichtkunst abgeben dürfe, sondern er hat nnr den Dichter gewarnt,
sich zum Faufareubläser irgend eines politischen Dogmas herzugeben. Zolling
hat sich davor in "Bismarcks Nachfolger" ebenso wohl zu hüten gewußt, wie
er in seinen andern Romanen alle nnküustlerische Tendenz fern gehalten hat.
So viele politische Urteile laut werden, und es sind deren sehr viele, geäußert
von den verschiedensten Menschen in den verschiedensten Stellungen, so macht


Bismarcks Nachfolger

UM so lebendigem Odem einzublasen. Äußerste Thatsächlichkeit ist die For¬
derung, die nicht minder an den Epiker der gegenwärtigen wie den der ent¬
ferntesten Dinge gestellt werden muß.

Für Zolling lag, wenn er seinen Stoff aus einem so heftig bewegten Ge¬
biete der Gegenwart wählte , wie es die Politik des zweiten Kanzlers
bildet, die Gefahr nahe, daß er die ihm über dem Streit der Meinungen an¬
gewiesene Stellung- aufgab, und daß er in verkehrter, dem Künstler und Dichter
am wenigsten geziemender Parteinahme sich an seineu Stoff verlor. Dann
wäre sein Roman in epischer Form nichts andres gewesen als eine Fortsetzung
der gegen Caprivi und den Parlamentarismus gerichteten politischen Aufsätze,
von denen man in der von Zolling herausgegebnen Gegenwart eine große
Anzahl finden kann. In der That ist auch eine gewisse Kritik von dieser Be¬
hauptung ausgegangen, sie nennt das Werk des Dichters ohne weiteres ein
Pamphlet auf den Reichstag. Nun, was Kritik anlangt, so hat man sich in
Deutschland schon seit langem an erstaunliche Dinge gewöhnen müssen, und
so hat denn auch diese Bezeichnung nichts auffälliges. Nur mag dazu die
Bemerkung gemacht sein, daß in dem ganzen Roman kaum eine Stelle zu einem
so abfülligen Urteil Veranlassung giebt. Man verwechselt die Meinungs¬
äußerungen der in der Erzühluug vorkommenden Personen mit den Über¬
zeugungen des Dichters. Gerade das ist aber auch an diesem Roman wieder
der Hauptvorzug, daß des Verfassers Ansichten über Personen und Dinge
völlig zurücktreten. Urteile giebt der Roman allerdings genug, und auch sehr
scharfe sowohl über den ganzen Reichstag und sein Verhalten, als auch über
die Fraktionen und deren einzelne Mitglieder; aber das sind keine Urteile des
Dichters, die er mehr oder weniger geschickt an dieser Stelle ablagert oder
mechanisch den von ihm geschaffnen Figuren anheftet, sondern es sind Lebens¬
äußerungen der Menschen im Roman, die in ihrem Handeln den lebendigen
Inhalt der Erzählung ausmünden.

In diesem letzten Punkte liegt der Kern der Sache. Es soll keineswegs
gesagt werden, daß der Dichter selber keine politische Anschauung haben dürfe;
man kann sogar mit Sicherheit annehmen, daß Zolling in diesem seinem neuesten
Buche sein ganzes politisches Denken und Fühlen auf den Helden übertragen
hat. Aber wenn man es nicht sonst wüßte, aus dem Werke selbst würde man
den Beweis dafür nicht bringen können. „Politisch Lied, ein garstig Lied."
Goethe hat damit nicht sagen wollen, daß überhaupt Politik keinen Vorwurf
für die Dichtkunst abgeben dürfe, sondern er hat nnr den Dichter gewarnt,
sich zum Faufareubläser irgend eines politischen Dogmas herzugeben. Zolling
hat sich davor in „Bismarcks Nachfolger" ebenso wohl zu hüten gewußt, wie
er in seinen andern Romanen alle nnküustlerische Tendenz fern gehalten hat.
So viele politische Urteile laut werden, und es sind deren sehr viele, geäußert
von den verschiedensten Menschen in den verschiedensten Stellungen, so macht


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[0045] Bismarcks Nachfolger UM so lebendigem Odem einzublasen. Äußerste Thatsächlichkeit ist die For¬ derung, die nicht minder an den Epiker der gegenwärtigen wie den der ent¬ ferntesten Dinge gestellt werden muß. Für Zolling lag, wenn er seinen Stoff aus einem so heftig bewegten Ge¬ biete der Gegenwart wählte , wie es die Politik des zweiten Kanzlers bildet, die Gefahr nahe, daß er die ihm über dem Streit der Meinungen an¬ gewiesene Stellung- aufgab, und daß er in verkehrter, dem Künstler und Dichter am wenigsten geziemender Parteinahme sich an seineu Stoff verlor. Dann wäre sein Roman in epischer Form nichts andres gewesen als eine Fortsetzung der gegen Caprivi und den Parlamentarismus gerichteten politischen Aufsätze, von denen man in der von Zolling herausgegebnen Gegenwart eine große Anzahl finden kann. In der That ist auch eine gewisse Kritik von dieser Be¬ hauptung ausgegangen, sie nennt das Werk des Dichters ohne weiteres ein Pamphlet auf den Reichstag. Nun, was Kritik anlangt, so hat man sich in Deutschland schon seit langem an erstaunliche Dinge gewöhnen müssen, und so hat denn auch diese Bezeichnung nichts auffälliges. Nur mag dazu die Bemerkung gemacht sein, daß in dem ganzen Roman kaum eine Stelle zu einem so abfülligen Urteil Veranlassung giebt. Man verwechselt die Meinungs¬ äußerungen der in der Erzühluug vorkommenden Personen mit den Über¬ zeugungen des Dichters. Gerade das ist aber auch an diesem Roman wieder der Hauptvorzug, daß des Verfassers Ansichten über Personen und Dinge völlig zurücktreten. Urteile giebt der Roman allerdings genug, und auch sehr scharfe sowohl über den ganzen Reichstag und sein Verhalten, als auch über die Fraktionen und deren einzelne Mitglieder; aber das sind keine Urteile des Dichters, die er mehr oder weniger geschickt an dieser Stelle ablagert oder mechanisch den von ihm geschaffnen Figuren anheftet, sondern es sind Lebens¬ äußerungen der Menschen im Roman, die in ihrem Handeln den lebendigen Inhalt der Erzählung ausmünden. In diesem letzten Punkte liegt der Kern der Sache. Es soll keineswegs gesagt werden, daß der Dichter selber keine politische Anschauung haben dürfe; man kann sogar mit Sicherheit annehmen, daß Zolling in diesem seinem neuesten Buche sein ganzes politisches Denken und Fühlen auf den Helden übertragen hat. Aber wenn man es nicht sonst wüßte, aus dem Werke selbst würde man den Beweis dafür nicht bringen können. „Politisch Lied, ein garstig Lied." Goethe hat damit nicht sagen wollen, daß überhaupt Politik keinen Vorwurf für die Dichtkunst abgeben dürfe, sondern er hat nnr den Dichter gewarnt, sich zum Faufareubläser irgend eines politischen Dogmas herzugeben. Zolling hat sich davor in „Bismarcks Nachfolger" ebenso wohl zu hüten gewußt, wie er in seinen andern Romanen alle nnküustlerische Tendenz fern gehalten hat. So viele politische Urteile laut werden, und es sind deren sehr viele, geäußert von den verschiedensten Menschen in den verschiedensten Stellungen, so macht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/45>, abgerufen am 03.07.2024.