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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Noch ein ^port über Jrrsimiserklärilug

nicht von dorther während jener Zeit von solchen Fällen gehört zu haben.
Es scheint, als ob die Sache erst in neuester Zeit ins Treiben gekommen wäre.
In einer Anzahl Zeitungsartikel und Broschüren ist man mit der Anklage vor
die Öffentlichkeit getreten, daß geistig gesunde Personen für irrsinnig erklärt
worden seien; was dann natürlich bei allen denen, die solchen Darstellungen
unbedingt Glauben schenkten, große Entrüstung wachgerufen hat. Man könnte
fast denken, daß es heute Mode geworden sei, solche Anklagen in die Welt zu
setzen. Immerhin ist es ja möglich, daß gerade in neuerer Zeit Irrungen
oder auch Mißbrüuche auf diesem Gebiet vorgekommen sind. Nur würde ich
nicht schon in jeder Sensationsbroschüre den vollen Beweis dafür finden.

Als Beispiel nur folgendes. Im Laufe vorigen Jahres erschien eine auf¬
regende Broschüre: "39 Monate bei gesundem Geiste als irrsinnig eingekerkert.
Erlebnisse von Mr. Forbes. Geschildert von seinem Befreier. Mit Illu¬
strationen. Hoya 1894." Es war darin dargestellt, wie ein katholischer
Geistlicher aus England, obwohl er geistig gesund gewesen, als Irrer im
Alexianerkloster zu Aachen festgehalten und einer schmählichen Behandlung
unterworfen worden sei. Auch noch in dem Dezemberheft von Kirchenheims
"Zentralblatt für Rechtswissenschaft" wird die Broschüre als ein beachtungs¬
werter Beitrag sür die Reform des Jrrenwesens besprochen. Nun war aber
(schon vorher) von der Staatsanwaltschaft auf Grund der Broschüre ein Er¬
mittlungsverfahren wegen widerrechtlicher Freiheitsberaubung eingeleitet, dieses
aber wieder eingestellt worden, weil sich die ärztlichen Sachverständigen, ein¬
schließlich des Medizinalkollegs in Münster, dahin ausgesprochen haben, daß
Forbes wirklich geisteskrank gewesen und noch geisteskrank sei. Eine gegen die
Einstellung des Verfahrens erhobne Beschwerde ist vom Oberstaatsanwalt zu¬
rückgewiesen worden. Soll man nun annehmen, daß alle diese Behörden einen
völlig gesunden Menschen für geisteskrank erklärt haben?

In den Leitsätzen haben unter Ur. 1 die versammelten Männer wiederum
"zum Ausdruck gebracht, daß die bisherige Praxis der Gerichte, der Justiz-,
Verwaltungs- und Medizinalbehördeu uicht nur die Fürsorge für die unglück¬
lichen Irren und angeblichen Irren außer Acht gekniffen habe, sondern daß
auch nachweislich ungerechtfertigte Aufnahmen in Irrenanstalten und Entmüu-
dignngen und andre grobe Rechtswidrigsten vorgekommen seien, ohne daß
dagegen eingeschritten worden wäre." Ich weiß natürlich nicht, was die Ver¬
fasser, die sich nicht genannt haben, bei dieser schweren Anklage vor Angen
gehabt haben. Aber ich meine, bedächtige Männer sollten solche Anklagen nicht
öffentlich erheben, wenn sie nicht ihrer Sache ganz sicher sind. Haben sie nun
diese Sicherheit? Wären wirklich Fälle vorgekommen, wo jemand von seiner
Umgebung in dem Bewußtsein, daß er gesund sei, in ein Irrenhaus gesperrt oder
darin festgehalten worden wäre, so würde ohne Zweifel s 239 des Strafgesetz¬
buchs anwendbar gewesen sein. Kann man nun Fälle dieser Art namhaft


Noch ein ^port über Jrrsimiserklärilug

nicht von dorther während jener Zeit von solchen Fällen gehört zu haben.
Es scheint, als ob die Sache erst in neuester Zeit ins Treiben gekommen wäre.
In einer Anzahl Zeitungsartikel und Broschüren ist man mit der Anklage vor
die Öffentlichkeit getreten, daß geistig gesunde Personen für irrsinnig erklärt
worden seien; was dann natürlich bei allen denen, die solchen Darstellungen
unbedingt Glauben schenkten, große Entrüstung wachgerufen hat. Man könnte
fast denken, daß es heute Mode geworden sei, solche Anklagen in die Welt zu
setzen. Immerhin ist es ja möglich, daß gerade in neuerer Zeit Irrungen
oder auch Mißbrüuche auf diesem Gebiet vorgekommen sind. Nur würde ich
nicht schon in jeder Sensationsbroschüre den vollen Beweis dafür finden.

Als Beispiel nur folgendes. Im Laufe vorigen Jahres erschien eine auf¬
regende Broschüre: „39 Monate bei gesundem Geiste als irrsinnig eingekerkert.
Erlebnisse von Mr. Forbes. Geschildert von seinem Befreier. Mit Illu¬
strationen. Hoya 1894." Es war darin dargestellt, wie ein katholischer
Geistlicher aus England, obwohl er geistig gesund gewesen, als Irrer im
Alexianerkloster zu Aachen festgehalten und einer schmählichen Behandlung
unterworfen worden sei. Auch noch in dem Dezemberheft von Kirchenheims
„Zentralblatt für Rechtswissenschaft" wird die Broschüre als ein beachtungs¬
werter Beitrag sür die Reform des Jrrenwesens besprochen. Nun war aber
(schon vorher) von der Staatsanwaltschaft auf Grund der Broschüre ein Er¬
mittlungsverfahren wegen widerrechtlicher Freiheitsberaubung eingeleitet, dieses
aber wieder eingestellt worden, weil sich die ärztlichen Sachverständigen, ein¬
schließlich des Medizinalkollegs in Münster, dahin ausgesprochen haben, daß
Forbes wirklich geisteskrank gewesen und noch geisteskrank sei. Eine gegen die
Einstellung des Verfahrens erhobne Beschwerde ist vom Oberstaatsanwalt zu¬
rückgewiesen worden. Soll man nun annehmen, daß alle diese Behörden einen
völlig gesunden Menschen für geisteskrank erklärt haben?

In den Leitsätzen haben unter Ur. 1 die versammelten Männer wiederum
„zum Ausdruck gebracht, daß die bisherige Praxis der Gerichte, der Justiz-,
Verwaltungs- und Medizinalbehördeu uicht nur die Fürsorge für die unglück¬
lichen Irren und angeblichen Irren außer Acht gekniffen habe, sondern daß
auch nachweislich ungerechtfertigte Aufnahmen in Irrenanstalten und Entmüu-
dignngen und andre grobe Rechtswidrigsten vorgekommen seien, ohne daß
dagegen eingeschritten worden wäre." Ich weiß natürlich nicht, was die Ver¬
fasser, die sich nicht genannt haben, bei dieser schweren Anklage vor Angen
gehabt haben. Aber ich meine, bedächtige Männer sollten solche Anklagen nicht
öffentlich erheben, wenn sie nicht ihrer Sache ganz sicher sind. Haben sie nun
diese Sicherheit? Wären wirklich Fälle vorgekommen, wo jemand von seiner
Umgebung in dem Bewußtsein, daß er gesund sei, in ein Irrenhaus gesperrt oder
darin festgehalten worden wäre, so würde ohne Zweifel s 239 des Strafgesetz¬
buchs anwendbar gewesen sein. Kann man nun Fälle dieser Art namhaft


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[0412] Noch ein ^port über Jrrsimiserklärilug nicht von dorther während jener Zeit von solchen Fällen gehört zu haben. Es scheint, als ob die Sache erst in neuester Zeit ins Treiben gekommen wäre. In einer Anzahl Zeitungsartikel und Broschüren ist man mit der Anklage vor die Öffentlichkeit getreten, daß geistig gesunde Personen für irrsinnig erklärt worden seien; was dann natürlich bei allen denen, die solchen Darstellungen unbedingt Glauben schenkten, große Entrüstung wachgerufen hat. Man könnte fast denken, daß es heute Mode geworden sei, solche Anklagen in die Welt zu setzen. Immerhin ist es ja möglich, daß gerade in neuerer Zeit Irrungen oder auch Mißbrüuche auf diesem Gebiet vorgekommen sind. Nur würde ich nicht schon in jeder Sensationsbroschüre den vollen Beweis dafür finden. Als Beispiel nur folgendes. Im Laufe vorigen Jahres erschien eine auf¬ regende Broschüre: „39 Monate bei gesundem Geiste als irrsinnig eingekerkert. Erlebnisse von Mr. Forbes. Geschildert von seinem Befreier. Mit Illu¬ strationen. Hoya 1894." Es war darin dargestellt, wie ein katholischer Geistlicher aus England, obwohl er geistig gesund gewesen, als Irrer im Alexianerkloster zu Aachen festgehalten und einer schmählichen Behandlung unterworfen worden sei. Auch noch in dem Dezemberheft von Kirchenheims „Zentralblatt für Rechtswissenschaft" wird die Broschüre als ein beachtungs¬ werter Beitrag sür die Reform des Jrrenwesens besprochen. Nun war aber (schon vorher) von der Staatsanwaltschaft auf Grund der Broschüre ein Er¬ mittlungsverfahren wegen widerrechtlicher Freiheitsberaubung eingeleitet, dieses aber wieder eingestellt worden, weil sich die ärztlichen Sachverständigen, ein¬ schließlich des Medizinalkollegs in Münster, dahin ausgesprochen haben, daß Forbes wirklich geisteskrank gewesen und noch geisteskrank sei. Eine gegen die Einstellung des Verfahrens erhobne Beschwerde ist vom Oberstaatsanwalt zu¬ rückgewiesen worden. Soll man nun annehmen, daß alle diese Behörden einen völlig gesunden Menschen für geisteskrank erklärt haben? In den Leitsätzen haben unter Ur. 1 die versammelten Männer wiederum „zum Ausdruck gebracht, daß die bisherige Praxis der Gerichte, der Justiz-, Verwaltungs- und Medizinalbehördeu uicht nur die Fürsorge für die unglück¬ lichen Irren und angeblichen Irren außer Acht gekniffen habe, sondern daß auch nachweislich ungerechtfertigte Aufnahmen in Irrenanstalten und Entmüu- dignngen und andre grobe Rechtswidrigsten vorgekommen seien, ohne daß dagegen eingeschritten worden wäre." Ich weiß natürlich nicht, was die Ver¬ fasser, die sich nicht genannt haben, bei dieser schweren Anklage vor Angen gehabt haben. Aber ich meine, bedächtige Männer sollten solche Anklagen nicht öffentlich erheben, wenn sie nicht ihrer Sache ganz sicher sind. Haben sie nun diese Sicherheit? Wären wirklich Fälle vorgekommen, wo jemand von seiner Umgebung in dem Bewußtsein, daß er gesund sei, in ein Irrenhaus gesperrt oder darin festgehalten worden wäre, so würde ohne Zweifel s 239 des Strafgesetz¬ buchs anwendbar gewesen sein. Kann man nun Fälle dieser Art namhaft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/412>, abgerufen am 28.09.2024.