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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Prozeßsucht und Prozeßverschleppung

zugeben. Es kommt aber gar nicht selten vor, daß keine Partei völlig gesiegt
hat, also keine mit dein Urteil zufrieden ist. Man nehme an, ein Makler
habe auf 200 Mark Maklergebühr geklagt, der Beklagte leugnet aber, über¬
haupt einen Mäklervertrag abgeschlossen zu haben. Der Kläger vermag nur
den Abschluß eines solchen Vertrags, nicht aber zugleich die Vereinbarung
einer Gebühr von 200 Mark zu beweisen. Dann hat das richterliche Er¬
messen über deren Höhe zu entscheiden, und der Beklagte wird nun vielleicht
zur Bezahlung von 100 Mark verurteilt. Dann werden sicherlich beide Teile
mit dem Urteil unzufrieden sein: der Kläger, weil ihm nicht 200 Mark zu¬
gesprochen worden sind, der Beklagte, weil er überhaupt zu 100 Mark ver¬
urteilt worden ist. Berufung gegen das Urteil ist nicht mehr möglich, wir
nehmen an, es sei bereits in letzter Instanz ergangen, was ist da einfacher,
als die Parteien -- namentlich wenn sie von gebührensüchtigen Rechts¬
anwälten beraten sind -- "verzichten auf die Rcchtskraftwirkung," jeder in der
Hoffnung, im neuen Prozeß zu gewinnen, und die Klage wird von neuem
anhängig gemacht und in allen Instanzen durchgefochten, der Richter muß
von neuem Beweise erheben, ein neues Urteil fallen. Und nicht nur die Or¬
gane des Staats müssen sich wieder mit derselben Sache befassen, auch die
Zeugen müssen wiederholt Zeugnis ablegen, haben deshalb wiederholt Zeit-
versüumnisse und Schaden. Und weshalb? Damit die Parteien ihrer Proze߬
sucht fröhnen können. Fort mit dieser verderblichen Bestimmung des zweiten
Absatzes! Und um allen Zweifel zu heben, der noch über die Beachtlichkeit
der Rechtskraft von Amts wegen besteht, möchten wir, daß an dessen Stelle
ausdrücklich verordnet werde:

Auf diese Wirkung kann nicht verzichtet werden. Das Gericht hat sie von
Amts wegen zu berücksichtigen.

In gleicher Weise wie an der endgiltigen Schlichtung haben auch an der
schnellen Erledigung eines Rechtsstreits nicht nur die Beteiligten, sondern auch
die Allgemeinheit ein Interesse. Auch dieses aber hat bei der Ordnung des
gerichtlichen Verfahrens bisher nicht die genügende Berücksichtigung gefunden.
Gewisse Bestimmungen der Zivilprozeßordnung befördern geradezu die Ver¬
schleppung der Prozesse und laufe" daher nicht nur dem öffentlichen Interesse,
sondern auch dem der Rechtsuchenden zuwider.

Wenn man die Verhältnisse ins Auge faßt, die eine Verzögerung des
Prozeßverfahrens dnrch die Parteien herbeiführen können -- über andre Ur¬
sachen, namentlich wie in Preußen, den Nichtermangel, soll hier nicht gesprochen
werden--, so giebt es drei Möglichkeiten: 1. Die Parteien widerstreben beide
der Fortführung des Rechtsstreits. Diesen Fall berücksichtigen die Bestim¬
mungen in der Zivilprozeßordnung HZ 205 und 228, nach denen die Parteien
die Aufhebung eines Termins und das Ruhen des Verfahrens vereinbaren
können, und nach denen beim Nichterscheinen beider Parteien diese Vereinbarung


Prozeßsucht und Prozeßverschleppung

zugeben. Es kommt aber gar nicht selten vor, daß keine Partei völlig gesiegt
hat, also keine mit dein Urteil zufrieden ist. Man nehme an, ein Makler
habe auf 200 Mark Maklergebühr geklagt, der Beklagte leugnet aber, über¬
haupt einen Mäklervertrag abgeschlossen zu haben. Der Kläger vermag nur
den Abschluß eines solchen Vertrags, nicht aber zugleich die Vereinbarung
einer Gebühr von 200 Mark zu beweisen. Dann hat das richterliche Er¬
messen über deren Höhe zu entscheiden, und der Beklagte wird nun vielleicht
zur Bezahlung von 100 Mark verurteilt. Dann werden sicherlich beide Teile
mit dem Urteil unzufrieden sein: der Kläger, weil ihm nicht 200 Mark zu¬
gesprochen worden sind, der Beklagte, weil er überhaupt zu 100 Mark ver¬
urteilt worden ist. Berufung gegen das Urteil ist nicht mehr möglich, wir
nehmen an, es sei bereits in letzter Instanz ergangen, was ist da einfacher,
als die Parteien — namentlich wenn sie von gebührensüchtigen Rechts¬
anwälten beraten sind — „verzichten auf die Rcchtskraftwirkung," jeder in der
Hoffnung, im neuen Prozeß zu gewinnen, und die Klage wird von neuem
anhängig gemacht und in allen Instanzen durchgefochten, der Richter muß
von neuem Beweise erheben, ein neues Urteil fallen. Und nicht nur die Or¬
gane des Staats müssen sich wieder mit derselben Sache befassen, auch die
Zeugen müssen wiederholt Zeugnis ablegen, haben deshalb wiederholt Zeit-
versüumnisse und Schaden. Und weshalb? Damit die Parteien ihrer Proze߬
sucht fröhnen können. Fort mit dieser verderblichen Bestimmung des zweiten
Absatzes! Und um allen Zweifel zu heben, der noch über die Beachtlichkeit
der Rechtskraft von Amts wegen besteht, möchten wir, daß an dessen Stelle
ausdrücklich verordnet werde:

Auf diese Wirkung kann nicht verzichtet werden. Das Gericht hat sie von
Amts wegen zu berücksichtigen.

In gleicher Weise wie an der endgiltigen Schlichtung haben auch an der
schnellen Erledigung eines Rechtsstreits nicht nur die Beteiligten, sondern auch
die Allgemeinheit ein Interesse. Auch dieses aber hat bei der Ordnung des
gerichtlichen Verfahrens bisher nicht die genügende Berücksichtigung gefunden.
Gewisse Bestimmungen der Zivilprozeßordnung befördern geradezu die Ver¬
schleppung der Prozesse und laufe» daher nicht nur dem öffentlichen Interesse,
sondern auch dem der Rechtsuchenden zuwider.

Wenn man die Verhältnisse ins Auge faßt, die eine Verzögerung des
Prozeßverfahrens dnrch die Parteien herbeiführen können — über andre Ur¬
sachen, namentlich wie in Preußen, den Nichtermangel, soll hier nicht gesprochen
werden—, so giebt es drei Möglichkeiten: 1. Die Parteien widerstreben beide
der Fortführung des Rechtsstreits. Diesen Fall berücksichtigen die Bestim¬
mungen in der Zivilprozeßordnung HZ 205 und 228, nach denen die Parteien
die Aufhebung eines Termins und das Ruhen des Verfahrens vereinbaren
können, und nach denen beim Nichterscheinen beider Parteien diese Vereinbarung


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[0302] Prozeßsucht und Prozeßverschleppung zugeben. Es kommt aber gar nicht selten vor, daß keine Partei völlig gesiegt hat, also keine mit dein Urteil zufrieden ist. Man nehme an, ein Makler habe auf 200 Mark Maklergebühr geklagt, der Beklagte leugnet aber, über¬ haupt einen Mäklervertrag abgeschlossen zu haben. Der Kläger vermag nur den Abschluß eines solchen Vertrags, nicht aber zugleich die Vereinbarung einer Gebühr von 200 Mark zu beweisen. Dann hat das richterliche Er¬ messen über deren Höhe zu entscheiden, und der Beklagte wird nun vielleicht zur Bezahlung von 100 Mark verurteilt. Dann werden sicherlich beide Teile mit dem Urteil unzufrieden sein: der Kläger, weil ihm nicht 200 Mark zu¬ gesprochen worden sind, der Beklagte, weil er überhaupt zu 100 Mark ver¬ urteilt worden ist. Berufung gegen das Urteil ist nicht mehr möglich, wir nehmen an, es sei bereits in letzter Instanz ergangen, was ist da einfacher, als die Parteien — namentlich wenn sie von gebührensüchtigen Rechts¬ anwälten beraten sind — „verzichten auf die Rcchtskraftwirkung," jeder in der Hoffnung, im neuen Prozeß zu gewinnen, und die Klage wird von neuem anhängig gemacht und in allen Instanzen durchgefochten, der Richter muß von neuem Beweise erheben, ein neues Urteil fallen. Und nicht nur die Or¬ gane des Staats müssen sich wieder mit derselben Sache befassen, auch die Zeugen müssen wiederholt Zeugnis ablegen, haben deshalb wiederholt Zeit- versüumnisse und Schaden. Und weshalb? Damit die Parteien ihrer Proze߬ sucht fröhnen können. Fort mit dieser verderblichen Bestimmung des zweiten Absatzes! Und um allen Zweifel zu heben, der noch über die Beachtlichkeit der Rechtskraft von Amts wegen besteht, möchten wir, daß an dessen Stelle ausdrücklich verordnet werde: Auf diese Wirkung kann nicht verzichtet werden. Das Gericht hat sie von Amts wegen zu berücksichtigen. In gleicher Weise wie an der endgiltigen Schlichtung haben auch an der schnellen Erledigung eines Rechtsstreits nicht nur die Beteiligten, sondern auch die Allgemeinheit ein Interesse. Auch dieses aber hat bei der Ordnung des gerichtlichen Verfahrens bisher nicht die genügende Berücksichtigung gefunden. Gewisse Bestimmungen der Zivilprozeßordnung befördern geradezu die Ver¬ schleppung der Prozesse und laufe» daher nicht nur dem öffentlichen Interesse, sondern auch dem der Rechtsuchenden zuwider. Wenn man die Verhältnisse ins Auge faßt, die eine Verzögerung des Prozeßverfahrens dnrch die Parteien herbeiführen können — über andre Ur¬ sachen, namentlich wie in Preußen, den Nichtermangel, soll hier nicht gesprochen werden—, so giebt es drei Möglichkeiten: 1. Die Parteien widerstreben beide der Fortführung des Rechtsstreits. Diesen Fall berücksichtigen die Bestim¬ mungen in der Zivilprozeßordnung HZ 205 und 228, nach denen die Parteien die Aufhebung eines Termins und das Ruhen des Verfahrens vereinbaren können, und nach denen beim Nichterscheinen beider Parteien diese Vereinbarung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/302>, abgerufen am 23.07.2024.