Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Noch ein Wort über Jrrsinnserklärung

machen, wo pflichtwidrig das Einschreiten unterlassen worden ist? Dann aller¬
dings könnte man von grober Rechtswidrigkeit sprechen.

Weiter wird unter Ur. 3 der Leitsätze gesagt: Der leitende Grundsatz für
alle Jrrengesetze müsse das Interesse des angeblich oder wirklich Irren sein.
Aber doch nicht allein! Auch das Interesse andrer kommt in Betracht, die
durch die Thätigkeit des Irren geschädigt werden können.

Was die Vorschlüge im einzelnen betrifft, so habe ich schon in meinem
frühern Aufsätze dem beigestimmt, daß die Irrenhäuser einer strengen staatlichen
Aufsicht bedürfen, damit die Möglichkeit ausgeschlossen bleibe, daß dort Ge¬
sunde festgehalten werden. Die hierfür bestehenden Vorschriften sind wohl meist
nur auf dem Verwaltungswege getroffen, daher in den einzelnen Ländern ver¬
schieden und deshalb schwer zu überblicken. Wo sie uicht befriedigend geordnet
sind, wäre daher Grund vorhanden, die bessernde Hand anzulegen. Ob dazu aber
ein Reichsgesetz nötig wäre, ist doch sehr die Frage. Auch mag es dahin ge¬
stellt bleiben, ob es wirklich nötig sei, für jeden Oberlandesgerichtsbezirk ein
"Jrrenaufsichtsamt," bestehend aus einem Richter, einem Verwaltungsbeamten,
einem Arzt, einem Geistlichen und fünf gewählten (von wem gewählten?) Ver¬
trauensmännern einzusetzen. Man ist hente gar zu geneigt, für alles und jedes
eine besondre Behörde zu fordern, und gerät dabei leicht in Übertreibung.
Einen unmittelbaren Einblick in die Irrenhäuser könnte diese Behörde doch
nicht üben. Denn sie könnte doch nicht neun Mann hoch dort einrücken, um
die Verhältnisse zu untersuchen. Sie wäre immer auf die Erkundungen unter¬
geordneter Personen angewiesen. Auch könnte ihr leicht das Leben recht sauer
gemacht werden. Wenn z. B. ein an Querulantenwahnsinn leidender in einem
Irrenhause säße, so würde sich dieser ein Vergnügen daraus machen, sie alle
Augenblicke zu alarmiren.

Die Hauptfrage bleibt freilich die angestrebte Umgestaltung des Ent-
mündignngsverfahrens. In dieser Beziehung sind die "Leitsätze" unter
Ur. So, <>, s, so wie sie dastehen, nicht gut verwertbar. Was darin Richtiges
ist, wird jeder verstündige Richter auch jetzt schon anwenden. Man kann aber
unmöglich dnrch Gesetze dem Richter für sein Verhalten eine vollständige An¬
weisung geben, da diese für den einen Fall passen würde, für den andern nicht.
Auch die für das Strafrecht vorgeschlagnen Bestimmungen unter Ur. 7 a, b, <;
sind ohne wesentliche Bedeutung. Wer vorsätzlich einen Gesunden als angeblich
Irren in das Irrenhaus bringt, ist jetzt schon nach Z 239 des Strafgesetzbuchs
wegen Freiheitsberaubung strafbar. Auch wer in einem Verfahren über Jrr-
sinnserklürung falsches Zeugnis ablegt, hat Strafe zu erwarten. Soll nun
etwa daneben noch eine zwar nicht vorsätzliche, aber verschuldete Thätigkeit
dieser Art mit Strafe bedroht werden? Ist dafür wirklich ein praktisches Be¬
dürfnis vorhanden? Immerhin ließe sich ja eine solche Vorschrift geben. Nur
würde sie äußerst selten zur Anwendung kommen.


Noch ein Wort über Jrrsinnserklärung

machen, wo pflichtwidrig das Einschreiten unterlassen worden ist? Dann aller¬
dings könnte man von grober Rechtswidrigkeit sprechen.

Weiter wird unter Ur. 3 der Leitsätze gesagt: Der leitende Grundsatz für
alle Jrrengesetze müsse das Interesse des angeblich oder wirklich Irren sein.
Aber doch nicht allein! Auch das Interesse andrer kommt in Betracht, die
durch die Thätigkeit des Irren geschädigt werden können.

Was die Vorschlüge im einzelnen betrifft, so habe ich schon in meinem
frühern Aufsätze dem beigestimmt, daß die Irrenhäuser einer strengen staatlichen
Aufsicht bedürfen, damit die Möglichkeit ausgeschlossen bleibe, daß dort Ge¬
sunde festgehalten werden. Die hierfür bestehenden Vorschriften sind wohl meist
nur auf dem Verwaltungswege getroffen, daher in den einzelnen Ländern ver¬
schieden und deshalb schwer zu überblicken. Wo sie uicht befriedigend geordnet
sind, wäre daher Grund vorhanden, die bessernde Hand anzulegen. Ob dazu aber
ein Reichsgesetz nötig wäre, ist doch sehr die Frage. Auch mag es dahin ge¬
stellt bleiben, ob es wirklich nötig sei, für jeden Oberlandesgerichtsbezirk ein
„Jrrenaufsichtsamt," bestehend aus einem Richter, einem Verwaltungsbeamten,
einem Arzt, einem Geistlichen und fünf gewählten (von wem gewählten?) Ver¬
trauensmännern einzusetzen. Man ist hente gar zu geneigt, für alles und jedes
eine besondre Behörde zu fordern, und gerät dabei leicht in Übertreibung.
Einen unmittelbaren Einblick in die Irrenhäuser könnte diese Behörde doch
nicht üben. Denn sie könnte doch nicht neun Mann hoch dort einrücken, um
die Verhältnisse zu untersuchen. Sie wäre immer auf die Erkundungen unter¬
geordneter Personen angewiesen. Auch könnte ihr leicht das Leben recht sauer
gemacht werden. Wenn z. B. ein an Querulantenwahnsinn leidender in einem
Irrenhause säße, so würde sich dieser ein Vergnügen daraus machen, sie alle
Augenblicke zu alarmiren.

Die Hauptfrage bleibt freilich die angestrebte Umgestaltung des Ent-
mündignngsverfahrens. In dieser Beziehung sind die „Leitsätze" unter
Ur. So, <>, s, so wie sie dastehen, nicht gut verwertbar. Was darin Richtiges
ist, wird jeder verstündige Richter auch jetzt schon anwenden. Man kann aber
unmöglich dnrch Gesetze dem Richter für sein Verhalten eine vollständige An¬
weisung geben, da diese für den einen Fall passen würde, für den andern nicht.
Auch die für das Strafrecht vorgeschlagnen Bestimmungen unter Ur. 7 a, b, <;
sind ohne wesentliche Bedeutung. Wer vorsätzlich einen Gesunden als angeblich
Irren in das Irrenhaus bringt, ist jetzt schon nach Z 239 des Strafgesetzbuchs
wegen Freiheitsberaubung strafbar. Auch wer in einem Verfahren über Jrr-
sinnserklürung falsches Zeugnis ablegt, hat Strafe zu erwarten. Soll nun
etwa daneben noch eine zwar nicht vorsätzliche, aber verschuldete Thätigkeit
dieser Art mit Strafe bedroht werden? Ist dafür wirklich ein praktisches Be¬
dürfnis vorhanden? Immerhin ließe sich ja eine solche Vorschrift geben. Nur
würde sie äußerst selten zur Anwendung kommen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0413" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219415"/>
          <fw type="header" place="top"> Noch ein Wort über Jrrsinnserklärung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1244" prev="#ID_1243"> machen, wo pflichtwidrig das Einschreiten unterlassen worden ist? Dann aller¬<lb/>
dings könnte man von grober Rechtswidrigkeit sprechen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1245"> Weiter wird unter Ur. 3 der Leitsätze gesagt: Der leitende Grundsatz für<lb/>
alle Jrrengesetze müsse das Interesse des angeblich oder wirklich Irren sein.<lb/>
Aber doch nicht allein! Auch das Interesse andrer kommt in Betracht, die<lb/>
durch die Thätigkeit des Irren geschädigt werden können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1246"> Was die Vorschlüge im einzelnen betrifft, so habe ich schon in meinem<lb/>
frühern Aufsätze dem beigestimmt, daß die Irrenhäuser einer strengen staatlichen<lb/>
Aufsicht bedürfen, damit die Möglichkeit ausgeschlossen bleibe, daß dort Ge¬<lb/>
sunde festgehalten werden. Die hierfür bestehenden Vorschriften sind wohl meist<lb/>
nur auf dem Verwaltungswege getroffen, daher in den einzelnen Ländern ver¬<lb/>
schieden und deshalb schwer zu überblicken. Wo sie uicht befriedigend geordnet<lb/>
sind, wäre daher Grund vorhanden, die bessernde Hand anzulegen. Ob dazu aber<lb/>
ein Reichsgesetz nötig wäre, ist doch sehr die Frage. Auch mag es dahin ge¬<lb/>
stellt bleiben, ob es wirklich nötig sei, für jeden Oberlandesgerichtsbezirk ein<lb/>
&#x201E;Jrrenaufsichtsamt," bestehend aus einem Richter, einem Verwaltungsbeamten,<lb/>
einem Arzt, einem Geistlichen und fünf gewählten (von wem gewählten?) Ver¬<lb/>
trauensmännern einzusetzen. Man ist hente gar zu geneigt, für alles und jedes<lb/>
eine besondre Behörde zu fordern, und gerät dabei leicht in Übertreibung.<lb/>
Einen unmittelbaren Einblick in die Irrenhäuser könnte diese Behörde doch<lb/>
nicht üben. Denn sie könnte doch nicht neun Mann hoch dort einrücken, um<lb/>
die Verhältnisse zu untersuchen. Sie wäre immer auf die Erkundungen unter¬<lb/>
geordneter Personen angewiesen. Auch könnte ihr leicht das Leben recht sauer<lb/>
gemacht werden. Wenn z. B. ein an Querulantenwahnsinn leidender in einem<lb/>
Irrenhause säße, so würde sich dieser ein Vergnügen daraus machen, sie alle<lb/>
Augenblicke zu alarmiren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1247"> Die Hauptfrage bleibt freilich die angestrebte Umgestaltung des Ent-<lb/>
mündignngsverfahrens. In dieser Beziehung sind die &#x201E;Leitsätze" unter<lb/>
Ur. So, &lt;&gt;, s, so wie sie dastehen, nicht gut verwertbar. Was darin Richtiges<lb/>
ist, wird jeder verstündige Richter auch jetzt schon anwenden. Man kann aber<lb/>
unmöglich dnrch Gesetze dem Richter für sein Verhalten eine vollständige An¬<lb/>
weisung geben, da diese für den einen Fall passen würde, für den andern nicht.<lb/>
Auch die für das Strafrecht vorgeschlagnen Bestimmungen unter Ur. 7 a, b, &lt;;<lb/>
sind ohne wesentliche Bedeutung. Wer vorsätzlich einen Gesunden als angeblich<lb/>
Irren in das Irrenhaus bringt, ist jetzt schon nach Z 239 des Strafgesetzbuchs<lb/>
wegen Freiheitsberaubung strafbar. Auch wer in einem Verfahren über Jrr-<lb/>
sinnserklürung falsches Zeugnis ablegt, hat Strafe zu erwarten. Soll nun<lb/>
etwa daneben noch eine zwar nicht vorsätzliche, aber verschuldete Thätigkeit<lb/>
dieser Art mit Strafe bedroht werden? Ist dafür wirklich ein praktisches Be¬<lb/>
dürfnis vorhanden? Immerhin ließe sich ja eine solche Vorschrift geben. Nur<lb/>
würde sie äußerst selten zur Anwendung kommen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0413] Noch ein Wort über Jrrsinnserklärung machen, wo pflichtwidrig das Einschreiten unterlassen worden ist? Dann aller¬ dings könnte man von grober Rechtswidrigkeit sprechen. Weiter wird unter Ur. 3 der Leitsätze gesagt: Der leitende Grundsatz für alle Jrrengesetze müsse das Interesse des angeblich oder wirklich Irren sein. Aber doch nicht allein! Auch das Interesse andrer kommt in Betracht, die durch die Thätigkeit des Irren geschädigt werden können. Was die Vorschlüge im einzelnen betrifft, so habe ich schon in meinem frühern Aufsätze dem beigestimmt, daß die Irrenhäuser einer strengen staatlichen Aufsicht bedürfen, damit die Möglichkeit ausgeschlossen bleibe, daß dort Ge¬ sunde festgehalten werden. Die hierfür bestehenden Vorschriften sind wohl meist nur auf dem Verwaltungswege getroffen, daher in den einzelnen Ländern ver¬ schieden und deshalb schwer zu überblicken. Wo sie uicht befriedigend geordnet sind, wäre daher Grund vorhanden, die bessernde Hand anzulegen. Ob dazu aber ein Reichsgesetz nötig wäre, ist doch sehr die Frage. Auch mag es dahin ge¬ stellt bleiben, ob es wirklich nötig sei, für jeden Oberlandesgerichtsbezirk ein „Jrrenaufsichtsamt," bestehend aus einem Richter, einem Verwaltungsbeamten, einem Arzt, einem Geistlichen und fünf gewählten (von wem gewählten?) Ver¬ trauensmännern einzusetzen. Man ist hente gar zu geneigt, für alles und jedes eine besondre Behörde zu fordern, und gerät dabei leicht in Übertreibung. Einen unmittelbaren Einblick in die Irrenhäuser könnte diese Behörde doch nicht üben. Denn sie könnte doch nicht neun Mann hoch dort einrücken, um die Verhältnisse zu untersuchen. Sie wäre immer auf die Erkundungen unter¬ geordneter Personen angewiesen. Auch könnte ihr leicht das Leben recht sauer gemacht werden. Wenn z. B. ein an Querulantenwahnsinn leidender in einem Irrenhause säße, so würde sich dieser ein Vergnügen daraus machen, sie alle Augenblicke zu alarmiren. Die Hauptfrage bleibt freilich die angestrebte Umgestaltung des Ent- mündignngsverfahrens. In dieser Beziehung sind die „Leitsätze" unter Ur. So, <>, s, so wie sie dastehen, nicht gut verwertbar. Was darin Richtiges ist, wird jeder verstündige Richter auch jetzt schon anwenden. Man kann aber unmöglich dnrch Gesetze dem Richter für sein Verhalten eine vollständige An¬ weisung geben, da diese für den einen Fall passen würde, für den andern nicht. Auch die für das Strafrecht vorgeschlagnen Bestimmungen unter Ur. 7 a, b, <; sind ohne wesentliche Bedeutung. Wer vorsätzlich einen Gesunden als angeblich Irren in das Irrenhaus bringt, ist jetzt schon nach Z 239 des Strafgesetzbuchs wegen Freiheitsberaubung strafbar. Auch wer in einem Verfahren über Jrr- sinnserklürung falsches Zeugnis ablegt, hat Strafe zu erwarten. Soll nun etwa daneben noch eine zwar nicht vorsätzliche, aber verschuldete Thätigkeit dieser Art mit Strafe bedroht werden? Ist dafür wirklich ein praktisches Be¬ dürfnis vorhanden? Immerhin ließe sich ja eine solche Vorschrift geben. Nur würde sie äußerst selten zur Anwendung kommen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/413
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/413>, abgerufen am 25.06.2024.