Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Prozeßsucht und Prozeßverschlexpung

angenommen wird. 2. Der Schuldner sucht, um sich seiner Leistungspflicht
so lange als möglich zu entziehen, die Herbeiführung einer rechtskräftigen Ent¬
scheidung hinauszuschieben. 3. Die Interessen der Nechtscmmälte als der Ver¬
treter der prozeßführenden Parteien fallen nicht mit dem Interesse dieser selbst
an der schnellen Erledigung des Prozesses zusammen, oder die Anwälte sind
nicht in der Lage, sie in genügender Weise zu vertreten.

1. Durch die an erster Stelle hervorgehvbnen Vorschriften hat man, wie
das französische Recht, den Prozcßbetrieb wesentlich in die Hände der Parteien
selbst gelegt, in der an sich richtigen Erwägung, daß es im eignen Interesse
des Forderuugsberechtigten liege, die Beendigung des Prozesses so bald als
möglich herbeizuführen, und daß er sich deshalb nur aus gewichtigen Gründen
mit einem Ruhen des Rechtsstreits einverstanden erklären werde, etwa mit
Rücksicht auf schwebende Vergleichsverhandlungen. Wir möchten daher auch
einer Beschränkung dieser den Parteien gegebnen Befugnis nicht das Wort
reden. Notwendig aber ist ihre Ausübung so zu regeln, daß sie nicht zugleich
das öffentliche Interesse benachteiligt. Diese Benachteiligung tritt aber ein,
wenn die Parteien nicht rechtzeitig oder, wie es die Regel bildet, überhaupt
nicht das Gericht benachrichtigen, daß sie den Termin nicht abwarten wollen,
sondern einfach in dem angesetzten Verhandlungstermin sofort Vertagung be¬
antragen oder überhaupt ausbleiben. Das ist kein Verhalten, das nur die
streitenden Parteien selbst berührte. Zu jedem Verhandlungstermin in einer
streitigen Rechtssache muß sich der Richter vorbereiten: er muß die Akten
studiren, die Schriftsätze der Parteien lesen und auszugsweise notiren, die in
Frage kommenden gesetzlichen Bestimmungen erwägen, die vorhandne Litteratur
prüfen. Dies alles erfordert Zeit und Arbeitskraft, und je größer und um¬
fangreicher der Rechtsstreit ist, desto mehr, und nicht nur sür einen Richter,
sondern sehr oft, z. B. bei einem Kollegialgericht, mindestens für zwei, den
Borsitzenden und den mit der besondern Behandlung der Sache beauftragten
Richter, den Referenten. Diese ganze Zeit und Arbeit ist vergeblich aufge¬
wendet und muß für den vertagten Verhandlungstermin, der oft erst nach
Monaten stattfindet, wiederholt werden, wenn von den Parteien nicht ver¬
handelt wird, ohne daß das Gericht zuvor rechtzeitig Nachricht erhält. Es
handelt sich aber nicht nur darum, daß dem Gericht vergebliche Arbeit gemacht,
sondern auch darum, daß die aufgewendete Zeit und Arbeit der Behandlung
eines andern Rechtsstreits entzogen worden ist. Während es möglich gewesen
wäre, bei Wegfall der vertagten Sache in einer andern Sache Verhandlungs¬
termin anzuberaumen und sie ihrer Entscheidung zuzuführen, hat diese nun
auf einen spätern Termin angesetzt werden müssen. Dieses Hinausschieben des
Termins für sie wird aber sofort unbillig, wenn die Möglichkeit, sie früher
zu verhandeln, bestanden hat. Das Verlangen nach einem Verhandlungstermin
und das spätere Nichtverhcmdcln an diesem Termin enthält also zugleich eine


Prozeßsucht und Prozeßverschlexpung

angenommen wird. 2. Der Schuldner sucht, um sich seiner Leistungspflicht
so lange als möglich zu entziehen, die Herbeiführung einer rechtskräftigen Ent¬
scheidung hinauszuschieben. 3. Die Interessen der Nechtscmmälte als der Ver¬
treter der prozeßführenden Parteien fallen nicht mit dem Interesse dieser selbst
an der schnellen Erledigung des Prozesses zusammen, oder die Anwälte sind
nicht in der Lage, sie in genügender Weise zu vertreten.

1. Durch die an erster Stelle hervorgehvbnen Vorschriften hat man, wie
das französische Recht, den Prozcßbetrieb wesentlich in die Hände der Parteien
selbst gelegt, in der an sich richtigen Erwägung, daß es im eignen Interesse
des Forderuugsberechtigten liege, die Beendigung des Prozesses so bald als
möglich herbeizuführen, und daß er sich deshalb nur aus gewichtigen Gründen
mit einem Ruhen des Rechtsstreits einverstanden erklären werde, etwa mit
Rücksicht auf schwebende Vergleichsverhandlungen. Wir möchten daher auch
einer Beschränkung dieser den Parteien gegebnen Befugnis nicht das Wort
reden. Notwendig aber ist ihre Ausübung so zu regeln, daß sie nicht zugleich
das öffentliche Interesse benachteiligt. Diese Benachteiligung tritt aber ein,
wenn die Parteien nicht rechtzeitig oder, wie es die Regel bildet, überhaupt
nicht das Gericht benachrichtigen, daß sie den Termin nicht abwarten wollen,
sondern einfach in dem angesetzten Verhandlungstermin sofort Vertagung be¬
antragen oder überhaupt ausbleiben. Das ist kein Verhalten, das nur die
streitenden Parteien selbst berührte. Zu jedem Verhandlungstermin in einer
streitigen Rechtssache muß sich der Richter vorbereiten: er muß die Akten
studiren, die Schriftsätze der Parteien lesen und auszugsweise notiren, die in
Frage kommenden gesetzlichen Bestimmungen erwägen, die vorhandne Litteratur
prüfen. Dies alles erfordert Zeit und Arbeitskraft, und je größer und um¬
fangreicher der Rechtsstreit ist, desto mehr, und nicht nur sür einen Richter,
sondern sehr oft, z. B. bei einem Kollegialgericht, mindestens für zwei, den
Borsitzenden und den mit der besondern Behandlung der Sache beauftragten
Richter, den Referenten. Diese ganze Zeit und Arbeit ist vergeblich aufge¬
wendet und muß für den vertagten Verhandlungstermin, der oft erst nach
Monaten stattfindet, wiederholt werden, wenn von den Parteien nicht ver¬
handelt wird, ohne daß das Gericht zuvor rechtzeitig Nachricht erhält. Es
handelt sich aber nicht nur darum, daß dem Gericht vergebliche Arbeit gemacht,
sondern auch darum, daß die aufgewendete Zeit und Arbeit der Behandlung
eines andern Rechtsstreits entzogen worden ist. Während es möglich gewesen
wäre, bei Wegfall der vertagten Sache in einer andern Sache Verhandlungs¬
termin anzuberaumen und sie ihrer Entscheidung zuzuführen, hat diese nun
auf einen spätern Termin angesetzt werden müssen. Dieses Hinausschieben des
Termins für sie wird aber sofort unbillig, wenn die Möglichkeit, sie früher
zu verhandeln, bestanden hat. Das Verlangen nach einem Verhandlungstermin
und das spätere Nichtverhcmdcln an diesem Termin enthält also zugleich eine


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0303" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219305"/>
          <fw type="header" place="top"> Prozeßsucht und Prozeßverschlexpung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_897" prev="#ID_896"> angenommen wird. 2. Der Schuldner sucht, um sich seiner Leistungspflicht<lb/>
so lange als möglich zu entziehen, die Herbeiführung einer rechtskräftigen Ent¬<lb/>
scheidung hinauszuschieben. 3. Die Interessen der Nechtscmmälte als der Ver¬<lb/>
treter der prozeßführenden Parteien fallen nicht mit dem Interesse dieser selbst<lb/>
an der schnellen Erledigung des Prozesses zusammen, oder die Anwälte sind<lb/>
nicht in der Lage, sie in genügender Weise zu vertreten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_898" next="#ID_899"> 1. Durch die an erster Stelle hervorgehvbnen Vorschriften hat man, wie<lb/>
das französische Recht, den Prozcßbetrieb wesentlich in die Hände der Parteien<lb/>
selbst gelegt, in der an sich richtigen Erwägung, daß es im eignen Interesse<lb/>
des Forderuugsberechtigten liege, die Beendigung des Prozesses so bald als<lb/>
möglich herbeizuführen, und daß er sich deshalb nur aus gewichtigen Gründen<lb/>
mit einem Ruhen des Rechtsstreits einverstanden erklären werde, etwa mit<lb/>
Rücksicht auf schwebende Vergleichsverhandlungen. Wir möchten daher auch<lb/>
einer Beschränkung dieser den Parteien gegebnen Befugnis nicht das Wort<lb/>
reden. Notwendig aber ist ihre Ausübung so zu regeln, daß sie nicht zugleich<lb/>
das öffentliche Interesse benachteiligt. Diese Benachteiligung tritt aber ein,<lb/>
wenn die Parteien nicht rechtzeitig oder, wie es die Regel bildet, überhaupt<lb/>
nicht das Gericht benachrichtigen, daß sie den Termin nicht abwarten wollen,<lb/>
sondern einfach in dem angesetzten Verhandlungstermin sofort Vertagung be¬<lb/>
antragen oder überhaupt ausbleiben. Das ist kein Verhalten, das nur die<lb/>
streitenden Parteien selbst berührte. Zu jedem Verhandlungstermin in einer<lb/>
streitigen Rechtssache muß sich der Richter vorbereiten: er muß die Akten<lb/>
studiren, die Schriftsätze der Parteien lesen und auszugsweise notiren, die in<lb/>
Frage kommenden gesetzlichen Bestimmungen erwägen, die vorhandne Litteratur<lb/>
prüfen. Dies alles erfordert Zeit und Arbeitskraft, und je größer und um¬<lb/>
fangreicher der Rechtsstreit ist, desto mehr, und nicht nur sür einen Richter,<lb/>
sondern sehr oft, z. B. bei einem Kollegialgericht, mindestens für zwei, den<lb/>
Borsitzenden und den mit der besondern Behandlung der Sache beauftragten<lb/>
Richter, den Referenten. Diese ganze Zeit und Arbeit ist vergeblich aufge¬<lb/>
wendet und muß für den vertagten Verhandlungstermin, der oft erst nach<lb/>
Monaten stattfindet, wiederholt werden, wenn von den Parteien nicht ver¬<lb/>
handelt wird, ohne daß das Gericht zuvor rechtzeitig Nachricht erhält. Es<lb/>
handelt sich aber nicht nur darum, daß dem Gericht vergebliche Arbeit gemacht,<lb/>
sondern auch darum, daß die aufgewendete Zeit und Arbeit der Behandlung<lb/>
eines andern Rechtsstreits entzogen worden ist. Während es möglich gewesen<lb/>
wäre, bei Wegfall der vertagten Sache in einer andern Sache Verhandlungs¬<lb/>
termin anzuberaumen und sie ihrer Entscheidung zuzuführen, hat diese nun<lb/>
auf einen spätern Termin angesetzt werden müssen. Dieses Hinausschieben des<lb/>
Termins für sie wird aber sofort unbillig, wenn die Möglichkeit, sie früher<lb/>
zu verhandeln, bestanden hat. Das Verlangen nach einem Verhandlungstermin<lb/>
und das spätere Nichtverhcmdcln an diesem Termin enthält also zugleich eine</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0303] Prozeßsucht und Prozeßverschlexpung angenommen wird. 2. Der Schuldner sucht, um sich seiner Leistungspflicht so lange als möglich zu entziehen, die Herbeiführung einer rechtskräftigen Ent¬ scheidung hinauszuschieben. 3. Die Interessen der Nechtscmmälte als der Ver¬ treter der prozeßführenden Parteien fallen nicht mit dem Interesse dieser selbst an der schnellen Erledigung des Prozesses zusammen, oder die Anwälte sind nicht in der Lage, sie in genügender Weise zu vertreten. 1. Durch die an erster Stelle hervorgehvbnen Vorschriften hat man, wie das französische Recht, den Prozcßbetrieb wesentlich in die Hände der Parteien selbst gelegt, in der an sich richtigen Erwägung, daß es im eignen Interesse des Forderuugsberechtigten liege, die Beendigung des Prozesses so bald als möglich herbeizuführen, und daß er sich deshalb nur aus gewichtigen Gründen mit einem Ruhen des Rechtsstreits einverstanden erklären werde, etwa mit Rücksicht auf schwebende Vergleichsverhandlungen. Wir möchten daher auch einer Beschränkung dieser den Parteien gegebnen Befugnis nicht das Wort reden. Notwendig aber ist ihre Ausübung so zu regeln, daß sie nicht zugleich das öffentliche Interesse benachteiligt. Diese Benachteiligung tritt aber ein, wenn die Parteien nicht rechtzeitig oder, wie es die Regel bildet, überhaupt nicht das Gericht benachrichtigen, daß sie den Termin nicht abwarten wollen, sondern einfach in dem angesetzten Verhandlungstermin sofort Vertagung be¬ antragen oder überhaupt ausbleiben. Das ist kein Verhalten, das nur die streitenden Parteien selbst berührte. Zu jedem Verhandlungstermin in einer streitigen Rechtssache muß sich der Richter vorbereiten: er muß die Akten studiren, die Schriftsätze der Parteien lesen und auszugsweise notiren, die in Frage kommenden gesetzlichen Bestimmungen erwägen, die vorhandne Litteratur prüfen. Dies alles erfordert Zeit und Arbeitskraft, und je größer und um¬ fangreicher der Rechtsstreit ist, desto mehr, und nicht nur sür einen Richter, sondern sehr oft, z. B. bei einem Kollegialgericht, mindestens für zwei, den Borsitzenden und den mit der besondern Behandlung der Sache beauftragten Richter, den Referenten. Diese ganze Zeit und Arbeit ist vergeblich aufge¬ wendet und muß für den vertagten Verhandlungstermin, der oft erst nach Monaten stattfindet, wiederholt werden, wenn von den Parteien nicht ver¬ handelt wird, ohne daß das Gericht zuvor rechtzeitig Nachricht erhält. Es handelt sich aber nicht nur darum, daß dem Gericht vergebliche Arbeit gemacht, sondern auch darum, daß die aufgewendete Zeit und Arbeit der Behandlung eines andern Rechtsstreits entzogen worden ist. Während es möglich gewesen wäre, bei Wegfall der vertagten Sache in einer andern Sache Verhandlungs¬ termin anzuberaumen und sie ihrer Entscheidung zuzuführen, hat diese nun auf einen spätern Termin angesetzt werden müssen. Dieses Hinausschieben des Termins für sie wird aber sofort unbillig, wenn die Möglichkeit, sie früher zu verhandeln, bestanden hat. Das Verlangen nach einem Verhandlungstermin und das spätere Nichtverhcmdcln an diesem Termin enthält also zugleich eine

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/303
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/303>, abgerufen am 23.07.2024.